Bericht ueber einen interdisziplinaeren Workshop zu zeitgeschichtlichen Migrationsprozessen:

"Die Geschichte der Bundesrepublik als die Geschichte von Migrationen"

Max-Planck-Institut fuer Geschichtswissenschaften, Goettingen, 1.-3. Oktober 1998

Die Geschichte der bundesdeutschen Nachkriegsmigrationen ist noch ungeschrieben. Beginnt sich die historische Zunft gerade zaghaft den 60er Jahren zuzuwenden, gilt diese Zurueckhaltung erst recht gegenueber Migrationsprozessen als zeithistorischem Untersuchungsgegenstand. "Die Geschichte der Bundesrepublik als die Geschichte von Migrationen" zu schreiben, so der programmatische Titel des hier zu besprechenden Workshops, ist eine noch ungewohnte und ungeuebte Forschungsperspektive fuer HistorikerInnen. Der interdisziplinaere Workshop zu zeitgeschichtlichen Migrationsprozessen, der vom 1.-3.10.98 in den Raeumen des MPI Geschichte in Goettingen stattfand, sollte WissenschaftlerInnen, die in verschiedenen Disziplinen zu Migration arbeiten, zusammenbringen und eine erste Moeglichkeit des Austauschs schaffen. Vorbereitet und organisiert von den beiden HistorikerInnen Anne von Oswald (Berlin) und Jan Motte (Goettingen), war dieser Workshop ein wichtiger Schritt in Richtung Vernetzung von jungen MigrationsforscherInnen und ihren Projekten.

Erfahrungs-, sozial-, alltagsgeschichtlich orientierte Projekte in unterschiedlichen Arbeitsstadien wurden in Koreferaten und Referaten vorgestellt und anschliessend diskutiert. Die vorzustellenden Papiere waren schon vorher verschickt.

Der Workshop war durch vier Roundtables gegliedert: Im ersten Round Table "Flucht und Vertreibung" unternahm Volker Ackermann (Duesseldorf) eine begriffsgeschichtliche Rekonstruktion des Redens ueber den "echten Fluechtling" aus der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1961. Er zeigte fuer das 1946 neugegruendete Bundesland Nordrhein-Westfalen, dass die anfangs scharfe Trennung der politischen von den wirtschaftlichen Fluchtmotiven in den 1950er Jahren zunehmend verwischt wurde und Politiker und andere "Fluechtlingsexperten" den Wunsch nach besserem Lebensstandard im Kontext des Kalten Krieges als politischen Beweggrund interpretierten. Ebenfalls in Abkehr von der traditionellen Fluechtlingsforschung untersuchte Heinke Kalinke (Freiburg) die Lebensgeschichten von zwischen 1908 und 1930 in der oberschlesischen Kleinstadt Zuelz geborenen Frauen. Im Mittelpunkt stand die individuelle biographische Erfahrung und die Deutung des Erfahrenen von Frauen, die Zuelz als Fluechtlinge oder Vertriebene verliessen im Vergleich zu denen, die blieben und Polinnen "wurden". Hannelore Oberpenning (Osnabrueck) stellte ihre sozial- und mentalitaetsgeschichtliche Lokalstudie zur Fluechtlingssiedlung Espelkamp in Nordrhein-Westfalen vor. In der gegebenen "Laborsituation" beleuchtete sie die Eingliederungsprozesse im historischen Laengsschnitt von den Fluechtlingen und Vertriebenen nach 45 bis zu der vor allem mennonitisch gepraegten Aussiedlerzuwanderung aus der SU und Paraguay seit den 1970er Jahren, die sich als immer neuerliche Abgrenzungen der "Alten" gegenueber den "Neuen" vollzogen.

Der zweite Roundtable griff "Das Lager" als Wohn- und Lebensraum, das als zentrales Phaenomen ebenso zum 20. Jahrhundert gehoert wie Wanderungsbewegungen, in der historischen Laengsschnittbetrachtung auf. Jens-Christian Wagner (Goettingen) stellte das NS-Lagersystem und seine Aussenwahrnehmung am Beispiel des KZ Mittelbau-Dora 1943-45 vor. Sein Vortrag verband jenseits eines einseitigen Taeter-Opfer-Schemas struktur- und erfahrungsgeschichtliche Ansaetze am lokalen Beispiel. Der deutschen Bevoelkerung war nicht nur der Anblick von Kolonnen auslaendischer Zwangsarbeiter im Strassenbild vertraut, sondern auch in einem viel direkteren Verhaeltnis durch den Einsatz von KZ-Haeftlingen in regionalen Betrieben. Mathias Beer (Tuebingen) berichtete ueber das Fluechtlingswohnlager als Lebensform in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, das im Querschnitt aber auch im Laengsschnitt im Leben seiner BewohnerInnen betrachtet wurde. Am Bsp. einer Fluechlingsgruppe aus Suedosteuropa, die Schlotwieser, benannt nach ihrem Lager auf der Schlotwieser in Stuttgart-Zuffenhausen, konnte er verdeutlichen, dass das Lagermilieu und das sich dort entwickelnde soziale Leben im Spannungsverhaeltnis von Segregation und Integration zu einem allmaehlichen Identitaetswandel der (ehemaligen) LagerbewohnerInnen fuehrten. Helmut Dietrich (Berlin) interessierte in seinem Vortrag ueber die aktuelle Asylbewerberthematik die Wahrnehmungsstruktur der Einheimischen gegenueber Fluechtlingen und Fluechtlingsunterkuenften. Ueber Interviews mit Deutschen und Polen in der ostdeutschen Grenzregion spuerte er der Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz bzw. Durchsetzbarkeit von Lagern und der Denunzationsbereitschaft der Bevoelkerung nach. Deutlich wurde durch alle drei Vortraege, dass im historischen Laengsschnitt klare Kontinuitaetsaspekte bzgl. der Abwehrhaltung seitens der einheimischen Mehrheitsgesellschaft gegenueber den LagerbewohnerInnen hervortreten.

Der dritte und umfangreichste Roundtable widmete sich der Arbeitsmigration der "Gastarbeiter". Zunaechst wurden regional- und lokalgeschichtliche Arbeiten vorgestellt. Barbara Schmidt (Marburg) konnte fuer die Region Suedhessen fuer die Fruehphase der Auslaenderanwerbung zwei Migrationsmuster nachweisen: parallel zur temporaeren "Gastarbeit" fand bereits zwischen 1955 und 1967 ein Einwanderungsprozess statt. Ausgehend von einem labour-history-Ansatz und in erklaerter Abkehr zum modernisierungstheoretischen Paradigma der Zeitgeschichtsforschung stellte Jan Motte (Goettingen) den Lohnarbeiterstatus und die proletarischen Lebenswelten der tuerkischen Arbeitsmigranten im Huettenwerk der ehemaligen Salzgitter AG in den Mittelpunkt seiner sozial- und alltagsgeschichtlichen Arbeit. Anne von Oswald (Berlin) ging in ihrer Fallstudie ueber die italienischen "Gastarbeiter" im Volkswagenwerk Wolfsburg der individuellen, subjektiven Seite der Arbeitsmigration, d.h. den Vorstellungen und Zukunftsprojekten der Migranten selbst nach. Dabei entwickelte sie unter Einbeziehung der Bedingungen in den sueditalienischen Herkunftsgesellschaften eine Typologie von Migrationsmustern, die den anfangs vorherrschenden Typus des "Versuchsmigranten", aber auch die Pendelmigranten beruecksichtigt. Mathilde Jamin (Essen) stellte Thesen und Aspekte zur Politik- und Sozialgeschichte der tuerkischen Arbeitsmigration vor, die im Zusammenhang mit dem Ausstellungsprojekt im Ruhrlandmuseum Essen erarbeitet wurden. Die Beitraege und anschliessenden Diskussionen ueber das Verhaeltnis von "Ethnizitaet" und "Klasse" machten deutlich, dass die sich bietenden Anschlussmoeglichkeiten zwischen Migrationsforschung und Arbeitergeschichte bisher kaum genutzt wurden. Das gilt ebenso fuer das Verhaeltnis von "Ethnizitaet" und "Geschlecht", deren Zusammendenken in empirischer Forschung noch in den Anfaengen steckt. In diesem Zusammenhang stellte Monika Mattes (Berlin) ihre Arbeit ueber weibliche Arbeitsmigration und geschlechtsspezifischen Arbeitsmarkt in den 1950er bis 70er Jahres vor. Die Frage nach den Geschlechterverhaeltnissen wurde auch in dem Beitrag von Livia Novi (Osnabrueck) ueber die Lebenswelten der italienischen MigrantInnen behandelt. Sie unterzog die in Interviews erhobenen Lebensgeschichten einer Narrationsanalyse, die sie tiefere Erkenntnisse ueber die Migrationsmotive und damit verbundene innerfamiliale Dynamiken gewinnen liess. War hier die Frage nach dem Einwirken des Makrokosmos auf den Mikrokosmos Diskussionsthema so wurde im Anschluss an Sonja Haugs Projektvorstellung (Karlsruhe) ueber soziales Kapital und Kettenmigrationsprozesse am Bsp. der italienischen Arbeitsmigration diskutiert, wie sich die sog. Meso-Ebene am Bsp. der Migrationsnetzwerke und ihrem Einfluss auf Migrationsentscheidungen in ihrem Zusammenhang mit Makro- und Mikroebene erfassen lassen. Yvonne Rieker (Freiburg) stellte ein sozial- und lebensgeschichtlich angelegtes Projekt zur italienischen Arbeitsmigration vor. UEber gegenwaertige Ethnisierungsprozesse von sozialen Konflikten in der Arbeitswelt als Forschungsergebnis einer vollstandardierten Befragung unter Industriebeschaeftigten berichtete Svenja Ottens (Goettingen).

Einen politikwissenschaftlichen Beitrag lieferten die Ueberlegungen Karen Schoenwaelders (Frankfurt/M.) zur bundesdeutschen Auslaenderpolitik in der Fruehphase der Arbeitskraefteanwerbung. Die Analyse der Wahrnehmung von (Ein-)Wanderungsprozessen durch die politischen Akteure und ihres davon gepraegten Handelns ergab ein institutionelles Nebeneinander separat arbeitender Politikressorts, die trotz realisierter Problematik keine gemeinsame Konzeption entwickelten.

Der vierte Roundtable beschaeftigte sich mit der neuen Zuwanderung seit den 1980er Jahren. Strategien und Selbstwahrnehmung von lateinamerikanischen Einwanderinnen in Berlin standen im Mittelpunkt des ethnologisch ausgerichteten Beitrags von Sandra Gruner-Domic (Berlin). Edith Pichler (Berlin) stellte am Beispiel italienischer Gewerbetreibender Aspekte der Community-Formierung und ihrer ethnischen Oekonomie vor. In der Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob die Formen der Nischenoekonomie sich auf den Sonderstatus Westberlins zurueckfuehren lassen oder ob sie nicht ein typisches Phaenomen multiethnischer Metropolen ueberhaupt sind. Ebenfalls fuer die italienische Arbeitsmigration im Westteil Berlins machte Marcus Otto (Berlin) eine historische Bestandsaufnahme ihrer Organisationen. Ueber die Mitgliedschaft entweder in katholischen oder KP-Organisationen, die beide in erste Linie Freizeitaktivitaeten anboten, entschieden i.d.R. die traditionellen Bindungen an eines der beiden Milieus.

Die genannten Beitraege zeigten das breite Themenspektrum der zeithistorischen Migrationsforschung. Der Workshop diskutierte nicht allein migrationsspezifisches, sondern stiess immer wieder auf allgemeine sozialwissenschaftliche, nicht nur die Migrationsgeschichte betreffenden Methoden- und Theorieprobleme. Unabhaengig vom jeweiligen Thema und fuer dynamische Migrationsprozesse in besonderer Weise zutreffend, wurde ueber methodologische Probleme gesprochen, insbesondere ueber die alte Frage wie "Struktur" gegenueber "Erfahrung" zu fassen ist bzw. mentale Verhaltensdispositionen in der Migration durch soziostrukturelle Bedingungen mitbedingt sind. Ertragreich fuer alle Beteiligten war der Workshop v.a. durch den gemeinsamen Austausch, der von einer grundsaetzlichen Offenheit gegenueber den unterschiedlichen Forschungsansaetzen inspiriert war. Euphorisch durch anregende Diskussionen und reibungslosen und lockeren Ablauf war man sich am Ende des Workshops einig, diesem ersten Schritt des Ueberblicks und Kennenlernens weitere folgen zu lassen, und fasste bereits ein neues, moeglicherweise zu einem Spezialthema zu organisierendes Treffen im naechsten Jahr ins Auge.

Monika Matthes
amir@zedat.fu-berlin.de


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Monika Matthes amir@zedat.fu-berlin.de
Subject: Tagungsbericht: ...Geschichte von Migrationen - Goettingen, 03/98
Date: 07.11.1998


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