Konferenzbericht: Wissenschaften und Wissenschaftspolitik - Interaktionen, Kontinuitaeten und Bruchzonen vom spaeten Kaiserreich bis zur fruehen Bundesrepublik.

Das wechselhafte Verhaeltnis von Wissenschaften und Wissenschaftspolitik vom spaeten Kaiserreich bis zur fruehen Bundesrepublik/DDR naeher zu bestimmen, war das Thema einer internationalen Konferenz vom 18. bis zum 20. Mai 2000 in Berlin.

(Die Tagungsbeitraege werden 2001 in der Reihe Pallas Athene des Franz Steiner Verlags veroeffentlicht.)

Die Tagung wurde mit Unterstuetzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft von Ruediger vom Bruch (Humboldt-Universitaet Berlin) organisiert und fand im Berliner Harnack-Haus statt. Der Ort war gut gewaehlt, denn das ehemalige Gaestehaus der Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft in Dahlem war seit seiner Einweihung Ende der zwanziger Jahre Treffpunkt und Diskussionsforum einer internationalen Wissenschaftlerelite. Als Tagungsort nationalsozialistischer Wissenschaftler und Offizierskasino der amerikanischen Besatzungstruppen nach 1945, spiegelt das Harnack-Haus nicht zuletzt auch die wechselhaften Geschicke deutscher Wissenschaften im 20. Jahrhundert wider. Der Zeitrahmen der Tagung vom spaeten Kaiserreich bis zur fruehen Bundesrepublik/DDR forderte vor diesem Hintergrund dazu heraus, Brueche und Kontinuitaeten im deutschen Wissenschaftssystem genauer zu untersuchen, Besonderheiten herauszuheben und offene Forschungsfragen zu benennen. Den Blick auf das spaete Kaiserreich zulenken, unterstrich eine spezifisch wissenschaftshistorische Perspektive, die versucht, den zahlreichen paradigmatischen Neuorientierungen in Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften um 1910 Rechnung zu tragen. Die fruehe Bundesrepublik und DDR demgegenueber an das Ende der Zeitachse zu setzen, zielte darauf, die Zaesur 1945 wissenschaftshistorisch zu hinterfragen - denn viele der nach 1945 wiedergegruendeten Universitaeten, Forschungsinstitute und -organisationen knuepften sowohl personell wie organisatorisch an die Vorkriegszeit an. Nicht zuletzt ging es aber auch darum, die Verstrickungen und wechselseitigen Beziehungen deutscher Wissenschaften mit der nationalsozialistischen Fuehrung genauer zu pruefen. Denn der urspruenglich Impuls fuer diese Tagung war von einer Anregung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgegangen, ihre eigene Geschichte ueber das bisher bekannte Mass aufzuarbeiten. So wies auch deren Praesident, Ernst Ludwig Winnacker, in seiner Eroeffnungsrede auf die offenen Fragen in der Geschichte der DFG hin. Diese muesse sich sowohl ihrer Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus, wie auch der Frage nach personellen Kontinuitaeten ueber ihre Wiedergruendung 1949 hinaus kritisch stellen.

Die Konferenz war in vier Bloecke gegliedert, die neben der Eroeffnungsveranstaltung die jeweiligen systemspezifischen Besonderheiten wie auch die Übergaenge von einem System zum naechsten thematisierten. Grundsaetzlich liesse sich fragen, ob nicht eine organisatorische Aufteilung in einzelne parallele Arbeitsgruppen dem disparaten Charakter der deutschen Wissenschaftsgeschichte zwischen Geistes-, Naturwissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte eher Rechnung getragen haette. Es kann dagegen als einendes Moment verstanden werden, wenn gerade zur Vermeidung weiterer disziplinaerer Aufsplitterung der Versuch unternommen wurde, die unterschiedlichen historischen Aspekte von Wissenschaften und Technik in einem Plenum zu diskutieren.

Bereits die Überblicksvortraege von Ulrich Wengenroth und Mitchell Ash machten das Spektrum des Programms deutlich. Ash eroerterte die Bedeutung von Wissenschaften und Politik als Ressourcen fuereinander, wobei er "Ressourcen" auf die Vielfaeltigkeit der Interaktionsformen zwischen beiden Systemen bezog. Der Netzwerkcharakter, der das Verhaeltnis von Wissenschaften und Politik seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichne, mache es notwendig, die wechselseitigen Abhaengigkeits- und Legitimationsverhaeltnisse von Wissenschaft und Politik in einem erweiterten Rahmen zu untersuchen. So seien Autonomie und Kontinuitaet wissenschaftlicher Organisationen und Institutionen keine Selbstverstaendlichkeiten, sondern konstruierte Realitaeten, die in ihren jeweiligen Kontexten hergestellt und bestimmt worden seien. Die Überpruefung dieser Konstruktionsmechanismen gehoere zu den Aufgaben einer kuenftigen Wissenschaftsgeschichte. Ulrich Wengenroth betrachtete dagegen die deutsche Wissenschaftsentwicklung vor dem Hintergrund ihres Innovationspotentials. Seit etwa 1900 haetten danach Wissenschaften und Technik in Deutschland ihre Forschungsbemuehungen auf die Entwicklung und Herstellung von Ersatzstoffen konzentriert, um die eigene Rohstoffarmut kompensieren zu koennen. Die internationale Isolation Deutschlands im Ersten Weltkrieg verstaerkte diese Tendenz. In den nationalsozialistischen Kriegsvorbereitungen wurden wiederum durch Preis- und Abnahmegarantien grosstechnische Anlagenprojekte verwirklicht, die nur innerhalb dieses kuenstlich erzeugten Systems "wirtschaftlich" produzieren konnten. Mit dieser "Wagenburg der Autarkie" haette sich das deutsche Wissenschafts- und Innovationssystem in einen "selbstgewaehlten Kaefig" (Wengenroth) begeben, dessen Nachwirkungen gepaart mit einem hohen Industrialisierungsgrad noch immer fuer die deutsche Innovationskultur praegend seien. Die Eingaengigkeit dieser Metaphern und die damit verbundene Grundproblematik deutscher Wissenschafts- und Technikentwicklung trugen wohl dazu bei, dass zahlreiche spaetere Beitraege auf diese Bilder zurueckgriffen.

Im ersten Block "Spaetes Kaiserreich und Übergang zur Weimarer Republik" diskutierte Michael Heidelberger die Veraenderungen von Weltbildern durch die moderne Physik vor dem ersten Weltkrieg. Die Erschuetterung des mechanistischen Weltbildes durch elektromagnetische Äthertheorien und Einsteins Relativitaetstheorie schlugen sich in einem lebensphilosophischen Diskurs ueber das Verhaeltnis von Wissenschaft und Lebensfuehrung nieder, in dem das Konzept einer wissenschaftlichen Lebensfuehrung umgekehrt worden und in antirationalistische, die Intuition betonende Lebensauffassungen zu Beginn der zwanziger Jahre eingemuendet sei. Mit seinem Beitrag zur Biologisierung des Menschen lenkte Heinz Schott den Blick auf das Verhaeltnis von Naturwissenschaften und Gesellschaftstheorien. Vor dem Hintergrund sozialdarwinistischer Theorien erzeugten um 1900 die biologischen Wissenschaften im Wechselverhaeltnis zu Politik, Ökonomie und Kultur eine Interpretationsvorlage fuer die geistigen Stroemungen der Zeit. Naturphilosophische Elemente, gepaart mit einem atheistischen Weltbild, das Wissenschaft zur Religion erhob, lieferten auf dieser Basis die Grundlage fuer rassenbiologische Diskurse und organizistische Gesellschaftsvorstellungen, die schliesslich in die Katastrophe der Euthanasieaktionen im Nationalsozialismus fuehrten. Volker Roelcke kommentierte diese Darstellung am Beispiel der Entwicklung in der Psychiatrie.

Gangolf Huebinger thematisierte in seinem Beitrag Wertekollisionen in den Geisteswissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die wissenschaftlichen Definitionsbemuehungen um gesellschaftliche Selbstbestimmung in den Geisteswissenschaften seien eine Reaktion auf eine alle Industrienationen umfassende Krisenerfahrung nach der Jahrhundertwende. An einem Vergleich zwischen geisteswissenschaftlichen Denkrichtungen in Heidelberg und Leipzig erlaeuterte er konkurrierende Gesellschaftsinterpretationen. Die vielleicht methodisch interessantesten Ansaetze boten die ersten Sitzungen des zweiten Blocks "Weimarer Republik und Übergang zum Nationalsozialismus". Margit Szoelloesi-Janze eroeffnete die Sektion mit einer dem Konzept der Knowledge-Society entlehnten Beschreibung der deutschen Wissenschaftsentwicklung seit dem spaeten 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik. Die Erweiterung des deutschen Wissenschaftssystems durch die Gruendung ausseruniversitaerer Forschungseinrichtungen und die Einbeziehung von Reich, Industrie und Militaer in die Wissenschaftsorganisation kennzeichneten danach eine Entwicklung in Deutschland hin zu einer Wissensgesellschaft.

In seinem Kommentar bot Rudolf Stichweh die Interpretation an, dass Deutschland am Ende der Weimarer Republik weniger eine Wissensgesellschaft als eine Wissenschaftsgesellschaft gewesen sei, die von der Hegemonie wissenschaftlichen Wissens unter Ausschluss anderer Wissensformen gepraegt gewesen sei.

Der anschliessende Vortrag von Jonathan Harwood untersuchte in Erweiterung der Thesen Fritz Ringers die Veraenderungen im deutschen Wissenschaftssystem an den unterschiedlichen intellektuellen Denkstilen von Mandarinen und Experten. Waehrend Ringers Thesen sich auf den Abstieg der deutschen Mandarine konzentrierten, versuchte Harwood mit der Gegenueberstellung von Mandarinen und Experten das Bild eines historischen Transformationsprozesses von Forschertypen zu erweitern. Eine Untersuchung dieser unterschiedlichen Forschertypen koenne danach zu einer vertiefenden Betrachtung der fachlichen Ausrichtungen in den einzelnen Wissenschaften beitragen.

In seinem Kommentar erlaeuterte Jeffrey Johnson die Implikationen dieses Modells am Beispiel der Rolle deutscher Chemiker im Ersten Weltkrieg. Ressourcenknappheit und die Umwandlung des Angriffskriegs in einen Stellungskrieg konfrontierte vor allem auch deutsche Wissenschaftler mit neuen Aufgaben. Wenngleich die Bearbeitung dieser Probleme in teilweise neuen institutionellen Kontexte mit interdisziplinaeren Anforderungen von den Wissenschaftlern sowohl Eigenschaften eines Mandarins wie eines Experten verlangte, haetten die Spezifika dieser anwendungsbezogenen Forschung waehrend des ersten Weltkriegs dennoch vor allem die Entwicklung von Expertenwissen gefoerdert.

Weitere Beitraege dieser Sektion behandelten die personelle Entwicklung in den Kultusministerien und die Probleme der deutschen Soziologie in der Weimarer Republik und waehrend des Nationalsozialismus. Die Nachmittagssitzung galt dem deutschen Wissenschaftssystem unter dem Nationalsozialismus. Im ersten Beitrag zu dieser Sektion ging Notker Hammerstein auf die Veraenderung der Wissenschaftslandschaft waehrend des Nationalsozialismus ein. Die von Hammerstein betonten strukturellen Kontinuitaeten des Hochschulsystems und seine Einschaetzung des Reichswissenschaftsministeriums in Berufungsfragen wurden kontrovers diskutiert.

In seinem Korreferat wies Lothar Mertens auf die Rolle des nationalsozialistischen Dozentenbundes hin, dessen oftmals subjektiv gefaerbte Gutachten bei Berufungsverfahren und Foerderantraegen ausschliessendes Kriterium sein konnten.

Wolfgang Eckart behandelte anschliessend die humanexperimentelle Bakteriologie- und Hygieneforschung im deutsch-japanischen Vergleich. Unter dem Aspekt der Normenentwicklung humanexperimentellen Handelns zeichnete er die Aufweichung wissenschaftlicher und ethischer Normen im Nationalsozialismus nach. Am Beispiel der japanischen Biological-Warfare-Forschung, der zwischen 1936-1945 ca. 8.000 bis 9.000 Chinesen zum Opfer fielen, diskutierte Eckart die Frage, ob es zulaessig sei, die auf solche verbrecherische Weise erzielten Ergebnisse unter "normalen" Bedingungen zu verwerten, wie es die USA nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs getan haben. Paul Weindling kommentierte den Beitrag mit dem Hinweis auf die Ambivalenzen der Forschungen in den sog. Lebenswissenschaften unter ideologischen Belastungen.

Lutz Raphael ergaenzte diese Ausfuehrungen durch das Beispiel der anwendungsorientierten Betriebspsychologie und Eignungsdiagnostik zwischen 1930-1960, in denen er mit der Vorherrschaft von unternehmerischen Rationalisierungszielen einen weniger politisch gewollten als pragmatischen Immunitaetsfaktor gegen die weltanschaulichen Ideologien der Nationalsozialisten sah.

Der Frage nach Grossforschung im nationalsozialistischen Wissenschaftssystem wandte sich Helmut Trischler zu. Wachstum und Ressourcenkonzentration in der Luftfahrtforschung und in einzelnen Forschungszweigen der Chemie liessen danach in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus Zuege von Grossforschung erkennen. Mit der Raketentechnologie und Kerntechnik erweiterte sich das Spektrum von Technologien, die unter den Bedingungen des Nationalsozialismus in grosstechnischem Stil gefoerdert wurden. Die polykratische Herrschaftsstruktur des Nationalsozialismus haette hier allerdings die Herausbildung von Kommunikationsstrukturen verhindert, die fuer eine erfolgreiche Umsetzung und Koordination der einzelnen Teilbereiche dieser Grossprojekte notwendig gewesen waere.

Die wohl kontroverseste und von mancherlei (konstruktiven?) Missverstaendnissen durchzogene Debatte der Tagung entspann sich um den letzten Beitrag zu dieser Sektion. Juergen Reulecke praesentierte mit einem Referat zur Generationalitaet und der West- / Ostforschung einen Interpretationsversuch, der von einer "Gleichgerichtetheit" der Erfahrungen zweier Generationen ausging. Die erste dieser Generationen umfasste danach die etwa zwischen 1890 und 1900, die zweite die zwischen 1902 und 1913 Geborenen. Fuer diese Altergruppen haette sich in zeitgenoessischer Terminologie die Bezeichnung "verlorene Generation" durchgesetzt. Der ersten "verlorenen Generation", die, wie Hannah Arendt beschrieb, in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs von Knaben zu Maennern gereift sei, sei eine zweite ebenso "verlorene Generation" gefolgt, die von den Erlebnissen der Revolution, Inflation und Arbeitslosigkeit gepraegt wurde. Die Erfahrungen dieser juengeren Generation kulminierten in einer auf Veraenderung gerichteten Zukunftsperspektive, die wiederum von der aelteren Frontgeneration mit den Konzepten eines "neuen Menschen" und der Gewinnung von "Lebensraum" bedient wurde. Exemplarisch beleuchtete Reulecke das Verhaeltnis dieser beiden Generationen an den Beziehungen zwischen Hans Rothfels (geb. 1891) zu seinen Schuelern Erich Maschke (geb. 1900), Werner Conze (geb. 1910) und Theodor Schieder (geb. 1908). Das Verhalten dieser juengeren Generation sei durch Gefuehlskaelte und Opportunismus bzw. die Bereitschaft zur Anpassung an neue Verhaeltnisse als generationsspezifische Strategie zur Bewaeltigung mehrfacher Verlusterfahrung gekennzeichnet. Letztlich liege die Tragik dieser zweiten, juengeren Generation auch darin, mit dem idealistischen Konzept eines "neuen Menschen" angetreten zu sein und in der Mitte ihres Lebens damit fertig werden zu muessen, ein verbrecherisches Regime zugearbeitet zu haben.

In einem ersten Kommentar zu diesen Thesen eroerterte Ingo Haar kritisch die Moeglichkeit, dieses Konzept auf die Wissenschaftler des Generalplans Ost anzuwenden. Geoffrey Giles pruefte die Thesen Reuleckes in einem zweiten Kommentar an den Motivationslagen einer jungen Akademikerschaft in den dreissiger Jahren, sich am studentischen Osteinsatz zu beteiligen. Scharfe Widerrede gegen Reulecke brachte schliesslich Peter Schoettler vor, der sich gegen einen solchen verallgemeinernden kollektiven Zugang verwahrte und in dieser Art von "langfristigem Determinismus" eine Relativierung und indirekte Entschuldigung der NS-Verbrechen vermutete.

Die letzte Sektion eroerterte Entwicklungen in der fruehen Bundesrepublik und DDR. Hubert Laitko eroeffnete die Sitzung mit einem Soziogramm Berliner Hochschullehrer und Forscher zwischen 1945 und 1950. Eindruecklich erlaeuterte er, wie die Berliner Wissenschaftslandschaft bereits in den letzten Kriegsjahren durch die Aussiedlung zahlreicher Forschungsinstitute auseinander fiel. Auch die bisher wenig beachtete Taetigkeit von Wissenschaftlern in der Sowjetunion haette nach 1945 erheblichen Anteil am Zusammenschmelzen der Wissenschaftlerzahlen in Berlin gehabt. Dem standen nach 1945 nur wenige Remigranten gegenueber. Die sich zuspitzenden Systemgegensaetze steigerten dagegen den Bedarf an wissenschaftlichen Fachkraeften, so dass zuvor in Entnazifizierungsverfahren ausgeschlossenen Forscher auf beiden Seiten allmaehlich wieder in das Wissenschaftssystem integriert wurden. Ein kontraeres Bild des wissenschaftlichen Neubeginns zeichnete Sylvia Paletschek fuer die von Zerstoerungen verschonte Universitaet Tuebingen nach. Tuebingen war als eine der ersten Universitaeten nach dem Krieg wiedereroeffnet worden und hatte zudem von der Aussiedlung einiger Kaiser-Wilhelm-Institute profitiert. Mit diesen organisatorischen Angeboten gelang es der Universitaet, beschaeftigungslose Wissenschaftler in die Stadt zu holen und Schwerpunkte fuer die zukuenftige Entwicklung zu setzen. Uta Gerhardt betrachtete ergaenzend die Wiederanfaenge der Soziologie in Heidelberg.

Der anschliessende Beitrag Claus-Dieter Krohns behandelte die Situation von in die USA emigrierten Wissenschaftlern im Hinblick auf Remigrationsbarrieren nach 1945. Von etwa 3.000 nach 1933 entlassenen Wissenschaftlern emigrierten rund 1.200 in die USA. Unter ihnen hob Krohn besonders eine junge liberale Generation von Sozialwissenschaftlern hervor, die in Amerika fuer eine moderne problemorientierte Gesellschaftsanalyse gestanden habe. Die mittlerweile im Exil etablierten Wissenschaftler verspuerten wenig Neigung, 1945 in ein materiell und moralisch zerstoertes Deutschland zurueckzukehren, zumal den Remigranten, wie etwa die Thomas-Mann-Kontroverse 1946 belegt, offene Ablehnung entgegenschlug. Die Remigrationsrate lag demzufolge bei ca. 10-15%.

In seinem Korreferat erlaeuterte Michael Schuering die Remigrations- und Entschaedigungsproblematik in der Kaiser-Wilhelm/Max-Planck-Gesellschaft, die sich zunaechst keineswegs selbstverstaendlich als Rechtsnachfolgerin der Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft verstand. Vor allem personelle Kontinuitaeten in der Max-Planck-Gesellschaft erschwerten eine Remigration. Ein rueckkehrwilliger Wissenschaftler, der 1948 von dem weiter bestehenden Beschaeftigungsverhaeltnis eines nationalsozialistischen Kollegen erfuhr und diesem Grund nicht zurueckkehrte, bewertete diesen Vorgang nachtraeglich als "zweite Vertreibung". Weitere Beitraege behandelten die fruehe bundesrepublikanische Soziologie sowie die Entwicklung der Koautorenschaft in den Biowissenschaften im 20. Jahrhundert.

Wissenschaften und Wissenschaftspolitik vom spaeten Kaiserreich bis zur fruehen Bundesrepublik/DDR: "Ein weites Feld - oder gar ein zu weites Feld?", so hatte es Ruediger vom Bruch - Fontane zitierend - in seiner Einfuehrung am Beginn der Tagung formuliert. Die vielfaeltigen Interaktionsmechanismen zwischen Wissenschaften und Politik, die Vielzahl der methodischen Zugaenge und Interpretationsangebote und die Fuelle offener Forschungsfragen machen Akzentuierungen und Schwerpunktsetzungen notwendig. Angesichts dieser Breite des Spektrums steht den Planern eines DFG-Schwerpunktprogramms "Wissenschaftsgeschichte", das urspruenglich die Aufarbeitung der DFG-Vergangenheit bewaeltigen sollte, eine schwierige und spannende Aufgabe bevor.

Adresse des Autors: Stefan Kriekhaus, Humboldt-Universitaet Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. E-mail: KriekhausS@geschichte.hu-berlin.de

Ergänzung zum Konferenzbericht Wissenschaften und Wissenschaftspolitik vom 07.07.2000

Im Nachgang der Tagung Wissenschaften und Wissenschaftspolitik wurde zurecht angemerkt, dass die Rolle der Geisteswissenschaften auf der Tagung insgesamt nur wenig thematisiert wurde. Tatsächlich widmete sich außer den beiden Vorträgen zur Soziologie nur ein weiterer Beitrag den Problemlagen in den Geisteswissenschaften. Neben den Darstellungen Gangolf Hübingers befassten sich hier Ulrich Sieg und Christoph König mit der Situation jüdischer Intellektueller. Ulrich Sieg schilderte deren Konflikterfahrungen angesichts zunehmend antisemitischer Tendenzen im Ersten Weltkrieg.

An einem Vergleich der Germanistik in Berlin und Wien erläuterte Christoph König die unterschiedlichen Aspekte jüdischen Geisteslebens. Mit beiden Beiträgen wurde die zuvor von Hübinger dargestellten Wertekollisionen in den Geisteswissenschaften illustriert und vor allem um die spezifischen Besonderheiten deutsch-jüdischer Beziehungen erweitert.


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: KriekhausS@geschichte.hu-berlin.de
Subject: Tagungsbericht
Date: 29.06.2000


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