Es war einmal ... im ersten Jahr nach dem Mauerfall veranstaltete die Neue Gesellschaft fuer Literatur ihre ersten Berliner Maerchentage. Aus dem damals noch kleinen Programm hat sich inzwischen ein ueppiges und vielseitiges Veranstaltungsforum entwickelt, das vom Deutschen Kinderhilfswerk mit dem Deutschen Kinderkulturpreis 1999 ausgezeichnet wird. Berlin ist von der UNICEF zur Hauptstadt des Kindes gewaehlt worden und in dieser Stadt fanden vom 9.9.1999 bis 26.9.1999 die X. Berliner Maerchentage statt. Mit ueber 700 Veranstaltungen lockten die Maerchentage Kinder und Erwachsene, Laien und Wissenschaftler oder auch nur Geniesser von maerchenhaften Geschichten inihre Phantasiewelten.
Besonderer Hoehepunkt war das Symposium "Maerchen in unserer Zeit", das am Sonntag, den 12.9.99 von 11.00 Uhr -17.30 Uhr in der Humboldt-Universitaet stattfand. An diesem Tag setzten sich Wissenschaftler, renommierte Maerchenerzaehler und Maerchentherapeuten theoretisch mit dem Maerchen auseinander. Eingeleitet vom Kulturwissenschaftler Paul Werner Wagner, praesentierten am Vormittag drei massgebliche Maerchenforscher mit einleitenden Vortraegen das Thema. Prof. Dr. Heinz Roelleke, Literaturwissenschaftler und Volkskundler, der heute an der Bergischen Universitaet - Gesamthochschule Wuppertal lehrt, gab einen Ueberblick ueber die genetische Entwicklung der Maerchen der Gebrueder Grimm. Das Fazit: bis heute ist der Ursprung vieler Maerchen einfach nicht festzulegen. Viele haben anhand von kleinen Indizien versucht, die Maerchen zeitlich und raeumlich zu verorten. Doch ist diese Festlegung haeufig ein Irrtum, der auf wissenschaftliches Glatteis fuehrt. Die Maerchen sind in jeder Hinsicht polygenetisch, sie sind sozusagen ein Fluss, der sich aus vielen Quellen speist und in jeder Landschaft wieder einen ganz eigenen Charakter annimmt, gleichzeitig jedoch ein und derselbe Fluss bleibt.
Dass Maerchen uralt seien, paraphrasierte auch Prof. Dr. Lutz Roehrich, der in das Thema Maerchen und Kulturgeschichte einfuehrte, als "romantisches Vorurteil". Maerchen gewinnen in ihrem erzaehlten Kontext und auch stark abhaengig von der erzaehlenden Person, ganz eigene Wendungen. Wieviele falsche Urteile es bezueglich der Herkunft von Maerchen gibt, wieviele Fehlschluesse bereits gezogen wurden, verdeutlichte Roehrich, der ehemalige Direktor des Instituts fuer Volkskunde und des Deutschen Volksliedarchivs in Freiburg, mit der Zuspitzung: "Aus der Tatsache, dass in den Grabkammern der Pharaonen keine Draehte gefunden wurden, darf man nicht schliessen, dass sie schon die drahtlose Telegraphie kannten."
Prof. Dr. Ruediger Steinlein, Prof. fuer Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universitaet, Berlin, fragte nicht nach Herkunft und Entstehungszusammenhaengen von Maerchen. Ihn interessiert ihre Funktion, insbesondere ihre paedagogische Inanspruchnahme fuer die Erziehung von Kindern. Wieso werden gerade Maerchen als klassische Kinderliteratur gehandelt, wie Bruno Bettelheim es 1975 postulierte? Auch wenn die 68er Generation Maerchen groesstenteils als reaktionaere Erziehungsmuster ablehnten, sieht Bettelheim ihre wichtige Funktion fuer die kindlicheEntwicklung, denn aus ihnen erfahre man mehr "ueber die inneren Probleme des Menschen (...) und ueber die richtigen Loesungen fuer seine Schwierigkeiten in jeder Gesellschaft (...) als aus jeder anderen Art von Geschichten im Verstaendnisbereich des Kindes." (B. Bettelheim, Kinder brauchen Maerchen, Stuttgart 1977, S. 11).
Steinlein propagiert das Maerchen als eine von vielen Methoden, Kindern einen altersgerechten Lerneffekt zu vermitteln: "Kinder koennen in jedem Fall nach wie vor auch noch Maerchen (verschiedenster Art und Herkunft) gebrauchen - naemlich als geeignetes, d.h. auf ihre unbewussten Probleme und Konflikte antwortendes, ihnen kuenstlerisch-symbolische Gestalt gebendes und somit humanisierendes Phantasiepotential!"
Am Nachmittag hatten die rund 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmer Gelegenheit, Probleme in mehreren Workshops vertiefend zu diskutieren. Hilfreich war dafuer ein Tagungsreader, in dem die wichtigsten Texte zusammengefasst waren, und der jedem Teilnehmer kostenlos zur Verfuegung gestellt wurde. Zentrale Fragen waren dabei "Volksmaerchen und Tradition", geleitet von Prof. Dr. Heinz Roelleke, "Uebernatuerliche Wesen im Maerchen", geleitet von Prof. Dr. Lutz Roehrich, "Die Eignung der Maerchen fuer Kinder", geleitet von Prof. Dr. Ruediger Steinlein und Prof. Dr. Kristin Wardetzky, "Faszination Maerchen - Grausamkeit oder Lebensweisheit?", geleitet von Sigrid Frueh und Sylvia Studer-Frangi und schliesslich "Maerchen im Managementtraining" mit Renate Franke-Kuehnemuth.
Im abschliessenden Plenum wurden unter der Leitung von Dr. Horst-Dieter Klock, dem Initiator und Leiter der Berliner Maerchentage die Ergebnisse der Arbeitsgruppen zusammengetragen.
Von: Dr. Petra Weckel
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