Quelle -email <H-Soz-u-Kult>

From: Andreas Ernst <Andreas_Ernst@macquality.ch>
Subject: Bericht Mediensymposium Luzern
Date: Thursday, December 19, 1996 15:12:29 MET


Massen- und andere Medien

Kommunikation und Revolution in Geschichte und Gegenwart

Eine Welle von Revolutions-Jubilaeen rollt auf uns zu. Die Helvetische Revolution von 1798 wird zweihundertjaehrig. Die ost- und die mitteleuropaeischen Revolutionen von 1848, von 1917 und von 1918 feiern den 150. bzw. 80. Jahrestag. Aber auch die "Kulturrevolution" von 1968 wird demnaechst dreissig und die nationalen Revolutionen, die das Sowjetimperium zu Grabe trugen, erreichen bald ihr erstes Dezennium. So wird in naechster Zeit viel Tinte fliessen, sei es um diese Umwaelzungen zu feiern, zu beklagen, zu beschreiben oder zu analysieren. Das jaehrlich stattfindende Mediensymposium Luzern (s. Kaestchen) hat sich im Hinblick auf die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen einen Vorsprung gesichert. 26 Vertreterinnen und Vertreter der Faecher Soziologie, Geschichte und Medienwissenschaften diskutierten bereits am Vorabend der Jubilaeen ueber Revolutionen als Kommunikationsphaenomen.

Die Veranstalter (K. Imhof, Zuerich, P. Schulz, Luzern) waehlten einen weiten historischen Horizont, der von der franzoesischen Revolution bis zur "Wende" von 1989 reichte. Dies ermoeglichte zahlreiche Vergleiche, aus denen, mit aller Vorsicht, allgemeine Muster von Kommunikationsbedingungen und -verhalten in revolutionaeren Situationen abgeleitet werden konnten. So schien sich die These zu bestaetigen, dass sich in revolutionaeren Krisen die oeffentlichen Kommunikation verdichtet. Immer mehr Gruppen mischen sich in immer mehr Medien in die oeffentliche Diskussion ein. Sprunghaft stieg die Zahl der Zeitungen und Pamphlete nicht nur in der Franzoesischen Revolution, sondern in allen gesellschaftlichen Umwaelzungen bis zum Ende der DDR (G. Melischek, J. Seethaler, Wien). Der Raum der Oeffentlichkeit weitet sich aus und neue Stimmen melden sich: Arbeitervereine und buergerliche Frauen in der 48er Revolution, kommunistische und voelkische Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg, Buergerrechtler und Kirchenaktivisten beim Sturz des DDR-Regimes. Kommunikationsverdichtung aber auch inhaltlich: Die Themenvielfalt der vorrevolutionaeren Zeit, hervorgebracht von den unterschiedlichsten Wuenschen und Visionen einer besseren Welt, verengt sich im Verlauf des Meinungskampfes. In der revolutionaeren Entscheidungssituation stehen sich noch zwei Parteien gegenueber und es gilt die eine Parole: Wir oder sie! - Fast jedes "Ancien regime" versucht dem unaufhaltsamen Kommunikationsansturm mit Konzessionen zu begegnen. Und sehr oft sind es genau diese Konzessionen die den Anfang vom Ende bedeuten: Preussens Lockerung der Pressezensur vor 1848 (T. Mueller, Zuerich), die zoegerlichen Parlamentarisierungsversuche des Deutschen Reiches nach 1917 (A. Triebel, Berlin) oder die Legalisiereung der Ausreise aus der DDR haben den Umsturz beschleunigt, den sie verhindern wollten (J. Wilke, Mainz).

In Revolutionen dynamisiert sich aber auch das Verhaeltnis zwischen verschiedenen Bereichen der Oeffentlichkeit (J. Klaus, Goettingen). Die Oeffentlichkeit der Massenmedien wird ergaenzt oder gar ersetzt durch die "Versammlungsoeffentlichkeit" von Kundgebungen und Demonstrationen. Die Beziehung zwischen diesen verschiedenen Oeffentlichkeitsebenen ist aber fallweise ganz unterschiedlich: Die Wucht der oeffentlichen Versammlungen der Basler Revolutionaere von 1798 spielte die mediale Oeffentlichkeit an die Wand. Die Masse selber wurde zum Medium (R. Blum, Bern). Anders der ostdeutsche Protest, der sich mit den westdeutschen Massenmedien koordinierte und so wechselseitig die oeffentliche Resonanz verstaerkte (H. Kepplinger, Mainz). In revolutionaeren Situationen schwindet die Bedeutung staatlich kontrollierter Medien. Die personale Kommunikation wird wichtiger, ebenso das Geruecht als Kommunikationsform der Unsicherheit und die oeffentliche Versammlung wird zum Ort gemeinsamer Mobilisierung und Orientierung (M. Schenk, Stuttgart).

Gibt es neben diesen "strukturellen" Regularitaeten des Kommunikationsverhaltens in Revolutionen auch so etwas wie inhaltliche Konstanten des revolutionaeren Diskurses? Etliche Tagungsbeitraege scheinen darauf hinzuweisen. Die Revolutionaere vernichten die Erinnerung an die unmittelbare Vergangenheit und beziehen ihre Legitimitaet aus einer utopisch geschoenten, weit zurueckliegenden Vorzeit. Die Schweizer Revolutionaere, die dank Napoleons Bajonetten zum Zug kamen beschwoerten den Tell, das "Gruetli" und die alte "Schweizerfreyheit" (C. Guggenbuehl, Zuerich). Es sind vor allem die nationalen Revolutionaere (der Linken wie der Rechten), die mit ihren Nationskonzepten die Gleichheit nach innen und die Differenz nach aussen versprechen (A. Schmidt Berlin). Die neue Gesellschaft soll durch die verkuendete geschichtliche Kontinuitaet Unterstuetzung und Identitaet gewinnen. So kaempften im Ungarn der Nachkriegszeit die Kommunisten und die Kirche um den "richtigen" Nationalfeiertag, den die Kirche der mittelalterlichen Kroenung Koenig Stephans, die Kommunisten der 1848er-Revolte widmen wollten (A. v. Klimo, Bielefeld). Auch die "Produktion" von grossen charismatischen Fuehrern scheint regelhaft zur revolutionaeren Kommunikation zu gehoeren. Am Beispiel von Kurt Eisner, dem Fuehrer der Muenchner Raeterepublik wird die unheimliche Dynamik sichtbar, die aus der Hoffnung und dem Hass entsteht, die auf solche Einzelfiguren projiziert werden (C. Jahr, Berlin).

Mythos, Geschichte und Charisma als Bestandteile revolutionaerer Kommunikation - nur wenig davon kann man beim Zusammenbruch der DDR beobachten. Handelt es sich dabei ueberhaupt um eine Revolution? Die DDR-Buergerrechtler entwickelten keine ausformulierte Utopie, sie brachten keine machtbewussten Fuehrungsfiguren hervor und ihr Umgang mit nationalen und historischen Symbolen war sehr vorsichtig (D. Rucht, Berlin). Es scheint, dass aus diesen "Defiziten" in der revolutionaeren Situation ein Vakuum an "ostdeutscher Sinnstiftung" entstand. Es wurde nach dem Mauerfall sehr schnell und machtbewusst von den westdeutschen Parteien und Medien ausgefuellt. Ostdeutsche Minderwertigkeitsgefuehle und "Selbstbehauptungen" sind wohl Folgen einer Revolution, die zwar in der DDR begann aber in Bonn beendet wurde.

Andreas Ernst


Mediensymposium Luzern

Das "Mediensymposium Luzern" versammelt jaehrlich im November 20 bis 30 Vertreterinnen und Vertreter verschiedener wissenschaftlichen Disziplinen zu einer zweitaegigen Konferenz. Im Zentrum der Diskussion stehen Fragen nach den strukturellen Bedingungen, den kulturellen Formen und dem Wandel von Oeffentlichkeit und Medien in Geschichte und Gegenwart. In "Roundtables" wird eine leitende Fragestellung aufgrund von Thesenpapieren diskutiert. Die Resultate der Diskussion fliessen in die Ueberarbeitung der Papiere ein und erscheinen in den ausgearbeiteten Beitraegen des Symposiumsbandes. Veranstaltet wird das Symposium von "in medio. gesellschaft zur erforschung des sozialen wandels" und dem Medienausbildungszentrum MAZ, Luzern. Das Symposium steht unter dem Patronat der Hoschschule Luzern und der Stiftung Akademie 91 Zentralschweiz.

Der Symposiumsband 1995 liegt nun vor: Kurt Imhof, Peter Schulz (Hg.): "Politisches Raisonnement in der Informationsgesellschaft". Reihe "Mediensymposium Luzern", Band 2, Zuerich 1996, ISBN 3-908239-50-8, 293 Seiten, SFr. 38.-


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