"Stadt und städtische Mythen"
38. Tagung des südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung
Der südwestdeutsche Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung hatte sich für seine 38. Tagung mit dem Thema "Stadt und städtische Mythen", die vom 12. bis 14. November 1999 in Worms stattfand, einen passenden Ort gesucht. Auf das Thema stimmte die "Nibelungen-Führung" durch die Stadt ein, die der Vorsitzende des die Tagung mitausrichtenden Wormser Altertumsvereins, der frühere Wormser Archivleiter Fritz Reuter sachkundig und humorvoll leitete.
Sein Nachfolger Gerold Bönnen eröffnete die Tagung mit einem öffentlichen Vortrag über Wormser Stadtmythen im Spiegel spätmittelalterlicher Überlieferung, der auf reges Interesse vor Ort stieß. In seiner Analyse der Ausdrucksformen städtischen Selbstverständnisses im Späten Mittelalter griff Bönnen verstärkt auch auf nicht-schriftliche Quellen wie Denkmäler, Inschriften oder Bildquellen zurück. Inwieweit städtische Ursprungslegenden mit ihren mythischen Elementen für aktuelle politische Bedürfnisse instrumentalisiert und verändert wurden, war leitende Fragestellung seines Vortrags. Ursprungslegenden wie der "Barbarossa-Mythos" oder der abgewandelte Inhalt der "Kirschgartner-Chronik" wurden im Worms des 15. Jahrhunderts benutzt, um die Rolle als freie Reichsstadt zu betonen. Zu der eigenständigen Ausarbeitung einer Gründungsgeschichte, die Bestand gehabt hätte, ist es in Worms aber nie gekommen. Um 1500 verherrlichten die Stadtoberen wie schon früher im "Barbarossa-Mythos" Kaiser und König als Garanten der städtischen Freiheit, wie etwa zahlreiche Inschriften und Bildnisse zur Verehrung Friedrichs III. und Heinrichs IV. zeigen. Zur gleichen Zeit wurde die städtische Münze mit Motiven aus der Nibelungensage geschmückt, die aber ansonsten im Spätmittelalter eine erstaunlich kleine Rolle im Selbstverständnis der Wormser Stadtbürger spielte.
Eine Diskussion des Abendvortrags war aus organisatorischen Gründen nicht möglich, doch griff Bernd Roeck (Zürich), der Vorsitzende des Arbeitskreises, in seiner Eröffnungsrede der Tagung auf Inhalte von Bönnens Vortrag zurück. So unterstrich er nochmals die Bedeutung nicht-schriftlicher Quellen für das Tagungsthema und gab als Anregung für die Diskussionen den Hinweis auf aktuelle historische Debatten über die "invention of tradition". Der Glaube an oder die Dekonstruktion von Mythen, deren Selbstfortschreibung, Umdeutung oder Verschwinden sowie ihr Einfluß auf das Leben der Menschen im Rahmen der Mentalitätsgeschichte sollten im Auge behalten werden.
Der Vortrag von Peter Johanek (Münster) über Nibelungenstädte Mythische und historische Tradition in Worms und anderwärts griff das Thema des Vorabends nochmals auf. Was die Nibelungen, die im Nationalsozialismus zum Nationalepos stilisiert wurden und spätestens seit den 1960er Jahren wieder der Bedeutungslosigkeit verfallen waren, für mittelalterliche Städte bedeuteten, war Inhalt dieses Beitrags. Dabei betrachtete der Referent neben Worms das als "Nibelungenstadt" eher weniger bekannte Soest in Westfalen. Nach der Zornschen Chronik war der germanische Stamm der Vangionen, der in der Gegend des späteren Worms siedelte, Teil des Ariovistischen Heeres und unterstand Kriemhild und Siegfried. Die beiden Nibelungenhelden wurden schließlich Ende des 15. Jahrhunderts als Verkörperungen der städtischen Freiheit herangezogen, um eine der Reichsstadt gebührende Gründung zu konstruieren. Kaiser Maximilian I. griff diese Tradition beim Reichstag 1495 in Worms und auch später immer wieder auf und trug beim Einzug in die Stadt einen Kriemhild-Kranz. In der Regierungszeit Maximilians wurde Worms so zur Nibelungenstadt, indem die literarische Überlieferung wiederholt für politische Zwecke nutzbar gemacht und auch von den Einwohnern rezipiert wurde. Die Bilder an der städtischen Münze wurden zu "lieus de mémoire" für die Bürger, besonders populär war bei ihnen das Rosengartenepos. In der westfälischen Stadt Soest wurde der Bezug zu den Nibelungen auf andere Weise hergestellt: Hier stand die nordische Überlieferung Pate. In einer Reisebeschreibung hatte der isländische Mönch Nikolas die Stadt als Schauplatz der Nibelungen bezeichnet. Wie in Worms wurde aber auch in Soest die Nibelungensage nur für kurze Zeit zu politischen Zwecken genutzt. Im Spätmittelalter war der Bezug zur Heldensage bereits wieder verschwunden. Beide Städte waren nur für recht kurze Zeit "Nibelungenstädte". Insgesamt spielten die Nibelungen im deutschen Mittelalter eine eher periphere Rolle, verglichen etwa mit den Artussagen in England. Peter Johaneks Vortrag verdeutlichte, wie Mythen gedeutet und genutzt wurden und welchen Einfluß sie auf die Tagespolitik gewinnen konnten. Die Rezeption und die Wirkungsbreite von Mythen waren bestimmende Themen der Diskussion des Vortrags. Bernd Roeck machte in diesem Zusammenhang auf die alternativen Deutungsmöglichkeiten, die Substituierung von Gegenmythen und die Wiederbelebungsversuche alter Mythen aufmerksam, was Peter Johanek insofern bestätigte, als es in beiden behandelten Städten vielfache Anknüpfungsmöglichkeiten an die literarische Tradition gab. Den Hinweis von Wilfried Ehbrecht (Münster), historische Überlieferung und Mythen seien nicht immer eindeutig zu unterscheiden, griff Johanek auf und verwies auf die Faszination, die offenbar von Literatur ausging. Ein Geschichts- oder Selbstbewußtsein wie im Fall der behandelten Städte gründete sich eher auf literarische denn auf historiographische Überlieferungen; häufig wurde auch aus Literatur und historisch Verbürgtem nach jeweiligem Bedürfnis Identität geschaffen. Nur die Gelehrten versuchten, Historiographie und Fiktion wieder auseinander zu dividieren. Weiteres Thema der Diskussion war die Rezeption der Mythen in späteren Zeiten, etwa im 19. Jahrhundert (Bernhard Kirchgässner, Mannheim), und die Frage nach der Definition des Mythos (Bernd Roeck), die auch in den Diskussionen der anderen Beiträge immer wieder aufgegriffen wurde. Schließlich wurde der Begriff von den Referenten in unterschiedlichen Konnotationen benutzt.
Barbara Dölemeyer (Frankfurt am Main) arbeitete mit einem ähnlichen Mythosbegriff wie Peter Johanek. Ihr Vortrag über Helenopolis: Frankfurt am Main in Mythos und Chronik (16.-18. Jahrhundert) wies aber auch auf eine andere Definition hin, nämlich das Ergebnis einer verklärenden Sichtweise von Vergangenem. Ausdruck findet die Verklärung hier im selbst für Kenner der Stadtgeschichte wenig bekannten Namen "Helenopolis" für die Stadt Frankfurt. Erstmals von Johannes Trithemius im 15. Jahrhundert verwendet, möglicherweise erfunden, tauchte die Bezeichnung in der Numismatik des 18. Jahrhunderts und auf Matrikelangaben von Studenten Frankfurter Herkunft auf. Nach Trithemius war "Franc" ein Herzog der Hogier, er soll die alte Stadt Helenopolis im Jahre 130 n. Chr. wieder hergestellt und befohlen haben, sie nach seinem Namen "Franckenfurt" zu nennen. Trithemius versuchte, die Vergangenheit Frankfurts in einen Zusammenhang mit der fränkischen Trojasage der mittelalterlichen Chronisten zu bringen. Die römische Vergangenheit wurde übergangen, um direkt an die griechische Antike anknüpfen zu können und gleichzeitig das germanische Element zu stärken. Von anderen Autoren wurde die Bezeichnung kritiklos übernommen. Adrianus Romanus leitete Helenopolis ab von Helena, der Mutter Konstantins d. Gr. Die Herkunft von "Helenopolis" als Stadtbezeichnung wurde aber nie eindeutig erklärt. Die Referentin konnte mit einer Reihe von juristisch-historischen Abhandlungen vornehmlich des 17. Jahrhunderts aufwarten, die Frankfurt als Helenopolis bezeichneten. Des weiteren konnte die Bezeichnung als Angabe von Druckorten humanistischer Schriften nachgewiesen werden. Die Lücke der Überlieferung des Namens von Trithemius bis ins 16. Jahrhundert, als der Name wieder auftauchte (Bernhard Kirchgässner) begründete Barbara Dölemeyer damit, daß in Frankfurt kein Bedarf für eine besondere Betonung der eigenen Bedeutung gesehen wurde, weil die Stadt zwischenzeitlich zur Reichs- und Marktstadt geworden war. Ob es den Frankfurtern, die lieber "Helenopolen" gewesen wären, tatsächlich um eine Anknüpfung an den Hellenismus ging oder schlicht um das hohe Alter der Stadt (Helmut Flachenäcker, Göttingen), konnte nicht geklärt werden. Weitere Hinweise auf den genaueren Gehalt der Bezeichnung erhofft sich die Referentin aber durch weitere Forschungen, etwa zur konfessionellen Bindung der Studenten, die vom Namen Gebrauch machten.
Auch im Vortrag über Städtemythen in der Schweiz und in der niederländischen Republik. Versuch einer Typologie kollektiver Sinnstiftung in frühneuzeitlichen Republiken von Olaf Mörke (Kiel) stand die Bedeutung eines Mythos für die Politik im Vordergrund. Der Rekurs auf einen Mythos, den Mörke im Sinne von Jan Assmann als flexibles Feld von Erinnerungen definierte, gehörte zu den informellen und nicht institutionalisierten Verfahren, mit denen der Zusammenhalt einer Gemeinschaft gestärkt werden konnte. Dies Verfahren, das schon in den vorherigen Vorträgen Thema war, analysierte Mörke mit einem komparativen Ansatz. Die frühneuzeitlichen Republiken der Schweiz und der Niederlande bedurften aufgrund ihrer schwachen institutionellen Strukturen in besonderem Maße eines Diskurses, der den Zusammenhalt fördern half. In der Schweiz wurde auf verschiedene mythische Erzählungen Bezug genommen wie den Rütlischwur, die Tellensage und die Kappeler Milchsuppe. Allesamt kreisten um den Normenkomplex von "libertas", "pax" und "concordia". In den Niederlanden fungierten der "hollandse tuin" (holländischer Garten), der Batavermythos und die allegorischen Darstellungen im Amsterdamer Rathaus als die prägenden mythischen Inhalte. In beiden Republiken wurde zum gleichen Zweck auf Mythen zurückgegriffen, die jeweilige Interpretation richtete sich nach den aktuellen Bedürfnissen. In der Schweiz wurde ein Erzählmuster in den Mittelpunkt gestellt, das einerseits die Normen städtischer und ländlicher Orte verklammern half, andererseits den Dominanzanspruch Berns und Zürichs bestätigte. In den Niederlanden versuchte man hingegen, mit Hilfe des Mythos die Binnenkohärenz des sozialen und politischen Systems der Städte zu festigen. Inwieweit in den vorliegenden Fällen Gemeinschaft über Mythen überhaupt vermittelbar war (Ulrich Andermann, Marburg), richtete sich nach dem jeweiligen Bedürfnis. Wurde beispielsweise in bildlichen Darstellungen im Berner Rathaus die Gemeinsamkeit der 13 Gemeinden betont, richtete sich dieser "Appell" nicht an das Kollektiv des Gemeinwesens der Städte, sondern an den jeweils anwesenden Repräsentanten. Inwieweit der Mythos weiter griff und im Gemeinwesen rezipiert wurde, ist hier nicht Thema gewesen. Allerdings wurde festgestellt, daß man mit Hilfe der Mythen nicht versuchte, die eigene Herrschaft zu legitimieren (Bernhard Kirchgässner). Man suchte vielmehr den Normenkonsens innerhalb der Stadt bzw. zwischen den Städten, nicht mit den Untertanen. Der Nutzen der komparativen Methode, der sich schon in vielen anderen Bereichen der Geschichtswissenschaften erwiesen hat, wurde in der Diskussion durch die Hinweise auf zahlreiche andere mögliche Vergleichsstädte bzw. Republiken bestätigt (Bernd Roeck).
Hatten die bisherigen Vorträge mythische Erzählungen aus vergangenen Zeiten bzw. deren Rezeption in Mittelalter und Früher Neuzeit zum Gegenstand, beschäftigte sich der Kunsthistoriker Hermann Hipp (Hamburg) mit einem Mythos der Moderne: Das Hanseatische. Der Begriff des "Hanseatischen" nimmt nicht Bezug auf eine konkrete Erzählung, hat nicht alte Götter oder Heroen zum Inhalt, sondern bildet ein Syndrom an Ideologemen, Tugenden und Charaktereigenschaften. Dabei bleibt sein Gehalt recht unscharf. Er soll ein Menschenbild mit bestimmten Charaktereigenschaften bezeichnen. Gleichwohl ruft das Wort "Hanse" die ferne Vergangenheit des Mittelalters auf. Nach Meinung des Referenten, der die Spuren des Mythos in Bauten und Bildern Hamburgs verfolgte, wurde das Hanseatische erst im Kaiserreich zu einem mythischen Begriff. Den Rekurs auf das unscharfe, in der historischen Distanz wurzelnde Bild sieht Hipp als Teil einer säkularen kulturellen Reformbewegung der Zeitkritik, die eine Rückbindung der eigenen Identität an Ort und Region anstrebte. In der Architektur der Hansestadt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, insbesondere den neuen Verwaltungsgebäuden, sah der Referent nichts Mythisches im Sinne eines Rückgriffs auf glorreiche Vergangenheit. Vielmehr betonte er den durch und durch nüchternen, schmucklosen Charakter etwa des Rathauses, der letztlich das reflektiert, was Hipp als Substrat des Begriffs "Hanseatisch" definiert hatte. Spreche man von einem "Mythos des Hanseatischen", dann sei das Paradoxe daran, daß er durch und durch moderne Bezugspunkte aufweise. Betrachte man die Herkunft des Begriffs genauer, schäle sich als Bedeutung ein Rahmen bestimmter, durchaus begrüßenswerter, politischer Normen heraus, allerdings nicht tatsächliche Eigenschaften der Hanseaten.
Eine weitere Definition des die Tagung leitenden Begriffs führte Michael Hermann (München) in seinem Vortrag über Leuchtendes München? Mythos und Niedergang einer Kunststadt in die Diskussion ein. Hier war von einem Mythos als Bezeichnung für ein recht unscharfes, nicht klar definiertes Selbstbild bzw. den Ruf einer Stadt nach außen die Rede. Das Ansehen oder eben der Mythos Münchens als Kunststadt ruhte auf der großzügigen Kunstförderung König Ludwigs I. zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Der Referent schilderte, wie sich der Diskurs über diesen "Mythos" bis in die 1920er Jahre entwickelte. So lösten 1901 zwei Artikel des Berliner Kunstkritikers Hans Rosenhagen über den "Niedergang Münchens als Kunststadt" eine Debatte aus, die bis in die 20er Jahre anhielt. Rosenhagen machte eine fehlgeschlagene Kulturpolitik der bayerischen Landes- und der Münchener Stadtregierung, die Dominanz einer retrospektiven Kunstbewegung in München sowie die lokalpatriotische Befangenheit der lokalen und regionalen Presse für den von ihm konstatierten Bedeutungsverlust Münchens als Kunststadt verantwortlich. Als Prüfsteine für diese These präsentierte Hermann mehrere Anhaltspunkte: einmal eine quantitative Erhebung über die Anzahl der in der Stadt wirkenden Künstler, die Anzahl der Museen und die Verkaufsstatistiken bedeutender Galerien. Außerdem müßten die von der Stadt ausgehenden Impulse für die Kunstwelt, der Umfang des Kunsthandels und andere qualitative Merkmale mit einbezogen werden. Unbestreitbar sind quantitative und qualitative Argumentation jeweils nicht alleine aussagekräftig genug. Über die Gewichtung beider Argumente läßt sich aber schwer zu einem Einverständnis kommen. Schließlich lebe die Kunst auch von einem gewissen Minoritätencharakter, dessen Bedeutung schwerlich ermessen werden kann. So ließen sich immer Gegenbeispiele anführen, etwa daß in den 20er Jahren Architekten nach München zogen, während andere, progressive Künstler der Stadt den Rücken kehrten (Stanislaus von Moos, Zürich). Auf den gesellschaftlich bedingten Charakter eines jeden Mythos machte Hermann Hipp aufmerksam: Nicht die Realität ist bedeutend, sondern die Sekundärerzählungen: Berichte, Briefe von Künstlern, die Aussagen über das enthalten, was ihnen an einer Stadt gefiel bzw. nicht zusagte, könnten über den genaueren Inhalt des Mythos Aufschluß geben. Freilich sind Quellen dieser Art schwer zugänglich (Michael Hermann). Hermanns Vortrag machte deutlich, daß über den Inhalt eines mythischen Begriffs eine quantitative und qualitative Methoden verknüpfende Analyse, die auch die sozialpolitischen Rahmenbedingungen stärker mit einbezieht, am besten Auskunft gibt. So könnte etwa der Einfluß der Wirtschaftskrise der 20er Jahre (Bernhard Kirchgässner) mit Vergleichen genauer bestimmt werden (Clemens Zimmermann, Heidelberg).
Eine andere Stadt und ihren Ruf nahm Gérald Chaix (Tours) ins Visier: Köln als Ort des Altertums und der Katholizität war Thema seines Vortrags. Chaix definierte Mythos im Sinne von Roland Barthes als ein semiotisches System. Ein besonders einträgliches Zeichen war in Köln die "Ruine" des nicht fertiggestellten Doms, der nichts desto weniger zum Merkmal des sowohl antiken als auch katholischen Charakters der Stadt avancierte. Die Entwicklung dieses "Mythos" der antiken und katholischen Stadt stellte der Referent anhand von Aussagen zahlreicher Autoren zwischen Revolution und Restauration, zwischen Klassik und Romantik dar. Dabei wurde der Mythos nicht nur positiv bewertet: In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde Köln als Ort "übler gotischer Architektur" bezeichnet (Balthasar de Monconays 1663) oder als finstere und schmutzige Stadt der Leichtgläubigkeit (Gilbert Burnet 1683). Für die Aufklärer wurde die an das Mittelalter erinnernde Stadt zur "Hochburg der Abscheulichkeit". Im 19. Jahrhundert verschwand schließlich mit dem Wandel seines Sinnbilds auch der Mythos selbst: Die Fertigstellung des Doms 1881 und die Zerstörung der mittelalterlichen Stadtmauer entzog den Protagonisten wie Antagonisten des Mythos wesentliche Grundlagen. Ein von Preußen dominiertes nationales Selbstbewußtsein machte außerdem den Dom als Symbol für die deutsche Nation überflüssig. Die Vollendung des Sakralgebäudes wurde als endgültiger Schlußstrich unter das Mittelalter betrachtet, aber auch als Schluß jeden lokalen Denkens, so daß eine durchaus denkbare Umfunktionalisierung des Mythos zum Schutz gegen ein übermächtiges Preußen (Clemens Zimmermann) nicht erfolgte. Der Kulturkampf trug außerdem zum Bedeutungsverlust des Doms bei (Peter Johanek), was die abnehmende Bedeutung lokaler Faktoren unterstreicht. Chaix betonte nochmals, daß ein Mythos nie einheitlich, vielmehr sehr widersprüchlich ist, sowohl was seinen Inhalt betrifft, als auch was die Reaktionen auf ihn angeht. Wirkungsweise und Inhalt eines Mythos sind vielmehr immer eng an die geschichtliche Entwicklung gebunden.
Den Begriff des "Mythos" vermied der Züricher Kunsthistoriker und Architekturkritiker Stanislaus von Moos im abschließendem Vortrag über Stadtgestaltung im Zeichen des Disney-Syndroms. Es ging aber auch bei diesem, die jüngste Vergangenheit betreffenden Beitrag, um ganz ähnliche Dinge wie in den anderen Referaten. So wählte von Moos als Einstieg in sein Thema die politische Ikonographie. Freilich wurden bei seinen Beispielen nicht vorzeitliche Helden oder Sageninhalte evoziert, sondern Gebäude wurden für die Inszenierung von Politikern instrumentalisiert. Die plebiszitäre Demokratie mit ihrer Notwendigkeit medialer Repräsentation von Politik machte Architektur zur Bühne für die Selbstdarstellung von Politikerhandeln. In seinem Vortrag unterzog von Moos anhand zahlreicher Bildbeispiele das "Disney-Syndrom" in der modernen Architektur einer genauen Analyse. Disneyland mit seiner verkleinerten, programmatischen Nachgestaltung von Walt Disneys Geburtsort sei ein "rekonstruiertes und mumifiziertes Konglomerat gebauter Obsessionen und Verdrängungsmythologien" des 19. Jahrhunderts. Die Ausgrenzung aus der realen Stadt, die Verbannung des Fahrverkehrs, aber auch die Theatralisierung moderner Technik bei gleichzeitiger Vergegenwärtigung entrückter Kultur kann auch für die Weltausstellungen seit 1867 festgestellt werden. Insofern sei Disneyland ein "kommerzielles Nachholgefecht der Welt von vorgestern". Ähnliches vollzog sich im Zuge des Wiederaufbaus von Städten wie Warschau oder Freudenstadt auch in der seriösen Architektur, als man Städte, am Vorkriegszustand orientiert, "wieder" aufbaute. Bei aller Kritik der Architekten, die Disneyland nur abschätzig erwähnen, wenn sie jegliche Art von Rekonstruktion verdammen und Originalität einfordern wollen, wurde das Freizeitparadies auch zum "stillen Weggenossen urbanistischer Reformen": Die Idee einer Fußgängerstadt, die Vorherrschaft des öffentlichen Verkehrs, der Versuch, Kleinstadt-Identität wieder herzustellen, finden sich auch in der architektonischen "Realität" wieder. Ausführlicher berichtete von Moos über eine weitere Parallele: Luzerns Baugeschichte las er als eine "Chronik des forschenden Bauens zur Attraktion" für Touristen. In Luzern wie in Disneyland appelliere man an das déja vu-Bedürfnis des modernen Tourismus. Insofern sei Disneyland nicht nur ein lieu de mémoire für Menschen der "Neuen" an die Vergangenheit der "Alten Welt", es sei auch die Realisierung eines Mythos, weil darin etwas Vertrautes, jederzeit Wiederholbares stets abrufbar geschaffen wurde (Hermann Hipp).
Vor diesem Hintergrund schlug Bernd Roeck in seinem Schlußwort ein für alle behandelten Themen geltendes Element einer Definition von Mythos vor, nämlich die Verdichtung vertrauter Sachverhalte zur jederzeitigen Konsumfähigkeit. Eine exakte Definition des schillernden Begriffs konnte die Tagung selbstverständlich nicht leisten. Doch demonstrierten die Vielfalt der Referatsthemen und die Interdisziplinarität des Plenums erneut die Offenheit und vielschichtige Relevanz moderner Stadtgeschichte, wie sie in den Tagungen des Arbeitskreises wiederholt bewiesen wurde.
Die Beiträge werden als Band 28 der Reihe Stadt in der Geschichte veröffentlicht.
Christian Groh
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