Tagung am 10./11.12.1999 im Zentrum fuer Vergleichende Geschichte Europas,
Berlin
Organisiert von Lutz Haefner, Guido Hausmann und Manfred Hettling
1. Die Organisatoren der Tagung Lutz Haefner (Bielefeld), Guido Hausmann (Koeln) und Manfred Hettling (Bielefeld) hatten in einem Exposé mit der leitenden Fragestellung nach Vergesellschaftungsformen in oeffentlichen und privaten Raeumen und ihren medialen Voraussetzungen einen breiten Rahmen fuer Vergleichsmoeglichkeiten zwischen Westeuropa/Deutschland und dem Zarenreich bzw. der Sowjetunion abgesteckt. Dabei sollte die Aufmerksamkeit auf der Tagung, die im Zentrum fuer Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE) ausgerichtet und von der Fritz-Thyssen-Stiftung finanziell gefoerdert wurde, genauer auf die Formen gesellschaftlicher Assoziierung und Geselligkeit gerichtet werden, die als konstitutive Elemente einer modernen Gesellschaft verstanden wurden. Die Formen dieser Vergesellschaftungsprozesse sollten den Blick auf die Binnenstrukturen der zu vergleichenden Gesellschaften und ihre gesellschaftlichen Handlungs- bzw. oeffentlichen Raeume oeffnen, ohne die sozialen Traegerschichten aus dem Blick zu verlieren, aber auch ohne sie ins Zentrum der Analyse zu ruecken (notabene das westeuropaeische Buergertum und seine russischen Kryptoformen). Drei Ebenen wurden unterschieden, die auch den Tagungsverlauf strukturierten: a) Entfaltungsmoeglichkeiten im legalen oeffentlichen Raum wie etwa im Verein, b) informelle Geselligkeits praktiken sowie c) die 'staatliche' Oeffentlichkeit. Sie wurden hinsichtlich ihrer formulierten Zielutopien, verfolgten Handlungsstrategien sowie ihrer Praege- und Gestaltungskraft befragt, um so ein Bedingungsgefuege fuer die Umwandlung privater Ressourcen (Personengruppen mit gleichen Interessen, Netzwerke, ueberlokale Kontakte) zu sozialen Handlungseinheiten mit oeffentlicher Wirksamkeit zu erkennen. Hinzugenommen wurde ausserdem die Frage nach den jeweiligen medialen Bedingungen fuer das 'Tryptychon' aus Geselligkeit, Oeffentlichkeit und Zivilgesellschaft.
Manfred Hettling (Bielefeld) schlug zu Beginn und zur Praezision dieses Ansatzes einen an Kant anknuepfenden idealtypischen Begriff von publizistischer und moderner Oeffentlichkeit vor. Dieser sei gekennzeichnet durch die folgende Kriterien: (1) freie, zugangs- und ergebnisoffene Kritik, (2) fuer jeden ungehinderte Moeglichkeit zur Kritik nur in diesem Teilbereich der Gesellschaft - was funktional differenzierte gesellschaftliche Rollen zeitigt, (3) gesellige Praxis in spezifischen Binnenraeumen, (4) die personale und mediale Verbindung und Vernetzung dieser Binnenraeume. Die Diskussion fragte nach moeglichen Ergaenzungen dieses Verstaendnisses von Oeffentlichkeit (Juergen Kocka (Berlin) schlug vor, Verstaendigung als komplementaer zur Kritik zu verstehen; Hartmut Kaelble (Berlin) plaedierte dafuer, das Verhaeltnis von Oeffentlichkeit und politischer Macht intensiver zu reflektieren). Im Verlauf der Tagung wurde immer wieder darueber diskutiert, inwiefern eine derart definierte 'Oeffentlichkeit' als Aequivalent fuer Zivilgesellschaft untersucht werden koenne, oder ob zusaetzlich noch politische Institutionen analysiert werden muessten, durch welche gesellschaftliche Selbstorganisation im Medium einer kritischen Oeffentlichkeit erst Zivilgesellschaft hervorbringt.
Im weiteren Verlauf der Tagung erwies sich der innere Zusammenhang der genannten und bei Kant verbundenen Einzelphaenomene (Geselligkeit, Oeffentlichkeit, Medien, Zivilgesellschaft) als groesste Herausforderung. Denn ohne Rekurs auf das Buergertum als sozialer Traeger etwa eines spezifischen, historisch verortbaren Oeffentlichkeitsverstaendnisses wurde der Zusammenhang zwischen den Einzelphaenomenen teilweise eher vorausgesetzt oder spekulativ und unklar mitgedacht, teilweise aber auch offen abgelehnt.
2. Die beiden Beitraege ueber die Veraenderungen der medialen Bedingungen von Oeffentlichkeit in Westeuropa vom 18. bis ins 20. Jahrhundert von Philipp Sarasin (Basel) und Bernd Weisbrod (Goettingen) stellten den formbildenden Charakter, den Wandel der Grenzen und der Exklusionsmechanismen der Oeffentlichkeit durch die Medien in den Vordergrund. Prononciert bestritten sie einen inneren Zusammenhang zwischen den medialen Formen und Prozessen zivilgesellschaftlicher Entwicklung. Vor allem seien Geselligkeitspraktiken klar von der massenmedialen Gestalt von Oeffentlichkeit und Zivilgesellschaft zu trennen. Manfred Hildermeier (Goettingen) entwarf in seinem einleitenden Vortrag - in Wiederanknuepfung an Deutungen der fuenfziger Jahre - ein recht positives, optimistisches Bild des ausgehenden Zarenreiches, charakterisierte es durch entwickelte 'buergerliche Kommunikationsformen' und eine 'politisch-publizistische Oeffentlichkeit', die sich allerdings nur im lokalen vorpolitischen Raum bis zu einem 'Gegenstaat' entwickeln konnte.
Guido Hausmann (Koeln) zeigte in seinem Beitrag, wie der Aufstieg der Massenpresse als zentraler Veraenderung medialer Bedingungen von Oeffentlichkeit im ausgehenden Zarenreich sowohl die Dominanz des traditionellen publizistisch-politischen Oeffentlichkeitsverstaendnisses der oppositionellen Intelligenz als auch die staatliche Zensur aufzubrechen begann. Zwar bildete sich eine plurale Oeffentlichkeit heraus. Sie wurde aber haeufig als eine diffuse, disparate und ungesicherte begriffen. Juri Muraov (Berlin) setzte in seinem Referat ueber die sozialistische Oeffentlichkeit der 1930er Jahre beim Doppelcharakter der Schrift an, der einmal die Entdeckung der privaten und persoenlichen Sphaere ermoegliche und zum anderen die oeffentliche Sphaere erzwinge. Der Schreibakt sei in Russland immer wieder als ein kollektiver Akt dargestellt worden. Im intermedialen Wechselspiel zwischen neuen und alten Medien wurde in der sowjetischen Kultur der 1930er Jahre eine spezifische, auf Reduktion traditioneller Mehrdeutigkeit angelegte totale/totalitaere Oeffentlichkeit herausgebildet.
3. Im dritten Teil der Tagung standen die Entfaltungsmoeglichkeiten der legalen Vereinigungen im Zentrum. Die Referate bezogen sich fast ausschliesslich auf das 19. Jahrhundert, bisher liegen kaum Forschungsergebnisse zum 20. Jahrhundert (zumal zur Sowjetunion) vor. Unstrittig war die Herausbildung neuer geselliger Praktiken, strittig blieb ihr Zusammenhang mit der Entwicklung von Zivilgesellschaft oder Demokratie. Stefan-Ludwig Hoffmann (Berlin) bezog sich auf die in den USA von Robert Putnam angestossene Debatte um 'social capital', die den Toqueville'schen Zusammenhang von Soziabilitaet und politischem System aufnimmt. Er wandte sich in seinem Vortrag ueber die 'Politik der Geselligkeit' gegen eine romantisierende Sicht der Rolle der Vereinigungen als agencies von Fortschritt, Zivilitaet und Demokratie. Das Assoziationswesen in Deutschland haette sich auch keineswegs linear, sondern eher wellenfoermig entwickelt. Im Kern bestehe die Verbindung von Assoziationswesen und buergerlicher Gesellschaft in einer beiden gemeinsamen moralischen Vision. Ein Zusammenhang von Geselligkeit, Oeffentlichkeit und Zivilgesellschaft sei dagegen am ehesten durch jene Grenzen entstanden, mit welchen etwa Assoziationen bestimmte Personen ausschlossen und diese daraufhin ihren Zutritt einforderten und dafuer gesellschaftlich agierten.
Susanne Schoetz (Leipzig) zeigte am Beispiel des 'Kaufmaennischen Vereins zu Leipzig' (1858-1933), dass der Verein zwar Bildung, Moralitaet und genossenschaftlichen Sinn bei Kaufleuten und Handelsangestellten anheben sollte, aber vor allem die Leipziger Maennergemeinschaft staerkte und bis in die 1920er Jahre erfolgreich Frauen weitgehend ausgrenzte. So entstand insgesamt ein eher ambivalentes Bild des Vereinswesens in Deutschland. Demgegenueber stellte Lutz Haefner (Bielefeld) staerker die vielfaeltigen Moeglichkeiten und Funktionen des russischen Vereinswesens im ausgehenden Zarenreich heraus. Er fasste den Verein als zentrale Vergesellschaftungsinstanz auf lokaler Ebene. Die Vereine konnten sich zwar nicht in gleichem Masse wie in Deutschland entfalten und unterlagen haeufig der Willkuer der Gouverneure. Als gesellige Orte, als Nachrichtenproduzenten, als Traeger von Gemeinwohlvorstellungen und auch als politische Foren gestalteten und differenzierten sie aber den lokalen oeffentlichen Raum. Auch Alekxander Kaplunovskij (Kazan'/Berlin) wies anhand der 'Kazaner Unterstuetzungs-vereinigung der im Handel und Gewerbe angestellten Handelsbeauftragten' eher auf die neuen geselligen Praktiken einer neuen Mittelschichtsgruppe seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hin. Zwar habe es Ausgrenzungsformen gegeben (da keine Frauen und nur Frauen zugelassen waren), aber eben auch die Praegung neuer, staendeuebergreifender Lebensstile. Demgegenueber betonte Adele Lindenmeyr (Villanova) in ihrem Vortrag ueber die russischen Wohltaetigkeitsvereinigungen deutlicher die Grenzen der Assoziierung: die zahlreichen Wohltaetigkeitsvereinigungen haetten zwar viel zur Herausbildung und Staerkung von zivilen Tugenden und Werten (civic consciousness, civic pride) getan, seien aber keine 'Schule der Demokratie' gewesen und koennten insofern nicht als eine Praefiguration einer Zivilgesellschaft gedeutet werden. In der Diskussion wurden hier die zahlreichen Parallelen mit dem deutschen Kaiserreich betont.
4. Im letzten Teil der Tagung standen informelle Netzwerke im Vordergrund. Stefan Brakensiek (Bielefeld) zeigte an einem Beispiel, wie im fruehen 19. Jahrhundert im Kurfuerstentum Hessen-Kassel persoenliche Bekanntschaften von Meinungsfuehrern die Funktion einer politischen Oeffentlichkeit uebernehmen konnten. Ulrike Weckel (Berlin) wies darauf hin, dass um 1800 Lebensraeume noch kaum in private und oeffentliche Sphaeren getrennt waren und sich noch kaum von einer strikten Trennung in Gesellschaft und Staat sprechen laesst; ihr Vortrag demonstrierte anschaulich, welchen Beitrag den Geschlechterrollen bei der Trennung von Haus und Oeffentlichkeit zukam. Sie betonte die praegende Kraft der in der fruehen buergerlichen Gesellschaftstheorie entwickelten Kategorien und stellte ihnen Praxisformen gegenueber, die die rhetorischen Dichotomien vielfach uebersprangen und verfluessigten.
Allan Kimball (Oregon) lehnte es ab, den Zirkel, die zentrale informelle Geselligkeitsform der oppositionellen russischen Intelligenz, als Element einer entstehenden civil society im Zarenreich anzuerkennen, hob dagegen die Bedeutung der Teestuben als geselliger Ort fuer die Ordnung des lokalen Raumes hervor. Juri Petrov (Moskau) schliesslich zeigte anhand der oekonomischen Gespraeche zwischen Unternehmern und Gebildeten in Moskau nach 1905, wie informelle Formen der Geselligkeit politische Bedeutung erhalten konnten.
5. In der Schlussdiskussion wurde einerseits noch einmal betont, wie schwierig es sei, jeweils den Zusammenhang zwischen den idealtypisch bestimmten Kriterien von Oeffentlichkeit herzustellen, um Oeffentlichkeit als gesellschaftliches Phaenomen untersuchen zu koennen. Auch wurde hervorgehoben, dass nicht unbedingt die Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen mit der Entstehung von Demokratie gleichzusetzen sei; ferner wurde dafuer plaediert, fuer das 20. Jahrhundert eher den Begriff der 'Massendemokratie' zu benutzen und deutlicher von 'Zivilgesellschaft' zu trennen (Weisbrod). Immer wieder wurde auch auf die grossen Unterschiede innerhalb Europas hingewiesen, etwa zwischen England ('Staat als gesellschaftliche Veranstaltung') und Russland. Hoffmann und Weisbrod hoben die Notwendigkeit hervor, den Zusammenhang zwischen Oeffentlichkeit und Zivilgesellschaft noch deutlicher zu historisieren; andere Teilnehmer forderten eine staerkere Beruecksichtigung des politischen Kontextes und der politischen Implikationen von entstehenden Geselligkeitsmustern. Das verdeutlicht, wie sehr die konzeptionellen Problemformulierungen zu weiteren Fragestellungen anregten.
Die Tagung liess sich bezueglich ihrer Thematik und ihrer Ergebnisse kaum mit typischen Fachtagungen vergleichen. Sie ging insofern ueber den gewöhnlichen Rahmen hinaus, als weder Osteuropa oder das Zarenreicoe/die Sowjetunion noch Deutschland oder Westeuropa, sondern eben die Vergleichsmoeglichkeit thematisiert werden sollte. Notwendigerweise sehr unterschiedliche Kompetenzen ueber das Zarenreich/die Sowjetunion bzw. umgekehrt ueber die deutsche oder westeuropaeische Geschichte kamen hinzu. Dessen ungeachtet war der Versuch wichtig, tradierte Barrieren aufzubrechen, und es kam zu intensiven und fruchtbaren Diskussionen. Man sollte die Tagung als einen Anfang auf einem Weg verstehen, auf dem es noch viele gegenseitige Unkenntnisse und Missverstaendnisse wegzuraeumen gilt.
Guido Hausmann, Koeln
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