Die Nationen und ihre Grenzen: Identitaetenwandel in Oberschlesien in der Neuzeit
Tagung des Herder-Instituts in Zusammenarbeit mit dem Zentrum fuer Vergleichende Geschichte Europas, Berlin Marburg, 27.bis 28. Oktober 2000
Ein Tagungsbericht von Kai Struve und Philipp Ther
Die Bedeutung und das Verhaeltnis regionaler und nationaler Identitaeten von der Fruehen Neuzeit bis in die Gegenwart standen im Mittelpunkt der Tagung "Die Nationen und ihre Grenzen: Identitaetenwandel in Oberschlesien in der Neuzeit", die vom Herder-Institut in Zusammenarbeit mit dem Zentrum fuer Vergleichende Geschichte Europas in Berlin veranstaltet und von Philipp Ther (Berlin) und Kai Struve (Marburg) konzipiert worden war. Oberschlesien war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine derjenigen Regionen, in denen die deutschen und polnischen und vorwiegend im oesterreichischen Teil Schlesiens auch die tschechischen Versuche, die Bevoelkerung Oberschlesiens in die jeweiligen Nationen zu integrieren, konflikthaft aufeinander stiessen. Zugleich blieben aber grosse Teile der Bevoelkerung diesen nationalen Bestrebungen gegenueber relativ distanziert. In krisenhaften Zeiten, wie nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, formierte sich auf dieser Grundlage eine starke Regionalbewegung, die Autonomie oder gar Selbstaendigkeit fuer Oberschlesien forderte. Die Region wurde allerdings 1922 nach einem Plebiszit geteilt, um die konkurrierenden und mit Gewalt ausgefochtenen territorialen Ansprueche der Nachbarstaaten Deutschland, Polen und der Tschechoslowakei auszugleichen. Ende der dreissiger Jahre spitzte sich der deutsch-polnisch-tschechische Konflikt weiter zu und muendete in der "ethnischen Saeuberung" Oberschlesiens, wie sie durch das NS-Regime waehrend des Zweiten Weltkriegs begonnen und dann in umgekehrter Richtung durch die Vertreibung der Deutschen nach Kriegsende fortgesetzt wurde. Jedoch verblieb hier im Unterschied zu anderen ehemaligen deutschen Ostgebieten (mit Ausnahme des suedlichen Ostpreussen) ein relativ grosser Teil der Bevoelkerung, der von den neuen Machthabern als polnisch anerkannt wurde. Tatsaechlich waren diese Menschen aber vielfaeltigen Repressionen und Benachteiligungen ausgesetzt, die dazu fuehrten, dass viele von ihnen, sofern sie sich nicht auch schon vorher als Deutsche identifiziert hatten, dies in der Volksrepublik Polen zu tun begannen. Nach der demokratischen Wende von 1989 organisierten sie sich als "deutsche Minderheit". Der Begriff der "Grenzen" im Titel der Tagung sollte zweierlei Fragerichtungen andeuten.
Zum einen ging es darum, dass die Geschichte dieser Region an den Grenzen der Nationen und Nationalstaaten in den letzten eineinhalb Jahrhunderten von den nationalen Auseinandersetzungen mit meist negativen, in der ersten Haelfte des 20. Jahrhunderts oft gewaltsamen und blutigen Folgen zutiefst gepraegt wurde. Zum anderen ging es aber auch um die Frage nach den "Grenzen" der Nationalisierung der oberschlesischen Bevoelkerung. Welche Bedeutung hatten nationale Identitaeten? Wie wandelten sie sich und wie war ihr Verhaeltnis zu anderen, nichtnationalen Identitaeten? Welche Rolle spielten Sprache, Religion und soziale Lage und welche Bedeutung hatten und haben regionale oder lokale Bezuege? Diesen Fragen versuchte die Tagung fuer die Region Oberschlesien in einem weiten Zeithorizont unter Einbeziehung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen von der Fruehen Neuzeit bis in die Gegenwart nachzugehen. Dabei ging es nicht nur um die Geschichte Oberschlesiens allein, sondern auch darum, inwieweit sich aus ihr neue Zugaenge und Herangehensweise fuer andere Grenzregionen in Europa ergeben. Zudem wurde angestrebt, verschiedene Gebiete innerhalb Oberschlesiens, das durch territoriale Veraenderungen wiederholt geteilt wurde und daher eine besonders vielfaeltige ethnische, kulturelle und politische Binnenstruktur aufweist, zu vergleichen. Dieser kleinraeumige Vergleich erwies sich gerade fuer die Bearbeitung einer komplexen Problematik wie der regionaler und nationaler Identitaeten als fruchtbar. Fuer die Tagung wurde dabei von einem postmodernen Verstaendnis dieses Begriffs ausgegangen, wonach Identitaeten keine "anthropologische Grundkonstante" sind, sondern sich durch die subjektive Zuordnung von Individuen und Gruppen zu Identitaetsangeboten kontextgebunden veraendern.
Am Anfang der Tagung stand ein Referat von Karin Friedrich (London) ueber "Nationsbewusstsein in Schlesien in der Fruehen Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts", das vor allem am Beispiel der schlesischen Historiographie vom 16.-18. Jahrhundert der Frage nachging, inwieweit es in der Fruehen Neuzeit ein schlesisches Nationsbewusstsein gegeben hat und welches seine Traegergruppen waren. Die Referentin betonte die Bedeutung staedtischer Kommunikationszentren und des politisch aktiven Bildungsbuergertums gegenueber Thesen, dass das fruehneuzeitliche Nationsbewusstsein in Ostmitteleuropa weitgehend an den Adel gebunden gewesen sei. Sie schloss mit Ueberlegungen zur Verdraengung des schlesischen Nationsbewusstseins durch zunehmende Identifikationen mit Preussen nach der Annektion Schlesiens durch die Hohenzollernmonarchie.
Als naechstes behandelte Tomasz Kamusella (Opole/Oppeln) in einem Beitrag unter dem Titel "Language and the Construction of Identity in Upper Silesia During the Long 19th Century" das Verhaeltnis von Umgangssprache, Sprachwechsel und nationalen Identitaeten sowie die Bedeutung der preussischen Sprachenpolitik fuer die nationalen Identifikationsprozesse. Er beschrieb darin fuer das 19. Jahrhundert auch verschiedene regionale Gruppen wie die Schlonsaken, veraechtlich auch als "Wasserpolen" bezeichnet, im preussischen und oesterreichischen Schlesien oder die Morawzen in den suedlichen Teilen der Kreise Ratibor und Leobschuetz, die nicht ohne weiteres fuer die eine oder andere Nation beansprucht werden koennen, wie es die national gepraegten Historiographien lange Zeit getan haben. Ihre Geschichte charakterisierte der Referent als "hidden history", die es nun ebenfalls zu schreiben gelte.
Den komplizierten ethnischen und nationalen Verhaeltnissen im oesterreichischen Schlesien im 19. Jahrhundert war der Beitrag von Dan Gawrecki (Opava/Troppau) gewidmet. Der Referent ging darin der Entstehung und Entwicklung der deutschen, polnischen und tschechischen Nationalbewegung sowie der schlonsakischen Bewegung im oesterreichischen Kronland Schlesien bis zum Ersten Weltkrieg nach. Hier waren die Verhaeltnisse in mancher Hinsicht noch komplizierter als im preussischen Teil. Waehrend die slawischsprachigen, evangelischen Bewohner des Teschener Schlesien eher zur polnischen Seite neigten, obgleich polnisch=katholisch ein starker Zug des gaengigen Konzepts polnischer nationaler Identitaet war, tendierten die Katholiken in nationaler Hinsicht zur tschechischen Seite. Die Schlonsaken, die sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als eigene regionale Gruppe unter der Fuehrung Josef Kozdons auch politisch organisierten, brachten ihre Publikationen in polnischer Sprache heraus, standen aber in Opposition zur polnischen Nationalbewegung und waren loyal zur Habsburgermonarchie. Nach dem Ersten Weltkrieg kooperierten sie eng mit den Deutschen im Teschener Schlesien.
Przemyslaw Hauser (Poznan/Posen) schilderte mit einem alltagsgeschichtlichen Ansatz die nationalen Verhaeltnisse nach der Teilung Oberschlesiens 1921 im deutschen und im polnischen Teil. Er zeigte anhand zahlreicher Beispiele, dass die Menschen ihr Leben oft nicht von den nationalen Konfliktverhaeltnissen beherrschen liessen, sondern Formen des Zusammenlebens bewahrten, die aus nationaler Sicht skandaloes waren. Es zeigte sich, dass grosse Teile der Bevoelkerung den nationalen Verhaltensmustern nicht folgten, sondern im Alltag zahlreiche Ambivalenzen und quer zu den nationalen Grenzen stehende Bindungen bestehen blieben. Allerdings gerieten diese unter einen zunehmend staerkeren Druck von seiten der nationalisierenden Staaten. Der Frage nationaler Identitaeten im ehemaligen oesterreichischen Schlesien in der Zwischenkriegszeit, dessen groesster Teil nun in der Tschechoslowakei lag, war der Beitrag von Kevin Hannan (Dallas) gewidmet. Auch er zeigte, dass nationale Identitaeten auch in dieser Zeit noch sehr beweglich blieben. Die regionale Bewegung unter der Fuehrung Kozdons, der selbst ueber fuenfzehn Jahre als Buergermeister des tschechischen Teils von Teschen wirkte, blieb hier von grosser Bedeutung.
Bernard Linek (Opole/Oppeln) untersuchte in einem Vortrag unter dem Titel "Deutsche und polnische Nationalitaetenpolitik in Oberschlesien 1922-1989" die Politik der beiden Staaten in einer vergleichenden Perspektive. Waehrend es in diesem Beitrag um die Rolle der Staaten, den gleichen oder unterschiedlichen Grundmustern ihrer Politik ging, betrachtete Philipp Ther (Berlin) im Anschluss daran den Wandel von Identitaeten der oberschlesischen Bevoelkerung unter dem Einfluss der Erfahrungen, die sie u.a. mit der staatlichen Politik, aber auch in der Konfrontation mit den polnischen Zuwanderern seit 1945 machten.
Mit dem polnischen Teil Schlesiens in der Zeit der kommunistischen Herrschaft beschaeftigte sich auch der Beitrag Franciszek Jonderkos (Opole/Oppeln) unter der Ueberschrift "Inter-ethnische Beziehungen in Oberschlesien 1945-1989". Nach der Flucht und Vertreibung eines Teils der Bewohner Oberschlesiens trat nun das Problem des Verhaeltnisses zwischen der "einheimischen Bevoelkerung", d. h. denjenigen Menschen, die von den neuen Machthabern als polnisch anerkannt worden waren, und den Zuwanderern aus den polnischen Zentralgebieten und den sog. "Repatrianten" aus den nun der Sowjetunion angeschlossenen polnischen Ostgebieten in den Vordergrund, die in die neuen West- und Nordgebiete deportiert worden waren. Besonders in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg existierten hier grosse Spannungen. Deutlich unterschieden blieben beide Gruppen jedoch die gesamte Zeit der Volksrepublik. Nach 1989 organisierte sich die "einheimische Bevoelkerung" als deutsche Minderheit. Soweit sie sich nicht auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg mit Deutschland identifiziert hatte, war als Folge der ihnen in Polen gegenueber betriebenen Politik und des spannungsreichen Verhaeltnisses zu den Zuwanderern die Identifikation mit Deutschland gewachsen.
Den Entwicklungen seit 1989 im Oppelner Schlesien war der Beitrag von Danuta Berlinska (Opole/Oppeln) "From a German to a Silesian Identity: The Indigenous Population in Opole Silesia since 1989" gewidmet. Darin ging es Vor allem um die Entstehung der Organisationen der deutschen Minderheit und deren Taetigkeit sowie die Reaktionen der polnischen Oeffentlichkeit und des Staates auf das Hervortreten einer Gruppe, deren Existenz vor 1989 geleugnet worden war. Eine weitere Frage, die von der Referentin diskutiert wurde, war diejenige nach den weiteren Entwicklungsperspektiven fuer die deutsche Minderheit. Wird sich im Oppelner Schlesien tatsaechlich eine deutsche Bevoelkerungsgruppe dauerhaft etablieren oder wird sie aufgrund nun freiwilliger Assimilierungsprozesse auf laengere Sicht verschwinden und vielleicht nur als starke regionale Identitaet im Oppelner Schlesien zurueckbleiben? Schon jetzt gibt es Tendenzen, dass die politische Organisation der deutschen Minderheit eher die Rolle einer Regionalpartei uebernimmt, die sich als Interessensvertretung aller Einwohner dieses Gebiets versteht.
Nur schriftlich lag ein Beitrag von Kazimiera W¢dz und Jacek W¢dz (Katowice/Kattowitz) ueber regionale Identitaeten und ihre politische Bedeutung seit 1989 im oberschlesischen Industriegebiet vor. Die Verfasser skizzierten darin den Konflikt zwischen der starken regionalen Identitaet im Industriegebiet, die sich politisch nicht nur als deutsche Minderheit, sondern auch als "schlesisch" artikuliert, und der vorherrschenden einheitlichen Vorstellung polnischer nationaler Identitaet, die keinen Platz fuer starke Regionalismen aufweist. Zentralismus bestimme auch den polnischen Staatsaufbau und die Warschauer Politik, die das Potential regionaler Identitaeten fuer den Transformationsprozess nicht erkenne.
Die Abschlussdiskussion der Tagung bestimmten vor allem drei Themen. Zum einen war dies die Frage nach dem Verhaeltnis von Politisierung und Nationalisierung der Bevoelkerung Oberschlesiens. Signifikant für Oberschlesien koennte - auch im Vergleich mit benachbarten Regionen wie Galizien - sein, dass diese beiden Prozesse hier nicht zusammenfielen. Das politisch dominierende, katholische Zentrum und auch die Sozialdemokratie verhielten sich eher anational und versuchten die verschiedenen Gruppen auf der Ebene der gemeinsamen Religion oder der geteilten Klassenzugehoerigkeit und nicht der Nation zu organisieren. Dieses war zweifellos auch eng mit der hier existierenden starken regionalen, oberschlesischen Identitaet verbunden. Die zweite Frage, die hier thematisiert wurde, war diejenige, wie die Fluessigkeit der nationalen Identitaeten der Oberschlesier zu interpretieren ist. Sind sie vor allem als Opfer der aeusseren Politik zu betrachten? An vielen Stellen zeigten (und zeigen) sie aber auch einen durchaus kreativen, von ihren eigenen Interessen geleiteten Umgang mit den verschiedenen Identitaetsangeboten. Der dritte Diskussionsstrang der Abschlussdiskussion betraf die Frage nach der gegenwaertigen Bedeutung des Begriffs "Oberschlesier/Slazak" an. Dieser Begriff ist in Oberschlesien an die "autochthone Bevoelkerung" gebunden geblieben ist, waehrend die nach 1945 Zugewanderten oder ihre Nachkommen diesen Begriff fuer sich nicht verwenden. Damit unterscheidet sich Oberschlesien von anderen ehemals deutschen Gebieten, in denen auch die nach 1945 dort angesiedelten Polen sich zunehmend mehr mit der regionalen Geschichte identifizieren und entsprechende regionale Selbstbezeichnungen uebernehmen. Die Veroeffentlichung der Beitraege in einem Tagungsband ist geplant.
Kai Struve
struve@mailer.uni-marburg.de
Philipp Ther
ther@zedat.fu-berlin.de
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