"Münchner Theatergeschichte 1600 bis 2000"

Symposion vom 12. bis 14. Mai 2000

veranstaltet vom Kulturreferat der Landeshauptstadt Muenchen, dem Institut fuer Theaterwissenschaft und dem Institut fuer Bayerische Geschichte ander Ludwig-Maximilians-Universitaet Muenchen

Das Programm des Symposions

Eroeffnungsveranstaltung (12.5.)

Grussworte: Prof. Dr. Nida Ruemelin (Kulturreferent d. Landeshauptstadt Muenchen)
Prof. Dr. Hans-Georg Liebich (Prorektor der LMU)
Prof. Dr. Hans-Michael Koerner (Institut fuer Bayerische Geschichte)
Prof. Dr. Hans-Peter Bayerdoerfer (Institut fuer Theaterwissenschaft)

Referat:

Prof. Dr. Juergen Schlaeder:
Die Geschichte des fluechtigen Augenblicks. Historiographie zwischen Dokumentation und aesthetischer Interpretation

Arbeitssitzungen (13.5.):

Ars et Mars. Kunst und Politik am Hofe Kurfuerst Max Emanuels
Moderation: Prof. Dr. Alois Schmid
Referenten: Christina Schulze, Alexander Pointner

Bayerische Geschichte auf der Buehne des Nationaltheaters Max I. Joseph
Moderation: Prof. Dr. Hans-Peter Bayerdoerfer
Referenten: Dr. Robert Braunmueller, Karl B. Murr

Otto Falckenberg - Widerstand auf der Buehne?
Moderation: Prof. Dr. Juergen Schlaeder
Referenten: Anja Radler, Ulrike Stoll

Muenchen als Nazi-Kunststadt
Moderation: Prof. Dr. Walter Ziegler
Referenten: Dr. Rainer Hartl, Michael Hermann

Neuanfang oder Kontinuitaet im Muenchner Theater nach 1945?
Moderation: Prof. Dr. Hans-Michael Koerner
Referenten: Martin Ecker, Andreas Michler

Protestbewegung und Theater um 1968
Moderation: Prof. Dr. Wilfried Passow
Referenten: Prof. Dr. Michael Gissenwehrer, Stefan Hemler

Matinee (14.5.):

Prof. Dr. Juergen Schlaeder und Dr. Barbara Zuber:
Die Inszenierung des Lebens. Zum Verhaeltnis von Theater, Politik und Gesellschaft um 1650 und um 1900

Gerard Mortier, Intendant und Kuenstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele: Theater und historisches Bewusstsein

Die Referate des Symposions (Zusammenfassung)

Die Muenchner Theatergeschichte der letzten vier Jahrhunderte zaehlt ganz unstrittig zum kulturellen Erbe der Stadt Muenchen, und es erscheint eher unglaubwuerdig, wenn man hinzufuegen muss, dass diese reiche Theatergeschichte wissenschaftlich nur ganz unzureichend aufgearbeitet ist, so der Historiker Hans-Michael Koerner in seiner Ansprache bei der Abschlussmatinee des Symposions "Muenchner Theatergeschichte 1600 bis 2000", veranstaltet vom Kulturreferat der Landeshauptstadt Muenchen sowie von den Instituten fuer Bayerische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universitaet. Um diesem Defizit entgegenzuwirken, haben beide Universitaetsinstitute beschlossen, ein interdisziplinaeres Forschungsprojekt auf den Weg zu bringen. Am Ende dieser auf fuenf Jahre geplanten Zusammenarbeit soll eine dreibaendige Muenchner Theatergeschichte (von 1600 bis 2000) stehen, die allerdings noch einer umfassenden finanziellen wie auch materiellen Unterstuetzung bedarf.

Klar war von Beginn an, dass man nur in einer interdisziplinaeren Zusammenarbeit zu Ergebnissen und Einsichten in die Muenchner Theatergeschichte gelangen kann, wozu jede Disziplin fuer sich allein nicht oder nur unzureichend imstande waere. Fuer die Theaterwissenschaft sind gerade die Potentiale der Landesgeschichte von grossem Interesse, da sie gerade nicht auf die grossen Themen der politischen Geschichte fixiert ist, sondern schon immer Themen der Kultur, Literatur und Kunst in ihre Forschungsarbeit einbezogen hat. Zusammen koennte man Forschungsstrategien und ein Darstellungskonzept entwickeln, die sowohl den theatralen Phaenomenen und institutionellen Gegebenheiten wie auch den politischgesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Muenchner Theatergeschichte gerecht werden. Dabei sei, so betonte der Theaterwissenschaftler HansPeter Bayerdoerfer, nicht lokale Begrenzung gefragt, sondern die Bereitschaft, das Muenchner Theaterleben aus der Perspektive der deutschen wie auch der europaeischen Theatergeschichte wahrzunehmen. Nur in einem modernen landesgeschichtlichen Verstaendnis koenne die Polaritaet zwischen lokalgeschichtlicher Besonderheit und globaler Perspektive innerhalb der Muenchner Theatergeschichte vermittelt werden.

Wie nun Theatergeschichte als Geschichte des fluechtigen Augenblicks, eingespannt in eine Polaritaet von Politik und Aesthetik, mittels einer differenzierten Quellenkritik zu konzipieren sei, dies demonstrierte Juergen Schlaeder (Institut fuer Theaterwissenschaft) am gleichen Abend mit dem Konzept einer Historiographie zwischen Dokumentation und aesthetischer Interpretation. Anhand der Muenchner Erstauffuehrung der Oper Daphne von Richard Strauss am Muenchner Nationaltheater im Mai 1941 und seiner Oper Friedenstag, die im Juli 1938, ca. zwei Monate vor Abschluss des Muenchner Abkommens, uraufgefuehrt wurde, zeigte Schlaeder, wie sich in den Inszenierungen beider Opern, besonders in den eingreifenden Aenderungen ihrer Schlussszenerie die Propaganda und Ideologie des Nationalsozialismus spiegelten. Unter diesem Aspekt werde man erneut darueber nachdenken muessen, welche Rolle die Bayerische Staatsoper zwischen 1937 und 1944 tatsaechlich im Propagandakonzept der Nationalsozialisten spielte.

Im Zentrum des Symposions stand eine ganztaegige Arbeitssitzung im Historicum der LMU, in welcher Wissenschaftler und Doktoranden beider Institute quasi die Probe aufs Exempel machten: Welche Strategien der Forschungspraxis beider Disziplinen bieten sich an, welche methodischen Ansaetze der beiden Faecher passen ueberhaupt zusammen, welche Forschungsfelder der zwei Fachkulturen ergaenzen sich - das waren die Fragen. Zu diesem Zweck wurden fuer die Referate der Arbeitssitzung sechs Themen ausgewaehlt, ueber die Vertreter der Bayerischen Geschichte und der Theaterwissenschaft aus verschiedenen Perspektiven gemeinsam referierten.

Konzentriert auf das Spannungsverhaeltnis von Politik, Kunst und Theater der Max-Emanuel-Zeit vor und nach 1700, exponierte der Historiker Alois Schmidt in einer einfuehrenden Moderation die grundlegende Frage, wie Kunst und Theater zur Kreation und Festigung jener nobilitas beitrugen, in welcher der absolutistische Fuerstenstaat sein hoechstes Ideal erblickte. Dass dabei die Ausuebung fuerstlicher Macht und Repraesentation als Verschoenerung und Idealisierung, und das heisst: als perfekte Illusion erlebt werden sollte, dies praegt auch die besondere Polaritaet zwischen barocker Kultur und den politischen Zielsetzungen im Kurfuerstenstaat Bayern, speziell den wechselvollen Beziehungen zu Frankreich und dem Hause Habsburg. "Ars et Mars. Kunst und Politik am Hofe Kurfuerst Max Emanuels" - unter diesem Titel referierten Christina Schulze und Alexander Pointner - erwies sich dabei als treffendes Schlagwort fuer den Muenchner Hof des fruehen 18. Jahrhunderts, der seine Aussenpolitik nach dem verlorenen Spanischen Erbolgekrieg (1702- 1714) mit der Vermaehlung des Kurprinzen Karl Albrecht und der Kaisertochter Maria Amalia im Herbst 1722 neu ausrichtete. Obwohl man in Wien vertraglich sicherstellte, dass keinerlei Ansprueche des kurbayerischen Thronfolgerpaares bezueglich einer habsburgischen Erbfolge entstanden, demonstrierten das zeremonielle Gepraenge und die pompoese theatrale Ueberkleidung der Festlichkeiten unverhohlen den Macht und Erbanspruch des Muenchner Hofes. Das Referat gab dabei zum ersten Mal einen detaillierten Einblick in den Festablauf der Hochzeitsfeierlichkeiten mit ihren zahlreichen Veranstaltungen, einem prunkvollen Festzug, Baellen, Jagden, Ausfluegen und Festmessen sowie mehreren Auffuehrungen von zwei italienischen Festopern, einer Pastorale und anderen theatralen Attraktionen inner und ausserhalb Muenchens. Aus der Sicht der Theatergeschichte, darauf wies die Referentin Schulze hin, waere die Oper als die vorherrschende Gattung des barocken Repraesentationstheaters auch in den umfassenden Rahmen solcher akribisch geplanten und inszenierten Festlichkeiten zu stellen. Vor allem aber gilt es, ueber den Bestand bereits erfasster Quellen hinaus, also jene Quellen, die bisher von der theaterwissenschaftlichen Forschung noch nicht beruecksichtigt wurden, wie auch die zahlreichen Libretti jener Zeit, die wertvolle Informationen zur Auffuehrungsgeschichte enthalten, systematisch auszuwerten. Ebenso ist es notwendig, ueber die Grenzen Muenchens hinweg durch vergleichende Methoden praezise Einsichten in Zusammenhaenge mit den europaeischen Zentren der italienischen Hofoper um 1700 zu gewinnen.

Waehrend die Theatergeschichte des bayerischen Absolutismus im fruehen 18. Jahrhunderts noch Forschungsluecken aufweist, ist die Rezeption bayerischer Geschichte im Schauspiel der Max-Joseph-Zeit wie auch die Geschichte ihres Scheiterns auf der Buehne des Nationaltheaters (1818 eroeffnet) bisher voellig unerforscht. Gleichzeitig faellt auf, so Robert Braunmueller, der Karl Borromaeus Murrs Vortrag Bayerische Geschichte auf der Buehne des Nationaltheaters Max I. Joseph mit einem Referat ueber den Spielplan des Muenchner Nationaltheaters zur Zeit seiner Eroeffnung ergaenzte, dass eine Geschichte des Schauspiels ab 1800 bis weit nach 1850 gaenzlich fehlt. Auch das Musiktheater wurde bisher nur an den repertoirebildenden Bestandteilen des Spielplans gemessen - ein konzeptionelles Problem der aelteren Theatergeschichtsschreibung, das die Forschung zu loesen hat. Moegen auch die Indizien fuer die systemstabilisierende Funktion von Theater nicht zu uebersehen sein, das Nationaltheater befriedigte vorwiegend ein weit gefaechertes Unterhaltungsbeduerfnis: Mehr als die Haelfte der Auffuehrungen waren Komoedien.

Selbst das bayrischpatriotische Geschichtsdrama, eng mit dem Nationaltheatergedanken des spaeten 18. Jahrhunderts sowie mit dem Bau des neuen Hof und Nationaltheaters unter Max Joseph verbunden, hatte in der Spielplangestaltung des Hof und Nationaltheaters keinen nennenswerten Stellenwert. So scheiterte auch das ambitionierte Projekt eines Wettbewerbs fuer bayerische Geschichtsdramen, der 1817 zur Eroeffnung des Nationaltheaters ausgeschrieben wurde. Aufschlussreich, so Murr, fuer das politische Klima sind die Bewertungen der Jury. Ein Jahr, nachdem Bayern das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl abgeschlossen hatte, mussten die Preisrichter bestimmte Ruecksichten nehmen. Und auch die so sehr auf Subordination angelegte Herrschaftsordnung des fruehen 19. Jahrhunderts erwies sich fuer das Projekt als ein Politikum ersten Ranges. Es zeigt, wie sehr das Idealbild einer bayerischen Gesellschaft, das man sich vom Nationalschauspiel erhoffte, die politischen Spielraeume fuer eine geschichtsdramatische Produktion gleichzeitig einengte. Der Wettbewerb musste scheitern, da er die Bedingungen seines Misslingens bereits in sich trug. Insgesamt wird sich also die Forschung zur Theatergeschichte jener Zeit, will sie die notwendige Tiefenschaerfe und Differenzierung erreichen, nicht allein auf die kulturelle Funktion der Spielplanpolitik konzentrieren, sondern auch die postulierte Wirkung von Theater wie seine kommunikative Verflechtung mit Regierung, Koenig, Hof und Publikum untersuchen muessen.

Die Schwierigkeiten, welche die Geschichtsschreibung mit der nationalsozialistischen Epoche hat, spiegelt sich auch im Bereich der Theatergeschichte Muenchens. Ob und inwieweit Kategorien, nach welchen das Verhaeltnis von Theater und Politik zu bestimmen ist, auch fuer diesen Spezialfall Anwendung finden, versuchte das Referentenpaar Rainer Hartl und Michael Hermann in ihrem Vortrag ueber Muenchen als Nazi-Kunststadt zu klaeren. Der Werdegang Muenchens zu einer Kunststadt ersten Ranges in der zweiten Haelfte des 19. Jahrhunderts sowie die darauffolgende Niedergangsdebatte, die um die Jahrhundertwende einsetzte und in den 20er Jahren neu entflammte, spielte fuer nationalsozialistische Theater und Kunstpolitik insofern eine Rolle, als Hitler mit der Verleihung des Titels "Hauptstadt der Deutschen Kunst" an Muenchen eine drei Jahrzehnte waehrende Debatte zu beenden gedachte. Der reale Gehalt des neu zuerkannten Ranges blieb jedoch laut Hermann marginal. Bald musste das 1934 eingerichtete staedtische Kulturamt feststellen, dass die massgeblichen kunst- und kulturpolitischen Entscheidungen auf anderen, hoeheren politischen Ebenen getroffen wurden.

Insgesamt ist die Geschichte der Muenchner Theater in der Zeit des Nationalsozialismus hoechst unterschiedlich erforscht. Die Referenten erinnerten u.a. an das Muenchner Marionettentheater Juedischer Kuenstler, dessen Geschick seit seiner Gruendung im Jahr 1935 noch aufzuarbeiten waere. Von der Forschung relativ stiefmuetterlich behandelt ist bislang die Geschichte des Muenchner Volkstheaters im Dritten Reich, der damals drittgroessten Buehne. Ganz anders stellt sich die Forschungssituation im Hinblick auf das Gaertnerplatztheater dar. Die Grundlage fuer eine eingehendere Untersuchung dieses Theaters waehrend des Dritten Reiches ist bereits gelegt. Wichtige Aspekte wie etwa die Verhaeltnisse im Theater muessten anhand der Personalakten, die sich seit einigen Jahren im Bayerischen Hauptstaatsarchiv befinden, noch aufgearbeitet werden. Auch waere die Frage zu klaeren, welche Motive zur Verstaatlichung des Gaertnerplatztheaters fuehrten. Und schliesslich muesste die Spielplangestaltung (Tagesspielplaene) statistisch ausgewertet und untersucht werden. Des weiteren harren Programm und Spielplan des Deutschen Theaters, das in einer Festschrift von 1982 mit einem informativen Ueberblick gewuerdigt wurde, noch einer Auswertung, vor allem im Hinblick auf die Frage, inwieweit sich das Angebot von Spielplaenen aus der Zeit vor und nach dem Nationalsozialismus unterscheidet. Ganz eindeutig folgte dagegen die Spielplangestaltung der Muenchner Staatstheater bereits ab Februar 1933 den Vorgaben des Kampfbundes, der sich aus naheliegenden Gruenden mehr fuer das Schauspiel als fuer das Musiktheater interessierte. Doch auch ueber die Geschichte des Bayerischen Staatsschauspiels gibt es bis heute keine befriedigenden Untersuchungen. Fuer den Bereich der Staatsoper sowie fuer das Prinzregententheater liegen bereits Untersuchungen vor, ebenso eine Dokumentation der Auffuehrungen, die bereits am Institut fuer Theaterwissenschaft mittels einer Datenbank erfasst werden.

Wurde das Theater im Dritten Reich zur oeffentlichen Aufgabe erklaert, mit der Absicht eine umfassende Kontrolle und politische Selektion zu legitimieren, wobei man eine totale, staatlich gelenkte Spielplanueberwachung durch die zentrale Institution der Reichsdramaturgie anstrebte, so zeigt sich anhand der Geschichte der Muenchner Kammerspiele unter der Leitung von Otto Falckenberg, dass auch andere lokale Dienststellen in Muenchen (Muenchner Propagandaamt, Ministerium fuer Unterricht und Kultur, Stadt Muenchen und NS-Kulturgemeinde/Deutsche Buehne) versuchten, Einfluss zu nehmen. Wie die Buehne der Kammerspiele nach dem Machtwechsel weiterbestehen konnte, eroerterten Anja Radler und Ulrike Stoll in ihrem Doppelreferat "Otto Falckenberg - Widerstand auf der Buehne?"

Ausgewertet wurden zum einen saemtliche Inszenierungen Falckenbergs waehrend der Nazizeit, zum anderen versuchte man Ansaetze einer Analyse von Falckenbergs Regiebuechern, um der Frage nachzugehen, inwieweit ein Widerstand auf der Buehne zu jener Zeit ueberhaupt gelingen konnte. Schon die ersten Ergebnisse, so Ulrike Stoll, legen nahe, dass eine innere Emigration und der Rueckzug in die rein kuenstlerische Arbeit nicht gelingen konnte. Wer nicht emigrierte und eine fuehrende Position einnahm, agierte im politischen Feld der Machthaber, welchem sich eine so prominente Buehne wie die Kammerspiele nicht entziehen konnte. Freilich wird, so Anja Radler, ein Vergleich der Falckenberg-Inszenierung vor und nach 1933 ebenso eine Sichtung der Regiebuecher und Strichfassungen von Dramen notwendig sein, um eine weitere Differenzierung bezueglich der politischen oder ideologisch neutralen Funktion von Theater zwischen Anpassung und Widerstand in jener Zeit zu erreichen. Die Ausgangslage fuer weitere Forschungen stellt sich den Referentinnen Stoll und Radler insofern guenstig dar, als seit 1979 bereits eine ausfuehrliche Arbeit zur Geschichte der Muenchner Kammerspiele im Nationalsozialismus vorliegt. Doch ist bis heute noch keine wissenschaftliche Biographie ueber Otto Falckenberg verfasst worden. Eine solche Biographie, die persoenliche Lebensbedingungen des Portraetierten mit seinen kuenstlerischen Leistungen behutsam korreliert, ebenso eine Auswertung bislang nicht zugaenglicher Unterlagen aus Privatbesitz und vor allem des Falckenberg-Nachlasses im Theatermuseum koennte auch klaeren, welche Handlungsspielraeume sich Falckenberg als Regisseur und Intendanten ueberhaupt anboten.

Moeglichkeiten auszuloten, die das Projekt einer Muenchner Theatergeschichte fuer eine interdisziplinaere Zusammenarbeit anbieten koennte, suchten auch die Referenten Martin Ecker und Andreas Michler zum Thema: "Neuanfang oder Kontinuitaet im Muenchner Theater nach 1945?" In diesem Spannungsfeld stellen sich draengende Probleme einer kuenftigen Debatte: Welche Zaesuren lassen sich in der Entwicklung der Muenchner Theater nach 1945 ansetzen? Doch handelt es sich nicht allein um Probleme der Periodisierung; vielmehr sind, wie Michler betonte, Methoden zu finden, welche die Muenchner Theater zu Zeiten des Wiederaufbau und der Modernisierung nach 1945 in ihrer gesamtgesellschaftlichen Bedingtheit sowie in ihrer Wirkung auf die Gesellschaft erfassen und zugleich das kuenstlerische Phaenomen Theater in all seinen Dimensionen als Institution sowie als Ort kuenstlerischer Konzeption, Praxis und Rezeption erschliessen koennen. Dass dabei Intentionen und Wirklichkeit nicht uebereinstimmen muessen, erschwert die Forschungssituation bezueglich der Frage nach dem Stellenwert der Theaterpolitik, so wie sie sich im Gesamtkonzept einer Entnazifizierung und Reeducation innerhalb der amerikanischen Besatzungspolitik sowie in der Zeit von 1949 bis 1952 darstellt, als OMGUS durch die High Kommission for Germany abgeloest und das Demokratisierungsprogramm abgeschlossen wurden. Welche Zugriffsmoeglichkeiten Theater und Geschichtswissenschaft dabei anbieten, wie sie miteinander korreliert werden koennen, veranschaulichten und diskutierten die Referenten Ecker und Michler anhand von zwei Beispielen aus der Muenchner Theatergeschichte unmittelbar nach 1945: zum einen mit der Kammerspiel-Inszenierung eines Zeitstuecks (Spielzeit 1945/46), "Professor Mamlock" von Friedrich Wolf, das fuer einen Spielplan der Reeducation praedestiniert schien, doch von einem Publikum rezipiert wurde, dessen mentale Verfassung sich als resistent erwies. Zum anderen liess sich anhand der Berufung von Alois Johannes Lippl, der 1948 Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels wurde, exemplarisch zeigen, wie stark die Entwicklung der Muenchner Theater nach 1945 auch von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, so von den ersten demokratischen Landtagswahlen nach 1945 bestimmt wurde. Zweifellos setzte die dezidiert katholisch-konservative Wendung bayerischer Kulturpolitik unter Minister Hundhammer eine deutliche Zaesur im Rahmen einer Theaterpolitik, die sich nicht mehr - wie noch im Demokratisierungsprogramm der Amerikaner - in der Absicht einer politisch moralischen Erziehung an das Publikum wandte, sondern an der humanistischen Tradition eines weitgehend unpolitischen Theaters anknuepfte.

Eine ganz andere Perspektive eroeffnete sich waehrend der Arbeitssitzung mit der Frage, in welcher Beziehung die Muenchner studentische Protestbewegung und ausserparlamentarische Opposition der 68er-Zeit zum Theater standen, worueber Michael Gissenwehrer und Stefan Hemler referierten. Ihr beiden Vortraege zum Thema "Protestbewegung und Theater um 1968" zeigten, dass Muenchen auch in dieser Hinsicht und nicht allein auf dem Sektor politischer Protestaktionen keineswegs ein unbedeutender Nebenschauplatz war. Ueber die theatralen Wirkungsfelder des Protestes referierte zunaechst Stefan Hemler. Die 68er-Bewegung konzentrierten sich zum einen auf Protestaktionen im Theater, in den Kammerspielen, im Residenztheater und im Nationaltheater, meist organisiert als Go- ins. Zum anderen gruendete die studentische Linke eigene Theatergruppen wie etwa das sozialistische Strassentheater "Politisches Forum (POFO)" oder die Agit-Gruppe, aus welcher 1970 das DKP-nahe "theater k" entstand und sich spaeter als feste Buehne etablierte. Daneben organisierten sich noch zahlreiche andere freie Gruppen und Privattheater (z. B. "Theater in der Kreide") oder Kleintheater, so z.B. die Schauspielergruppe um Rainer Werner Fassbinder (Actiontheater/antiteater 1967-69), das Moderne Theater (1966), das experimentelle Theater proT u.a. mehr, mit der Folge, dass nach ersten Anfaengen dieser neuen Theaterszene in den 70er Jahren ein regelrechter "Kleintheater- Boom" in Muenchen einsetzte. Zu den Wirkungsfeldern gehoerten aber auch Protestformen, die theatrale Aktionen, wie etwa das im Juli 1969 durchgefuehrte Franz-Gans-Happening am Brunnen vor der Universitaet, im "antiautoritaeren" Stil inszenierten. Ueberblickt man die gesamte Entwicklung waehrend jener Zeit, kristallisieren sich einige Problemfelder heraus, so etwa die Frage nach der Beziehung der neuen Kleintheater und ihrer Vorgeschichte zur 68er-Bewegung, des weiteren die dringliche Frage, inwieweit die kuenstlerische Avantgarde jener Zeit die Formen des studentischen Muenchner Protesttheaters mitpraegte und wie die politisierte Muenchner Theaterszene als ein besonders sensibler Bereich fuer gesellschaftliche Veraenderungen auf das politische Selbstverstaendnis der Avantgarde zurueckwirkte. Die genauere Zuordnung von Ursachen und Folgen bedarf, so Hemler, noch einer systematischen Recherche bereits archivierter oder im Privatbesitz befindlicher Quellen ebenso wie einer Befragung von Zeitzeugen.

Als moegliche Arbeitsbasis fuer Historiker und Theaterwissenschaftler schlug dann Michael Gissenwehrer in seinem Referatsteil ein Modell vor, das Theater sowohl als kulturelles System wie auch als Regelwerk mehrerer ineinandergreifender und auch sich widersprechender Kodes unterschiedlicher Provenienz begreift, die erweitert, durchbrochen oder neu definiert werden koennen.

Wie das Muenchner Theater und seine Geschichte einen Spiegel kulturellen, sozialen und politischen Lebens der Stadt bietet, so erlaubt es ebenso tiefe Einblicke in die mentale Verfassung frueherer Generationen und Jahrhunderte. Das ist das Spannende an Theatergeschichte, erklaerte Juergen Schlaeder, der zusammen mit Barbara Zuber waehrend der abschliessenden Matinee ueber "Die Inszenierung des Lebens. Zum Verhaeltnis von Theater, Politik und Gesellschaft um 1650 und um 1900" referierte. Es war ein Experiment, zwei verschiedene Muenchner Theater und Festkulturen, aus der Mitte des 17. und aus der Zeit um 1900 zu konfrontieren: Hier das kurfuerstliche Repraesentationstheater in Gestalt einer Oper, eines Turnierdramas und eines Feuerwerksdramas, die im Rahmen eines barocken Festes und unter dem Generaltitel "Applausus festivi" im Jahr 1662 aufgefuehrt wurden. Dort eine Theaterkultur der Moderne im Muenchner und Schwabinger Kuenstlermilieu um 1900, das im Fasching wie auf der Buehne nach einer grenzgaengerischen Theatralitaet suchte und sich dabei auch selbst in Abgrenzung zur buergerlichen Gesellschaft inszenierte. Kontraste also, die fuer zwei voellig verschiedene Theaterkulturen stehen und zugleich aus voellig verschiedenen gesellschaftlichen wie politischen Perspektiven zu betrachten sind. Untermauerte Kurfuerst Ferdinand Maria in jenem oeffentlichen Kulturspektakel, inszeniert anlaesslich der Geburt des Thronfolgers Max Emanuel, den bayerischen Herrschaftsanspruch im Reich, so entstand um 1900 - im Protest gegenueber dem politischen Druck wachsender Zensurmassnahmen - eine Szene neuer Kleinkunstbuehnen inmitten eines Kuenstlermilieus, das den Fasching nicht als leeres Vergnuegen betrachtete, sondern als festliche, grenzueberschreitende Utopie eines anderen Lebens. Freilich: Die politischen Zielsetzungen der Applausus festivi von 1662 liessen sich nicht realisieren. Wohl aber hinterliessen sie Spuren in Europa, vor allem in Frankreich wie in anderen hoefischen Zentren. Und ein spaeter buergerlicher Nachklang dieser barocken Festkultur laesst sich noch in jenen beruehmten Inszenierungen von Kuenstler-Kostuemfesten aufspueren, mit welchen sich Muenchen als Kunststadt vor und nach 1900 feierte.

Man koennte aus den gewonnenen Einsichten des dreitaegigen Symposions mit Juergen Schlaeder den kuehnen Schluss ziehen: Wenn wir Theatergeschichte betreiben, erforschen und aufschreiben, dann betreiben wir unsere eigene Geschichte. Anders formuliert: Theater und historisches Bewusstsein, wie Gerard Mortier, der Intendant und kuenstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele als Gast der Matinee in seinem abschliessenden Vortrag noch einmal betonte, sind aufeinander angewiesen. Nach einer kursorischen Reflexion ueber einschlaegige Begriffe wie Tradition, Geschichte und Wandlung kultureller Rahmenbedingungen formulierte Mortier die provokante These, er brauche das historische Bewusstsein, um die Historie von der heutigen Theaterbuehne verbannen zu koennen. Die These praezisiert den zumindest fuer die Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts seit Entstehen des sogenannten Regietheaters evidenten Unterschied zwischen Theaterpraxis und der Geschichtswissenschaft vom Theater: Im Unterschied zur Historiographie rekonstruiert das Theater heute keine vergangene Lebenswirklichkeit. Aber Mortiers These offenbart mit derselben Praezision: Praxis und Wissenschaft beduerfen einander als Erkenntnisquellen, um ihr je spezifisches Anliegen zur Geltung bringen zu koennen.

Dr. Barbara Zuber, Institut fuer Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universitaet Muenchen


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Stefan Hemler" <ue303cl@mail.lrz-muenchen.de>
Subject: Tagungsbericht "Muenchner Theatergeschichte 1600-2000"
Date: 24.6.2000


Copyright ©1996-2002, H-Soz-u-Kult · Humanities · Sozial- und Kulturgeschichte

Tagungsberichte