Symposium: 400 Jahre japanische Moderne? Sekigahara, Edo und die Folgen

Erfurt, 21.10.2000

Ein Tagungsbericht von Ryoko Mori

Das Symposium wurde unter Mitwirkung des Arbeitskreises Japanische Geschichte der Gesellschaft fuer Japanforschung e.V. vom Lehrstuhl fuer Ostasiatische Geschichte der Universitaet Erfurt veranstaltet. Im Gegensatz zur noch ueberwiegend an der Nationalgeschichte orientierten Historiographie in Deutschland, bemuehen sich die Historiker der 1999 gegruendeten Universitaet Erfurt, den globalen Zusammenhaengen sowie interkulturellen Beziehungen nachzugehen, in denen historisches Prozesse und Ereignisse stehen. Auf dieses weltgeschichtliche Konzept bezieht sich das Gesamtthema der Veranstaltungsfolge "Sekigahara: Zum 400. Jahrestag einer welthistorischen Schlacht".

Sekigahara ist der Name eines Ortes, der in der Naehe von Kyoto liegt. Wohl jeder Japaner verknuepft diesen Namen mit der Schlacht, die im Jahr 1600 auf diesem Feld in Mitteljapan stattfand. Die Sekigahara-Schlacht gehoert zu den bekanntesten historischen Ereignissen in Japan, ueber die zahlreiche Geschichtsromane verfasst und mehrere Spielfilme gedreht wurden. Anlass dieser folgenreichen Schlacht war der Machtkampf zwischen TOKUGAWA Ieyasu und TOYOTOMI Hideyori, wobei alle Daimyos (Fuersten wie Landstaende) Japans in Anhaenger Tokugawas bzw. Toyotomis gespalten waren. Der Sieg Tokugawas entschied ueber den weiteren politischen Kurs Japans, der zentralisierte Staat der Tokugawa-Dynastie hatte fuer mehr als zweieinhalb Jahrhunderte Bestand. So wird die Sekigahara-Schlacht heute noch im Volksmund als metaphorischer Ausdruck fuer einen entscheidenden Moment gebraucht.

In der japanischen Geschichtswissenschaft wird die Regierungszeit der Dynastie Tokugawas, die nach ihrer Hauptstadt Edo-Zeit genannt wird und bis zur Meiji-Restauration 1868 dauerte, in die Kinsei-Zeit eingeordnet. Der Begriff Kinsei bezeichnet eine eigene Epoche, die sich sowohl vom Mittelalter als auch von der modernen Zeit abgrenzt. In dieser Zeit schuf die Tokugawa-Regierung eine Zentralverwaltung, fuehrte ein allgemeines Steuerwesen ein, vereinheitlichte Masse und Gewicht und liess Seewege und Strassen ausbauen. Dank der politischen Stabilisierung entwickelte sich in der Edo-Zeit eine Proto-Industrialisierung. Handwerker und Kaufleute bildeten denn auch die Traegerschicht der kulturellen Bluete, die diese Epoche kennzeichnete. Das Tokugawa-Regime hat dem Programm des Symposiums zufolge "die japanische Fruehmoderne entscheidend gepraegt und wichtige Weichen fuer Japans Weg in die Moderne gestellt". Das Symposium wurde zum Gedenken an die Schlacht veranstaltet, die auf den Tag genau vor 400 Jahren stattfand, und "an die damit verbundenen politischen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Umwaelzungen".

Im Eroeffnungsvortrag kritisierte Steffi Richter (Leipzig) das Erklaerungsmodell der Literaturwissenschaftlerin YUKO TANAKA ueber die Sozialstruktur der Stadt Edo als "einfache Dichotomie". Mit ihrem Hinweis auf die Ausbreitung von Ren, den buergerlichen Salons, erklaerte Tanaka, dass Edoer Buerger nicht unmuendig unter der Herrschaft der Obrigkeit standen, sondern durch ein "Netzwerk" eigenstaendiger Gesellschaften miteinander verbunden waren.

Die naechsten vier Vortraege behandelten die Machtkonzentration und Etablierung des Staatswesens unter der Tokugawa-Regierung. Guenther Distelrath (Bonn) zeigte, wie allgemeine Landvermessungen die Grundlage fuer die Steuerhoheit der zentralen Regierung schufen. Ein weiteres Ziel bestand darin, durch das Verbot des Ackerverkaufs Grundbesitz und Sozialstruktur gleichsam einzufrieren. Diese Massnahmen waren nach Meinung des japanischen Historikers MORIAKI ARAKI fuer die verspaetete Modernisierung Japans verantwortlich. Distelrath wies dagegen darauf hin, dass seit der Mitte des 17. Jahrhunderts durch Jiwarisei (Landaustausch-Gesetz) und Kuramochisei (Losziehen fuer Ackererwerb) fester Landbesitz nur auf dem Papier stand und es infolgedessen eine ausgepraegte Egalitaet in der laendlichen Gesellschaft gab. Diese Agrar- und Sozialverhaeltnisse bildeten den Hintergrund fuer die Proto-Industrialisierung in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Ulrich Goch (Bochum) analysierte "die Buerokratisierung der Zivilverwaltung des Edo-Shogunats", das in der Regierungszeit des dritten Shoguns Iemitsu etabliert wurde. Die Funktionen des Shogunats wurden auf die einflussreichen Daimyos verteilt, die dadurch in den zentralen, im Sinne Max Webers "rationalen" Staatsapparat integriert wurden. Daneben wurden auch Buerger aus den Oberschichten, die eine orthodox-konfuzianistische Ausbildung nachweisen konnten, in die Verwaltung aufgenommen. Eva-Maria Meyer (Tuebingen) schilderte den Konflikt zwischen dem Tenno GOYOZEI, und dem ersten Shogun TOKUGAWA Ieyasu. Goyozei, der als traditionelles Oberhaupt im geistlichen und kulturellen Mittelpunkt stand, wollte die mittelalterliche politische Autoritaet des Tennos wiederherstellen, waehrend gleichzeitig der Shogun Ieyasu als neuer politischer Fuehrer immer mehr Macht auf sich zu konzentrieren versuchte. Nach diesem Zusammenstoss im fruehen 17. Jahrhundert wurde die Ueberlegenheit des Shoguns gegenueber dem Tenno unverkennbar. Bernhard Scheid (Wien) diskutierte das Thema "Die Apotheose des Siegers". Im Gegensatz zum christlichen Gottesgnadentum wollten die japanischen politischen Fuehrer ihre Legitimitaet dadurch behaupten, dass sie selbst eine Gottheit verkoerperten. Im Zusammenhang mit dem politischen Machtwechsel veraenderte sich auch die Auffassung der Goettlichkeit. Waehrend sein Vorgaenger TOYOTOMI Hideyoshi sich als einen tradierten synkretistischen Gott dargestellt hatte, entwickelte sich bei TOKUGAWA Ieyasu eine neue Gottheitsvorstellung. Sie entsprach der Theologie des Yoshida-Shintoismus, der in der Edo-Zeit zur Staatsreligion wurde.

Die letzten beiden Vortraege widmeten sich der Sekigahara-Schlacht selbst. Reinhard Zoellner (Erfurt) zeigte eine Schlachtszene aus einem in Japan sehr bekannten Spielfilm (1952), eine Bildrolle aus der Edo-Zeit sowie einen modernen Comic ueber den Krieg und stellte dann fest, dass visuelle Medien innerhalb des japanischen Geschichtsgedenkens eine wichtige Rolle spielen. Kenji Oda (Erfurt) befasste sich mit zwei legendaeren Frauen, die die Schlacht erlebten. HOSOKAWA TAMA, Gattin eines der im Krieg unterliegenden Daimyos, beging Selbstmord, um ihrem Mann in den Tod zu folgen und zugleich ihren christlichen Glauben zu bewahren. Die Oan-Geschichte ueberliefert eine Schilderung der Kriegsgreuel durch eine alte Nonne.

Bei den meisten Vortraegen handelte es sich um Rekonstruktionen der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen bzw. Geschehnisse in der japanischen Fruehneuzeit. Nicht immer wurden die Referate auf das Thema des Symposiums, die "japanische Moderne" bezogen, die in Japan eine wichtige Fragestellung der Historiker bildet. Im Interesse des Gesamtthemas der Veranstaltung haette man sich gewuenscht, dass die weiterfuehrende Frage von Regine Mathias (Bochum), in welchem Sinne Sekigahara ein "welthistorisches" Ereignis war, ausfuehrlicher diskutiert worden waere.

Bis auf wenige Ausnahmen fehlten der Bezug auf den Diskussionsstand der japanischen Forschung und ein Eingehen auf die benutzten Primaerquellen, wie es in einem geschichtswissenschaftlichen Referat selbstverstaendlich sein sollte. Einige Beitraege erweckten den Eindruck, sich stark an die japanischen Sekundaerliteratur anzulehnen. Auch die Mikrohistorie des Alltags, der japanische Historiker seit den 80er Jahren immer mehr Aufmerksamkeit schenken, wurde nicht thematisiert. Dieses mag wohl daran liegen, dass die meisten Referenten keine Historiker im engeren Sinne waren, sondern aus dem Bereich der Japanologie kamen. Hier wurden Grenzen deutlich, die bei der Beschaeftigung mit der Geschichte eines 'fremden' Sprachraums unvermeidlich auftreten.

Dennoch bleibt festzuhalten, dass das Symposium aeusserst anregend war. Nicht nur weil vielseitige und umfangreiche Informationen ueber die japanische Geschichte in deutscher Sprache angeboten wurden, was keineswegs geringzuschaetzen ist. Vor allem legten die vorgetragenen Sachverhalte eine erneute Ueberpruefung der These nahe, dass "Modernisierung" die Ausbreitung europaeischer Institutionen bedeute. Anders als z.B. in Japan, wo etwa Haelfte der historischen Lehrveranstaltungen ausserjapanischen Themen gewidmet ist, wird an deutschen Hochschulen ueberwiegend die Geschichte des eigenen Landes gelehrt. Auch bei einem "internationalen" Symposium gibt es selten einen Beitrag zur aussereuropaeischen Geschichte, was wohl nicht zuletzt auf sprachliche Barrieren zurueckzufuehren ist. Dennoch scheint es realisierbar und ueberdies sehr wuenschenswert, einen Dialog zwischen deutschen Historikern und deutschsprachigen Japanforschern zu eroeffnen. Anzustreben waere ein interdisziplinaerer Austausch zwischen den beiden Fachrichtungen, der sowohl die Japanforschung vertiefen, als auch die Perspektive jener Historiker, die zur deutschen Geschichte arbeiten, erweitern koennte - und dadurch einen Beitrag zur 'Globalisierung' der Geschichtswissenschaft leisten wuerde.


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Ryoko Mori" <Mori@mpi-g.gwdg.de>
Subject: Tagungsbericht: "400 Jahre japanische Moderne?.. - Erfurt 10/2000
Date: 20.11.2000


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