Wege und Umwege zur Politik. - Bericht ueber das 4. Bochumer Forum zur Geschichte des sozialen Protestantismus in Deutschland: "Gesellschaftspolitische Neuorientierungen des Protestantismus in den fuenfziger Jahren", veranstaltet vom Lehrstuhl fuer christliche Gesellschaftslehre der Ev.-theol. Fakultaet der Ruhr-Universitaet und der Hans Ehrenberg Gesellschaft Bochum im Internationalen Begegnungszentrum der RUB (26. und 27. Januar 2001)
Nachdem der nationalsozialistische und deutschchristliche Kampf gegen die Kirchen eine "Entkonfessionalisierung" des oeffentlichen Lebens bewirkt hatte, schlug bei Kriegsende die "Stunde der Kirche": Insofern Deutschland als voelkerrechtliches Subjekt ueber keine eigene Zentralgewalt mehr verfuegte, fiel den Kirchen als nahezu einzigen institutionell schadlos gebliebenen Instanzen eine insbesondere soziale und politische Wortfuehrerschaft im Lande zu. Aufgrund ihrer intakten Organisation, ihrer faktischen volkskirchlichen Verankerung und ihrer karitativen Kompetenz konnten die Kirchen nicht nur eine moralische Fuehrerrolle beanspruchen, es wurde ihnen auch von Seiten der alliierten Besatzungsmaechte ein - im Vergleich zu anderen Institutionen - umfassender geistiger und politischer Freiraum gewaehrt. In der Folge formulierten die Kirchen eigene gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Vorstellungen, die bis hin zur Kritik an Vorgehen und Konzepten der Alliierten reichten. Diese "Hinwendung zur Politik" (Greschat), die ein deutliches soziales und politisches Engagement der Christen einforderte, geschah explizit - und das galt fuer beide Kirchen - mit der Absicht einer umfassenden Neuordnung Deutschlands auf der Basis und im Geiste des Christentums. Um den Anspruechen und Anforderungen einer Zukunftsagentur gerecht zu werden, hatten die Kirchen zunaechst einmal - nicht zuletzt vor der internationalen und oekumenischen Oeffentlichkeit - zu Verantwortung und Schuld der Deutschen Stellung zu beziehen. Fuer die evangelische Kirche hiess das vor dem Hintergrund ihrer vielfach antidemokratischen und nationalistischen Tradition aber auch, sich mit der Frage nach dem eigenen Verhalten im NS-Staat, das alle Facetten von schuldhaftem Versagen, ueber Ohnmacht bis hin zu humanitaerem Einsatz aufwies, auseinander zu setzen.
So problematisierte Norbert Frei (Bochum) zu Beginn der Bochumer Tagung, die der Frage nachging, welchen spezifischen Beitrag der Protestantismus in Politik und Gesellschaft der Nachkriegszeit geleistet hat, den Umgang der evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit. Dabei zeigte sich rasch die Schattenseite der politischen Stellvertreterrolle, die die Kirche fuer die Deutschen einnahm: Motivation fuer das kirchliche Handeln im Rahmen der Entnazifizierungsverfahren sowie der folgenden Verjaehrungsdebatten waren nicht die Verbrechen des "Dritten Reiches" oder die Opfer des NS-Regimes, sondern die Sorge um die eigene Klientel. Das insbesondere juristisch versierte Engagement fuer die - zunaechst vor allem kirchentreuen - Entnazifizierten und Kriegsverbrecher zielte auf deren vorzeitige Amnestie und soziale Reintegration ab. Auf dem Hintergrund des fraktionsuebergreifenden Konsenses gegen die als zu schematisch und rigoros erachteten alliierten Urteile, partizipierte die Kirche in der fruehen Bundesrepublik unumwunden am Prozess der Rueckgaengigmachung der politischen Saeuberungen. Diese "Vergangenheitspolitik" mit ihren rechtlichen Elementen wie z.B. dem Straffreiheitsgesetz vom Dezember 1949, das eine Amnestierung auch von 1945 untergetauchten NS-Amtswaltern bewirkte, habe zu einer "Bewaeltigung der fruehen NS-Bewaeltigung" gefuehrt, die Frei als eine signifikante Phase der Aufarbeitung von NS-Unrecht bewertete, da sie eine spuerbare Wirkung auf die Mentalitaet und Identitaet der Gesellschaft hinterlassen hatte. Der Einsatz der Kirche fuer die in den Nuernberger Prozessen fuer schuldig befundenen und nun sympathisierend als "Entnazifizierungsgeschaedigte" und "Kriegsverurteilte" bezeichneten Personen resultierte nicht aus einer prinzipiellen Ablehnung der Todesstrafe heraus, war hingegen Beleg fuer den spezifisch protestantischen Anteil an der Vergangenheitspolitik gegen die alliierte "Siegerjustiz", insofern sich die evangelischen Funktionseliten gleichermassen als Traegergruppen und Profiteure dieser Politik erwiesen.
Die komplexe und komplizierte, teilweise unerfreuliche Position der evangelische Kirche innerhalb der NS-Aufarbeitung, aber auch des NS-Staates steht regelmaessig im Zentrum kirchenhistorischer Forschungen zum zeitgenoessischen Protestantismus. Dabei stelle sich die Forschungslage zum Nachkriegsprotestantismus aufgrund konzeptioneller und methodischer Probleme der kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung insgesamt als unbefriedigend dar, wie Norbert Friedrich (Bochum) in seinem historiographiegeschichtlichen Tagungsbeitrag betonte. Die Kontroversen der letzten zwei Jahrzehnte zwischen einer staerker theologiegeschichtlich und einer eher sozial- und gesellschaftsgeschichtlich ausgerichteten Kirchengeschichte greifen dabei nicht nur die vergleichbaren, durch die "Bielefelder Schule" angeregten Debatten der "Profangeschichte" auf, sondern sind stets auch kirchenpolitische und theologische Fortsetzungsgefechte, die von konfessionellen Lutheranern und "bruderraetlichen" Barthianern seit der NS-Zeit gefuehrt wurden. Die gegensaetzlichen Pole der Auseinandersetzung stellten dabei einerseits die Auffassungen von einer vermeintlichen "Stunde Null" im Jahr 1945, die einen totalen Neuanfang unter Beachtung der Lehren aus dem "Kirchenkampf" fuer moeglich hielt, und andererseits der Vorwurf des kirchenpolitischen Opportunismus und der kirchenbuerokratischen Restauration dar. Im Blick ueber 55 Jahre Forschungsgeschichte skizzierte Friedrich an ausgewaehlten Beispielen den Niederschlag des Konfliktes, der von der Phase des (Zeit-)Zeugenschrifttums, das er als "Bekenntnisliteratur mit normativen Anspruch" bezeichnete, reichte, bis hin zu der an der kritischen Theorie orientierten Richtung der Kirchlichen Zeitgeschichte, die das Nebeneinander von Aufbruch und Beharrung nach 1945 konstatiert. Zukuenftig sei noch staerker ein "Pluralismus der Lesarten" (Mehlhausen) gefordert, der nicht nur die Oeffnung zu gesellschaftlichen und oekonomischen, sondern auch zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen ermoegliche. In diesem Sinne liesse sich beispielsweise der Ueberwindung des kulturellen Konfessionalismus im Protestantismus der fuenfziger und sechziger Jahre ebenso nachspueren wie schon bisher der zeitgleichen Hinwendung der Protestanten zur Politik. Dieser Einstellungswandel laesst sich unter anderem an der Arbeit verschiedener Kommissionen und Kirchlicher Bruderschaften nachzeichnen, die im Zuge der heftigen Debatten um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr im Jahr 1958 letztlich entscheidende Impulse zur innerkirchlichen Kompromissfindung gaben. Hier ist insbesondere die Heidelberger Forschungsstaette der Ev. Studiengemeinschaft (FESt) zu nennen, die fast ein Vierteljahrhundert lang von dem Paedagogen und Religionsphilosophen Georg Picht (1913-1982) geleitet wurde und ein Forum interdisziplinaerer Arbeit zwischen Theologen und Vertretern von Natur-, Geistes- und Rechtswissenschaften darstellte.
Im Rahmen seines politischen Engagements fuer die Reform des deutschen Bildungswesens loeste Georg Picht, der zwischen 1953 und 1963 als Gutachter im Deutschen Ausschuss fuer das Erziehungs- und Bildungswesen eine fuehrende Rolle spielte, mit seiner 1964 zunaechst in der Wochenzeitung "Christ und Welt" erschienenen Artikelserie "Die deutsche Bildungskatastrophe" eine breite oeffentliche Diskussion aus. Mit seiner massiven, wohl auch uebersteigerten Kritik an der konzeptionsarmen Bildungsarbeit von Bund, Laendern aber auch der Kirche ist Picht einer der Initiatoren der Bildungsreformdebatte der fuenfziger und sechziger Jahre, die Sven Bergmann (Essen) in seinem Vortrag nachzeichnete. Fuer Picht, von Hause aus Altphilologe, war die Bildungsfrage das Feld, auf dem sich entschied, inwieweit die Kirche ihre gesellschaftliche Verantwortung erkannte. Picht - dessen Vater neben Eugen Rosenstock einer der Vordenker fuer die "Erwachsenenbildung" gewesen ist - war von der um die Jahrhundertwende einsetzenden paedagogischen Bewegung gepraegt. Er forderte einerseits die Abkehr von der traditionellen Erziehungsvorstellung des jungen Menschen als "formbares Rohmaterial" hin zur persoenlichen Entfaltung, plaedierte andererseits in Reaktion auf die technologischen und globalen Herausforderungen in der Wirtschaftswelt fuer eine Akzeptanz von Bildung als wichtigstem Produktionszweig.
Dass der Jugend nicht nur aus bildungsoekonomischen, sondern auch aus machtpolitischen Erwaegungen eine Schluesselstellung fuer das zukuenftige Antlitz einer Gesellschaft zukommt, demonstrierte Ellen Ueberschaer (Marburg) ueberzeugend in ihrem Beitrag ueber die evangelische Jugendarbeit in der DDR der fuenfziger Jahre. Anhand dieses Beispiels lassen sich geradezu paradigmatisch Phaenomene der Entkirchlichung wie der Verkirchlichung aufzeigen. Beide Entwicklungen charakterisiert Ueberschaer als korrespondierende Seiten im selben Prozess der Saekularisierung. Zu den Auswirkungen einer rigiden Modernisierungspolitik - Beispiel: Sozialismus auf dem Lande, erste Kollektivierungsphase - gesellte sich die repressive, seit Mitte der fuenfziger Jahre systematisch betriebene antikirchliche Politik der SED, die die Kirchen als ideologische und organisatorische Stoerfaktoren im eigenen Machtmonopol betrachtete. Die Taktiken der phasenweise offen aber auch verdeckt durchgefuehrten Entkirchlichungspolitik, die den ohnehin schwindenden Einfluss der Kirchen auf das oeffentliche Leben verstaerken sollte, zielten auf die Jugend, insonderheit die evangelische "Junge Gemeinde", ab. So wie sich einerseits sodann ein Rueckgang der Konfirmationen und eine zunehmende Zahl an Kirchenaustritten feststellen liess, so war in diesem Zeitraum andererseits eine geradezu buendische Verdichtung des protestantischen Milieus auszumachen. Die "Junge Gemeinde" repraesentierte im Rahmen dieser konzeptionellen Verkirchlichung den Idealtypus einer verbandsfoermigen Gemeinschaft, die ihren Zusammenhalt nicht nur durch den Namen, sondern auch durch ihr Bekenntniszeichen (Kreuz auf der Erdkugel) sowie ihre zwischen 1947 und 1953 erschienene Zeitschrift "Stafette" demonstrierte.
Weniger aus der Binnenperspektive - prinzipiell nach dem Kriege ja nicht restituierter - protestantischer Verbandsaktivitaeten, sondern aus dem Blickwinkel des staatlichen, kommunalen und freien Kinder- und Jugendschutzes in der Bundesrepublik der fuenfziger Jahre naeherten sich die anschliessenden Referenten der damaligen Diskussion um den Jugendschutz. In einer vor allem rechtshistorischen Annaeherung zeichnete Bruno W. Nikles (Essen) die Entwicklungslinien seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach - vom Jugendarbeitsschutz, ueber die Fuersorgegesetzgebung, das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz bis hin zu den Formen sozialpaedagogischer und freiwilliger Erziehungshilfe zur Abwehr des vermeintlichen kulturellen Werteverfalls. Die sich im Zuge des allgemeinen Ausbaus des Wohlfahrtsstaates differenzierenden Handlungstraeger des Kinder- und Jugendschutzes hatten sich mit historisch relativ konstanten Aufgabenfeldern auseinander zu setzen, wobei Nikles die drei klassischen Handlungsformen der a) erzieherischen Generalpraevention, des b) soziologischen Vorgehens und c) des kontrollierend-eingreifenden, sich an die Erwachsenenwelt richtenden Kinder- und Jugendschutzes vorstellte. Im dem aufgezeigten Spektrum der Handlungstraeger kam auf der gesamtstaatlichen Ebene der Freien Traeger der 1951 gegruendeten "Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz" (BAJ) eine besondere Rolle zu, wie Brigitte Kramer (Muenster) zunaechst darlegte. Die BAJ setzte sich als Zusammenschluss von Spitzenverbaenden der Wohlfahrtspflege, von Jugend-, Familien- und Fachverbaenden, den Landesarbeitsgemeinschaften und Landesstellen fuer Kinder- und Jugendschutz und von Einzelpersonen ueberparteilich und ueberkonfessionell fuer die Rechte und Beduerfnisse von Kindern und Jugendlichen ein und vertrat damals wie heute deren Interessen in der Oeffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund agierte die kirchliche Jugendarbeit der ersten beiden Nachkriegsdekaden in deutlicher Anlehnung an die Schmutz- und Schundkampagnen der Weimarer Zeit. In dieser Tradition stand unter anderem die 1955 gegruendete Evangelische Arbeitsgemeinschaft Jugendschutz, die ihr Wirken als gesetzliches und erzieherisches Schutz- und Trutzhandeln fuer den Jugendschutz in der Oeffentlichkeit verstand. Inwieweit man von einer weltanschaulichen Enge des evangelischen Jugendschutzes in den fuenfziger Jahren sprechen muss, erlaeuterte Reinhard van Spankeren (Muenster) in Abgrenzung zu einem aktuellen Plaedoyer Frank-Michael Kuhlemanns, der bereits die fuenfziger und nicht erst die sechziger Jahre als eine Epochenschwelle im Transformationsprozess des Nachkriegsprotestantismus verstanden wissen will. Insbesondere der Jugendschutz boete ein deutliches Gegenbeispiel zu dieser These, wie van Spankeren mit einigen plastischen Beispielen aufzeigte. Der Jugendschutz sei eben nicht in der Lage gewesen, sich auf die von Technik und Massenphaenomenen gepraegte Kultur der fuenfziger Jahre einzulassen, er agierte hingegen nicht nur in einer kulturellen Kontinuitaet zu den zwanziger Jahren, sondern sogar konfrontativ zum Zeitgeist. So sei es zur paradoxen Entwicklung in der Nachkriegszeit gekommen, als sich der materielle Aufbau ungleich schneller als der moralische vollziehen konnte. Gerade an diesem Punkt der Bochumer Tagung wurde deutlich, wie - je nach Untersuchungsgegenstand - unterschiedlich eine Gesamteinschaetzung des protestantischen Beitrags zur politischen Kultur der Nachkriegszeit ausfallen muesste. Insofern war es tagungsdramaturgisch durchaus sinnvoll, sich im Anschluss an die Sektion Jugendarbeit / Jugendschutz mit einer der praegnanten und fruehen Sollbruchstellen in der Diskussion um die Ausrichtung des Nachkriegsprotestantismus zu beschaeftigen: In das sog. Darmstaedter Wort des Bruderrates der EKD zum "politischen Weg unseres Volkes" und seine Sozialvorstellungen fuehrte Hartmut Ludwig (Berlin) ein.
Ludwig sprach sich dagegen aus, die Stuttgarter Schulderklaerung von 1945 und das Darmstaedter Wort von 1947 nebeneinander zu stellen. Er plaedierte fuer eine - aus seiner zeitgenoessischen Wirkung in Westdeutschland sicherlich nicht ablesbare - Aufwertung des Darmstaedter Wortes: Denn erst aufgrund der mehrdeutig zu interpretierenden Stuttgarter Formulierungen, die nicht von einem modernen, gewandelten Selbstbild der Protestanten gezeugt haetten, sei eine Konkretisierung des kirchlichen Schuldbekenntnisses, wie es in dem Darmstaedter Wort zum Ausdruck kam, notwendig geworden. Aber obgleich das Darmstaedter Wort dann weitaus selbstkritischer zu einem veraenderten Handeln und einer Abkehr von der theologischen Ueberhoehung des Nationalismus aufforderte, besass es in der publizierten Version immer noch einen vornehmlich auf die Vergangenheit bezogenen Impetus. Eine Exegese von Text und Ursprungsfassungen mache, so Ludwig, hingegen deutlich, dass der Proklamation aufgrund einer politischen Entschaerfung durch ihren Mitverfasser Hermann Diem die urspruengliche fuenfte, von dem systematischen Theologen Hans-Joachim Iwand formulierte These fehlte und es dem Darmstaedter Wort daher an einem substantiellen zeitgenoessischen resp. prospektiven kritischen Kommentar letztlich mangelte.
Forderte das selbst in bruderraetlichen BK-Kreisen umstrittene Darmstaedter Wort die Kirche dazu auf, nunmehr endlich auch den Marxismus als legitime Anfrage an den kirchlichen Einsatz fuer sozial Schwache und Entrechtete zu begreifen, so versammelte sich auf der konservativen Seite des (kirchen-)politischen Spektrums ein informeller Kreis evangelischer Persoenlichkeiten, die durch die Synthese von westlich-amerikanischem mit traditionell-deutschem Gedankengut dem Protestantismus der fuenfziger Jahre durchaus "vorwaertsweisende Elemente" bereitstellen konnten. Der "Kronberger Kreis", in dessen personellen Hintergrund und politische Vorstellungen Thomas Sauer (Weimar/Nohra) einfuehrte, ging auf eine im Sommer 1951 verabredete Initiative des langjaehrigen Leiters der Evangelischen Akademie Bad Boll, Eberhard Mueller (1906-1989), des Kirchentagspraesidenten Reinold von Thadden (1891-1976) und des hannoverschen Landesbischofs Hanns Lilje (1899-1977) zurueck. Angesichts der konfessionellen Paritaet in der Bundesrepublik unzufrieden mit der institutionellen Schwaeche und der eingebuessten kulturellen Dominanz des Protestantismus, beabsichtigten die Kronberger, deren elitaerem, nur durch Kooptation ergaenztem Zirkel nur Christdemokraten, jedoch weder Wissenschaftler, Kuenstler und Kulturschaffende noch Frauen angehoerten, politische Lobbyarbeit zu leisten und protestantischen Positionen staatstragende Wirksamkeit zu verschaffen. Dabei stellte sich der Kronberger Kreis aber nicht in jene nationalkonservative Tradition des Protestantismus, in der seine buergerlichen Mitglieder sozialisiert worden waren, sondern entwickelte in seinen oeffentlichen Stellungnahmen geradezu eine Mischform, die sich aus atlantischen, westeuropaeischen und deutschen Denk- und Wertekategorien speiste. Aus gemeinsamen oekumenischen und internationalen Erfahrungen durch die Taetigkeit in der Fuehrung der Deutschen Christlichen Studenten-Vereinigung resultierte die Offenheit gegenueber westlichen Wertvorstellungen. Den Kronberger Kreis einte aber nicht nur das Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten sowie die Ueberzeugung, dass allein eine konsensgeleitete, auf Kompromissfindung beruhende Gesellschaft in der Lage sei, innerstaatliche Konflikte zu loesen, sondern auch die Ablehnung der regierungskritischen, bruderraetlichen Kreise um Niemoeller und Heinemann. Am Beispiel der Debatte um die deutsche Wiederbewaffnung zeigte Sauer auf, um wie viel deutlicher die aus dem Umfeld Niemoellers und Heinemanns stammenden Vorschlaege fuer ein vereintes, blockfreies Deutschland traditionellen nationalstaatlichen Denkkategorien verpflichtet zu sein schienen, als die sich an Adenauers Kurs der politischen, wirtschaftlichen und militaerischen Westintegration orientierenden Vorstellungen der internationaler und westlicher denkenden Kronberger, deren differenzierte Denkschrift "Wehrbeitrag und christliches Gewissen" vom Februar 1952 einen ersten, insbesondere publizistischen Erfolg darstellte, politischen Einfluss auszuueben.
Wie bereits angedeutet, konstituierten sich angesichts des mehrheitlichen Versagens des Protestantismus waehrend des totalitaeren NS-Staates in der Nachkriegszeit neben jenen exklusiven Zirkeln wie dem Kronberger Kreis weitere evangelische Einrichtungen, die die Verpflichtung zur oeffentlichen Mitverantwortung erkannten: Kirchentage und Evangelische Akademien hinterfragte Traugott Jaehnichen (Bochum) dabei in ihrem Selbstverstaendnis und ihren Kommunikationsformen. Den Anknuepfungspunkt bildete fuer ihn die Anfrage des Hamburger Soziologen Helmut Schelsky, der 1957 in einem religionssoziologischen Beitrag die Hypothese wagte, dass Kirche und Theologie in den fuenfziger Jahren zunehmend funktionslos wuerden, wenn sie sich nicht in der Lage versetzten, die "Dauerreflektion" als Kennzeichen der modernen Glaubensformen angemessen aufzugreifen und zu institutionalisieren. Fuer diese "neue, reflektierende Spiritualitaet absoluter Innerlichkeit" (Schelsky), die nicht mehr die soziale Verbindlichkeit ritueller oder nomineller Glaubensaussagen und damit eine Gleichheit der religioesen Erfahrung voraussetzen konnte, stellten die Rede und das Gespraech das dominierende religioese Kommunikationsmittel aller modernen Versuche dar, in sozialer Verbindlichkeit eine Verlebendigung des Glaubens und eine Vergewisserung der religioesen Existenz zu erreichen. Und trotz der Gefahren einer nunmehr institutionalisierten Trivialisierung und Banalisierung fand das "Gespraechs-Prinzip" in den Evangelischen Akademien und den Kirchentagen ein adaequates Forum, wie Jaehnichen resuemierte: Gerade die Abkehr von autoritaeren Kommunikationsformen sowie die Offenheit fuer und die Oeffnung der Dialoge sei ein besonderes Kennzeichen des Protestantismus in den fuenfziger Jahren, der sich in diesem Punkte als Vorreiter gegenueber der katholischen Kirche, aber auch gegenueber der Politik praesentieren konnte.
Allein aufgrund ihrer gewachsenen gesellschaftlichen Verantwortung beteiligte sich die - evangelische wie katholische - Kirche auf vielen Gebieten an der Gestaltung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Evangelische Theologen ganz unterschiedlicher, zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus sozialisierter Generationen und ganz unterschiedlicher sozialpolitischer Kompetenz praegten die kirchlichen Stellungnahmen dieser Jahre. Dabei entsprach das politische Leitbild in Kirche und Gesellschaft mehrheitlich nicht jener von den Alliierten oktroyierten Demokratie. Anpassung und Mitgestaltung bildeten insofern eine untrennbare Einheit fuer das kirchliche Handeln. Im Rahmen der angestrebten "Rechristianierung" der deutschen Gesellschaft waren die Spielraeume, sich auf den Wandel der politischen Kultur und den gesamtgesellschaftlichen Durchbruch der Moderne einzulassen, fuer den Protestantismus eng gesetzt. So resultierten, das zeigten auch die Beitraege der Bochumer Tagung, die meisten der sich auf den soziostrukturellen und oekonomischen Wandel der Nachkriegszeit einlassenden kirchlichen Stellungnahmen aus Minderheitenpositionen. Derartige "Initiativen mit Zeitverzoegerung" (Klessmann) hinterliessen dann jedoch nachhaltige Wirkung auf allen Ebenen der kirchlichen Hierarchie, wie sich am Beispiel der von Evangelischen Akademien und sozialdemokratischen Protestanten moderierten sozialpolitischen Annaeherungen zwischen evangelischer Kirche und SPD zeigen laesst.
Fehlte der Bochumer Tagung auch der Versuch, die genannten Aspekte und Erscheinungsformen der gesellschaftspolitischen Neuorientierungen zu einer Gesamteinschaetzung zusammen zu fuehren, so wurde andererseits deutlich, in welcher zeitlichen, bis in die sechziger Jahre hineinreichenden, aber vor allem in welchen kirchenpolitischen und ideologischen Dimensionen ueber die Umwege, die der Protestantismus in die junge Bundesrepublik nahm, diskutiert werden muss.
Dr. Jens Murken, Institut fuer Ev. Theologie / Kirchengeschichte, Uni Giessen, Email: <murken@web.de>
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