Tagungsbericht

"Perspektiven und Visionen in Europa: Ungarn und die europaeische Integration"

1. - 3.10.99 in Budapest

Vom 1. bis 3. Oktober 1999 fand in Budapest, im Senatssaal der Eoetvoes-Lorand-Universitaet (ELTE) eine Tagung zum Thema "Perspektiven und Visionen in Europa: Ungarn und die europaeische Integration" statt. Unter der Schirmherrschaft des Dekans, Prof. Dr. Karoly Mannherz und des deutschen Botschafters Dr. Hasso Buchrucker wurde die Tagung von der Potsdamer Gesellschaft fuer Mittel- und Osteuropaeische Forschung und Dokumentation e.V. (GMOFD) und der Association of Politology Students der ELTE-Universitaet, Budapest (Politologus-Hallgatok Egyesuelete) veranstaltet. Ziel der Zusammenkunft war die Kontaktaufnahme zwischen Studenten und Interessierten beider Staaten, um sich gemeinsam mit der Idee Europa auseinanderzusetzen und Visionen fuer die kuenftige Gestalt Europas zu entwickeln.

Am Donnerstag, dem 30. September, wurde die Tagung mit einem feierlichen Empfang eroeffnet. Hierzu hatte der Direktor des Landwirtschaftlichen Museums (Vajdahunyadvar) in das Foyer des Museums eingeladen und rund 150 Gaeste folgten dieser Einladung. Nach Festansprachen und Eroeffnungsworten des Vertreters der Association of Politology Students, Vilmos Hegedues, des Gesandten der Bundesrepublik Deutschland, Alexander von Rom, des Dekans der ELTE-Universitaet, Prof. Dr. Karoly Mannherz, der Vorsitzenden der GMOFD, Dr. Petra Weckel und der Projektleiterin des Budapester Bueros der Friedrich-Naumann-Stiftung, Zsuzsanna Tormassy, wurde das ungarische Buffet eroeffnet und es gab reichlich Gelegenheit zu ersten Gespraechen mit Vertretern massgeblicher Institutionen und interessierten Teilnehmern der Tagung. Aus Deutschland waren 12 Teilnehmerinnen und Teilnehmer angereist, um sich in den naechsten Tagen mit der europaeischen Integration zu beschaeftigen. "Die Gesellschaft fuer Mittel- und Osteuropaeische Forschung und Dokumentation moechte ueber bloss wirtschaftliche Verbindungen hinaus etwas fuer den gemeinsamen europaeischen Gedanken bewirken. Uns geht es dabei um kulturellen Austausch, das gegenseitige Kennenlernen und den wachsenden gegenseitigen Respekt, den wir brauchen, um als gleichwertige Partner in einem europaeischen System politische und humanistische Perspektiven zu entwickeln. Mit diesem Ziel sprechen wir vor allem junge Menschen an, die ueber kurz oder lang das politische Leben gestalten, die europaeische Richtung mit entwickeln werden." formulierte P. Weckel in ihrer Eroeffnungsrede das Anliegen der Tagung, die vom Auswaertigen Amt, der Koerber-Stiftung und der Friedrich-Naumann-Stiftung gefoerdert wurde.

Am Freitag vormittag besuchten die Teilnehmer das ungarische Parlament und fuehrten ein Gespraech mit zwei Abgeordneten der Regierungspartei FIDESZ. Schon zu Beginn wurde deutlich, wie gross das Interesse der Ungarn an der moeglichst schnellen und klar terminierten Aufnahme in die EU ist. Es wurden bereits viele wirtschaftliche Opfer gebracht und auch geduldig geleistet, deren Erfolg nun jedoch angemahnt wird. Das ungarische Parlament lud die Teilnehmer anschliessend in das hauseigene Restaurant zum traditionellen Mittagessen: Goulaschsuppe und Palatschinken - ein. Der Rest der Tagung fand im Senatssaal der ELTE-Universitaet statt. Die erste Sektion stand unter dem Thema "Ungarns Weg in die EU" und wurde von den Referenten Gergely Proehle, Staatssekretaer im Ministerium des Nationalen Kulturellen Erbe, dem Gesandten der Bundesrepublik Deutschland, Alexander von Rom und dem ehemaligen Botschafter, Dr. Gabor Erdoedy bestritten. Einhellige Meinung war, dass Ungarn bis 2002 der EU beitreten solle, ja, dass es eigentlich heute bereits beitrittsreif sei. Der

politische Wille sei ganz klar und uneingeschraenkt vorhanden, nur die verwaltungstechnische Abwicklung wuerde noch etwas Zeit in Anspruch nehmen. Nach dieser eher allgemeinen Einfuehrung in das Thema sprach der Abteilungsleiter im Ministerium fuer Landwirtschaft und Landesentwicklung, Arpad Nagy, ueber die landwirtschaftlichen Probleme Ungarns. Die Umstrukturierung sei schon weit fortgeschritten und seiner Meinung nach sei Ungarn auch in landwirtschaftlicher Hinsicht beitrittsreif. Er ging dabei von einer Aufrechterhaltung des starren und veralteten Systems der Alimentation des gesamten europaeischen Landwirtschaftssektors aus. Dem widersprach der naechste Referent ebenso wie manche Diskutanten, entschieden. Der Praesident des ungarischen Tourismusamtes, Mihaly Szabo, sprach ueber "Ungarns Image in Europa". Er verteidigte vehement das ungarische Selbstbewusstsein, dass sich nach jahrzehntelanger Unterdrueckung nun wieder lebendig entfalten koenne. Der Tourismus entwickele sich als einer der wesentlichen Wirtschaftsfaktoren, der die wirtschaftliche Leistung Ungarns kuenftig massgeblich mitgestalten werde. Wie zur Bekraeftigung seiner Argumente fuer die Bedeutung des Tourismus in Ungarn gab es am Abend in den Raeumen des Goethe-Instituts eine Weinprobe erlesener ungarischer Troepfchen, die allesamt aus Szeremley stammten. Begleitend dazu wurden Wein-Texte von Goethe rezitiert und ein Ensemble intonierte historische Musik rund um Wein, Weib und Gesang.

Der Samstag stellte verschiedene Themen zur Diskussion. Der Morgen begann mit zwei Vortraegen zum Thema "Das europaeische Wertesystem, Zentralismus versus Regionalismus". Dr. Erhard Crome von der Universitaet Potsdam entwickelte eine Art Richtlinienkatalog fuer eine kuenftige Wertorientierung. Grundlage sei dafuer das Wissen um die Pluralitaet und Widerspruechlichkeit unserer Zukunft. Das Wissen um diesen Zustand werde es uns erleichtern, das Chaos zu bewaeltigen und in fuer alle annehmbare Formen zu giessen. Prof. Dr. Jozsef Bayer, Professor fuer Politikwissenschaft an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften beurteilte die europaeische Integration als Symptom des weltweiten Phaenomens der Globalisierung. Er plaedierte dafuer, der Europhorie einen Rahmen zu geben, der soziale Kluefte, den sogenannten "Samtenen Vorhang" zu ueberwinden hilft, wie einst der "Eiserne Vorhang" ueberwunden wurde. "Ungarns Integrationsreife" war eine Frage, die nahezu ueberall thematisiert wurde, in der Sektion von Wirtschaftsexperten jedoch ganz konkret betrachtet wurde. Dr. Istvan Koeroesi, Senior Research Fellow des ungarischen Weltwirtschaftsinstituts, warf eine sehr stringente und klare Sicht auf Ungarns wirtschaftlichen Zustand. Seiner Meinung nach wuerde Ungarn noch etwa 20 Jahre benoetigen, um mit der europaeischen Wirtschaft schritthalten zu koennen. Der stellvertretende Hauptabteilungsleiter des Wirtschaftsministeriums und Aussenhandelsattache a.D., Ferenc Takacs beurteilte diese Frage sehr viel optimistischer. Fuer ihn ist die Wirtschaft Ungarns weit genug, um in zwei Jahren einen guten Einstieg zu ermoeglichen. Der Nachmittag begann mit verfassungsrechtlichen Fragestellungen. Unter dem Motto "Eine Verfassung fuer Europa? Perspektiven oder Visionen aus juristischer Sicht" stellte Torge Hamkens die verfassungshistorische Entwicklung Europas dar und verwies auf die unterschiedlichen Funktionen, die eine ordentlich verabschiedete Verfassung fuer Europa haben koennte. Die normative und identifikatorische Kraft koennte ein sinnvoller Katalysator sein. Sie koennte die parlamentarische Legitimation Europas staerken und der fortschreitenden Zentralisierungstendenz entgegenwirken. Dr. Laszlo Balogh, Dozent am Lehrstuhl fuer Politikwissenschaft der ELTE, schilderte das ungarische Verfassungsbewusstsein aus historischer Sicht. Seine pessimistische These muendete darin, dass die Ungarn viel zu sehr Untertanengeist besitzen, als dass sie in so kurzer Zeit zu ordentlichen Demokraten werden koennten.

Juergen Illing, der Geschaeftsfuehrer der Deutsch-Ungarischen Industrie- und Handelskammer in Budapest sprach ueber die "Wirtschaftlichen Beziehungen als Triebwerk der EU-Integration Ungarns". Die Aussenbeziehungen Ungarns, bei denen Deutschland und insbesondere die Neuen Laender einen grossen Anteil einnehmen, sind ein wichtiges Moment fuer die fortschreitende Integration Ungarns. Frau Zsuzsanna Tormassy, Projektberaterin der Friedrich-Naumann-Stiftung Budapest, schilderte am konkreten Beispiel der "Deutschen Banken in Ungarn" die Schwierigkeiten, die Unternehmen waehrend ihrer ersten Firmenniederlassungen in Ungarn hatten.

Den Abschluss der Tagung bildeten Referate zu "Die EU-Integration aus diplomatischer Sicht". Dr. Jozsef Czukor, ausserordentlicher und bevollmaechtigter Gesandter der Republik Ungarn in Berlin berichtete ueber seine Erfahrungen ueber die Wahrnehmung Ungarns in Deutschland. Andras Orgovanyi, Hauptabteilungsleiter des ungarischen Aussenministeriums, hielt einen Vortrag ueber die diversen Versionen der Aufnahmeklauseln in den verschiedenen Vertraegen der EU. Er verwies deutlich auf die haeufig willkuerlich erscheinende zunehmende Erschwerung der Aufnahmebedingungen.

Der letzte Tag, der Sonntag galt kulturellen und Minderheitenfragen. Prof. Dr. Karoly Mannherz, Dekan der ELTE-Universitaet referierte ueber die "Deutsche Minderheit in Ungarn". Er berichtete ueber die verschiedenen historischen Wanderungsbewegungen, die Spachvermischungen und -entwicklungen, der in Ungarn pauschal als "Schwaben" bezeichneten deutschen Siedler. Otto Heineck, Praesident der Landesverwaltung der Ungarndeutschen, schilderte ganz konkrete Probleme der Minderheit, die waehrend des kommunistischen Regimes kaum Entfaltungsmoeglichkeiten hatte, dann aber nach und nach immer mehr Rechte erhielt. Heute gib es bereits zweisprachige Schulprojekte, auch wenn alles noch in den Anfaengen steckt und in Regierungskreisen haeufig auf Ignoranz stoesst, "... was viel schlimmer ist als offene Ablehnung." Christine Gomolka, Studentin des Studiengangs KulturArbeit der Fachhochschule Potsdam berichtete ueber den Aufbau des deutschsprachigen Fensters im Radio TILOS. Das Goethe-Institut hatte das Angebot bekommen, Donnerstagnacht, zwischen 24.00 und 0.30 Uhr eine Sendung mit kulturellen Nachrichten zu gestalten. Frau Gomolka baute diese Sendung auf, die bis heute von Praktikanten erfolgreich weiter betreut wird. TILOS ist ein privater Sender, der aus einem Piratensender entstanden ist. Er finanziert sich hauptsaechlich aus Spenden und den woechentlichen beruechtigten TILOS-FETEN.

Abschliessend referierte die Potsdamer Studentin Brigitta E. Gantner ueber "Juedische Kultur in Ungarn". Auch hier wurde wieder, offenbar nach ungarischer Tradition, ein ausholender historischer Bogen geschlagen, der viele der heutigen Bedingungen erklaert. In Ungarn, vor allem in Budapest gibt es heute wieder ein vielseitiges juedisches Leben. Die Religion steht dabei nicht so sehr im Vordergrund, vielmehr die kulturellen Veranstaltungen; Klezmer-Musik, Lesungen, Feste. In die Synagoge gehen viele Juden, wie auch Katholiken oder Protestanten haeufig nur noch zu den Hochfesten. Diesen Eindruck konnten die Teilnehmer ganz konkret verfestigen waehrend eines Rundgangs, den B. E. Gantner an ihren Vortrag anschloss und der gleichzeitig den Abschluss der Tagung bildete.


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From:"Dr. P. Weckel" <weckel@rz.uni-potsdam.de>
Subject: Tagungsbericht: "Perspektiven und Visionen in Europa..."
Date: 17.10.99


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