Tagungsbericht "Goettinger Gespraeche zur Geschichtswissenschaft" / 11.12.1998

Weiche Wissenschaft - harte Kontroversen

Tagung ueber alte und neue Historikerkontroversen

Von Klaus P. Sommer, Goettingen

Die Historie erscheint haeufig als eine "weiche Wissenschaft". Doch gefochten wird in ihr, wenn es zum Streit kommt, um so heftiger. Diesem eigenartigen Phaenomen widmete sich eine Tagung im Rahmen der "Goettinger Gespraeche zur Geschichtswissenschaft" des Max-Planck-Instituts fuer Geschichte am Freitag den 11.12.1998. Sie fand zu Ehren Annelise Thimmes statt, die kuerzlich ihren 80. Geburtstag feierte. Das Thema hatte man der Jubilarin wegen gewaehlt.

Als Tochter des Historikers Friedrich Thimme (1868-1938) hatte sie schon frueh Kontroversen miterlebt. Er hatte seine Laufbahn mit einem zweibaendigen Buch ueber die Zeit des Kurfuerstentums Hannover unter der franzoesisch-westfaelischen Herrschaft (1803-1813) begonnen und beschloss sie in Berlin als Herausgeber der 52baendigen Aktenpublikation "Die Grosse Politik der Europaeischen Kabinette." Sie sollte belegen, dass das Deutsche Reich nicht am Ausbruch des 1. Weltkrieges Schuld sei. Wegen seiner Taubheit blieb ihm die Hochschullaufbahn verschlossen. Er wurde Bibliothekar der Bibliothek des preussischen Herrenhauses und eifriger Publizist. Der streitbare Historiker war zwar konservativ aber ein Gegner der Nazis. Als Sachverstaendiger hatte er sich sogar dem Verteidiger Felix Fechenbachs (1894-1933) zur Verfuegung gestellt. Der sozialdemokratische juedische Journalist und ehemalige Sekretaer Kurt Eisners war mehrfach wegen "Hochverrats" angeklagt worden. Im August 1933 wurde er auf dem Transport von Detmold nach Dachau von SA-Maennern noch im Lippischen ermordet.

Von ihrem Vater keineswegs zur Historikerin erzogen, entschied sich Annelise Thimme dennoch, ihr Chemie-Studium abzubrechen und Geschichte zu studieren. Aus Freiburg kam sie von Gerhard Ritter 1944 nach Goettingen. Der Tag der Befreiung der Stadt von den Nazis wurde fuer deren Gegnerin zum Unglueckstag. Ein Artillerie-Schuss in die Luft riss ihr einen Fuss ab.

1951 promovierte sie in Goettingen bei S. A. Kaehler mit einer Arbeit ueber "Hans Delbrueck als Kritiker der Wilhelminischen Epoche." Da sie von den damaligen ausschliesslich maennlichen und ueberwiegend konservativen Historikern kaum unterstuetzt wurde, konnte sie ihre Karriere nicht mit einer Habilitation fortsetzen, sondern musste Lehrerin werden. Ein Stipendium ermoeglichte ihr aber Recherchen im Nachlass des ehemaligen deutschen Aussenministers Gustav Stresemann (1878-1929). In mehreren Artikeln ueber ihn zerstoerte sie, nicht ohne Kontroversen auszuloesen, viele der Legenden, die sich ueber ihn gebildet hatten. Sie belegte, dass er sich im 1. Weltkrieg zum bedingungslosen parlamentarischen Sprachrohr Ludendorffs gemacht hatte. Die Verstaendigung mit Frankreich und den Eintritt Deutschlands in den Voelkerbund in der Zeit der Weimarer Republik habe der raffinierte Taktiker nicht deswegen erstrebt, weil er nun zum humanistischen "Europaeer" sich gewandelt habe, sondern weil er sich ganz pragmatisch mit dieser Politik die groessten Erfolge zur Revision des "Versailler Vertrags" zugunsten Deutschlands versprach.

Annelise Thimme gehoert damit zu den wenigen Forschern, die Fritz Fischers Buch von 1961 "Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland" vorbereiteten. Fischers Behauptung, dass die deutsche Reichsleitung nicht in den 1. Weltkrieg "geschlittert" sei, sondern ihn sehenden Auges um wirtschaftlicher Ziele willen begonnen habe, loeste die groesste Kontroverse unter den deutschen Historikern der Nachkriegszeit aus. Viele Deutsche hatten nach dem 1. Weltkrieg geglaubt, dass die Alliierten im Versailler Vertrag ihnen die "Alleinschuld" am Ausbruch dieses Krieges zugesprochen haetten. Fischer schien nun gegen sein Vaterland die Ansichten zu teilen, die den ehemaligen Kriegsgegnern unterstellt wurden. Der Hamburger Professor, der bald seinen 90. Geburtstag feiern kann, wurde daher als "Nestbeschmutzer" beschimpft.

Annelise Thimme konnte in ihrem in Goettingen bei Vandenhoeck & Ruprecht 1969 erschienenen Buch "Flucht in den Mythos. Die Deutschnationale Volkspartei und die Niederlage von 1918" aber zeigen, dass im Versailler Vertrag nur eine sozusagen strafrechtliche Schuld des Deutschen Reiches am 1. Weltkrieg festgelegt war. Die Ansicht, dass in ihm eine "moralische Alleinschuld" der Deutschen an diesem Krieg behauptet worden sei, enttarnte sie so als eine Erfindung rechter Parteien wie eben der DNVP, der aber im In- und Ausland verhaengnisvoll viel Glauben geschenkt wurde.

Ihre Arbeit ist eine bahnbrechende Studie darueber, wie Niederlagen mental verarbeitet werden. Vergleichbare Studien sind immer noch selten. Im selben Jahr beschrieb Fischer die deutsche Politik in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg als "Krieg der Illusionen". Thimme zeigte, dass er von Parteien wie der DNVP hemmungslos fortgesetzt wurde, die damit wichtige Voraussetzungen fuer den Aufstieg der Nazis und massenhaft geglaubter Illusionen schufen.

Bei ihren Recherchen fuer dieses Buch entdeckte sie auch ein Dokument, das in fast unglaublicher Art belegt, wie wenig selbst ein deutscher Professor die Wahrheit achtete, wenn es ihm darum ging, seine chauvinistischen, antisemitischen und frauenfeindlichen Ziele zu verfolgen. Es handelt sich um Vorschlaege zur Film-Propaganda der DNVP von 1919 von Ulrich Kahrstedt, der von 1920 bis 1952 Professor fuer Alte Geschichte in Goettingen war. Es wurde 1996 von Cornelia Wegeler in ihrem Buch "'Wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik'. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Goettinger Institut fuer Altertumskunde 1921-1962" publiziert.

Nach Schuldienst in Hamburg lehrte Annelise Thimme an Colleges und Universitaeten in Kalifornien und Kanada.

Alte Freunde hatten sich zu der ihr gewidmeten Tagung in Goettingen eingefunden. Aus den USA waren angereist der 83jaehrige Carl E. Schorske (bekannt durch sein Buch ueber das Wien der Jahrhundertwende) und der 72jaehrige Fritz Stern (der ueber den Bankier Bismarcks, Bleichroeder, sowie ueber "Kulturpessimismus als politische Gefahr" schrieb und auch schon einmal an einem 9. November im Bundestag die Festrede hielt). Fritz Fischer musste sich leider entschuldigen.

Helmut Boehme (Darmstadt) sprach ueber die Fischer-Kontroverse, Roger Chickering (Washington) ueber den "Feldzug" der deutschen Historiker gegen ihren Kollegen Karl Lamprecht, der vor dem 1. Weltkrieg versucht hatte, methodisch neue Wege zu gehen. Michael Matthiesen (Goettingen) berichtete von einer Kontroverse ueber die Deutung des Humanismus der vorreformatorischen Zeit und Luthers in den 20er Jahren zwischen Gerhard Ritter und Johannes Haller. Martin Kitchen (Burnaby) sprach ueber Kontroversen ueber die deutsche Fruehjahrsoffensive von 1918, Leonidas E. Hill (Vancouver) ueber die Schweiz im 2. Weltkrieg und Doris L. Bergen (Notre Dame) ueber Kontroversen zum Holocaust bzw. den Historikerstreit um Ernst Nolte in den 80er Jahren und den um Daniel J. Goldhagen im vorletzten Jahr.

Irene Pieper-Seier (Oldenburg) schilderte die Kontroversen um Georg Cantors Entdeckung verschiedener Klassen von Unendlichkeit, dass die der natuerlichen Zahlen und Brueche eine andere ist als die der reellen Zahlen. Ungewoehnlich lehrreich war, dass selbst ein so bezwingendes, anschauliches Argument wie das Cantorsche "Diagonalverfahren", mit der er die verschiedene Maechtigkeit der Mengen dieser Zahlen zeigte, eine Koryphaee der Mathematik wie den Berliner Leopold Kronecker nicht ueberzeugen konnte und er in seiner Opposition zu Mitteln griff wie dem, die Publikation von Cantors Arbeiten und eine fuer diesen erfolgreichere akademische Karriere zu verhindern. Pieper-Seier ermoeglichte damit den von Historikern immer wieder eingeforderten Vergleich auch ueber die internen Streitereien der Historiker hinaus.

Hartmut Lehmann (Goettingen) hatte die Tagung mit der Frage eroeffnet, ob Kontroversen eher hemmend oder foerdernd auf die Geschichtswissenschaft wirkten. In den Diskussionen war man sich einig, dass der Lamprecht-Streit skelettierend, die Fischer-Kontroverse befreiend gewirkt habe. Kontroversen unterscheiden sich nach Lehmann von Meinungsverschiedenheiten dadurch, dass es in ihnen mehrere Ebenen gibt. Eine, um die es vordergruendig geht, eine, auf die angespielt und eine weitere, um die es geht, die aber nicht genannt wird. Daraus bezoegen Kontroversen auch ihre besondere Schaerfe. Beim Streit um Nolte sei es um Politisches gegangen. Der Streit um Goldhagen sei wissenschaftlich ebenfalls unfruchtbar gewesen. Goldhagen erzaehle, wie Fritz Stern meinte, ein aehnliches Maerchen wie der Hollywood-Streifen "Holocaust" von 1979. Nach filmischen Sequenzen des Schreckens gebe es bei Goldhagen am Ende ein Happy-End in Form eines gewandelten, demokratischen Deutschlands. Diesen Einfluss der Medien und der Sprache des Films gelte es zurueckzuweisen.

So disparat das Resuemee der Tagung ueber den Nutzen oder Nachteil der Kontroversen fuer die Historie ausfiel, so interessant war die Tagung insgesamt. Und ebenso einhellig konnten sich die Gaeste Annelise Thimmes an der abschliessenden, von ihr ausgerichteten kleinen Feier erfreuen.


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Klaus P. Sommer" <ksommer1@gwdg.de>
Subject: Tagungsbericht: "Weiche Wissenschaft - harte Kontroversen"
Date: 17.12.1998


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