Der folgende Artikel ist ein PrePrint eines Tagungsbeitrages, gekuerzt um Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Formatierungen. Der vollstaendige Text findet sich als Webseite unter: http://ourworld.compuserve.com/homepages/JLinder/mabuse.htm Kommentare und Anregungen erbeten on-list an <h-soz-u-kult@h-net.msu.edu> oder off-list an <JLinder@csi.com>.

"Fahnder und Verbrecher in Fritz Langs deutschen Polizeifilmen"

Joachim Linder, Muenchen

Vorbemerkung

Im letzten seiner Mabuse-Filme, in Die 1000 Augen des Dr. Mabuse (1960), re-inszeniert Lang den Auto-Mord aus dem Testament des Dr. Mabuse (1932, die Sequenz E 127 ff.): die Stadtumgebung signalisiert Wiederaufbau, die Autos sind neu und die Waffe stammt aus den Forschungslabors der amerikanischen Militaers, aber ansonsten ist alles wie gehabt, nicht nur der modus operandi, sondern auch die 'kriminellen Typen', die den Mordauftrag ausfuehren. In der folgenden Sequenz kommt der Kommissar ins Bild, der diesmal den Psychiater entlarven wird, der als Dr. Mabuse die Herrschaft an sich reissen will. Kommissar "Kras" sitzt an seinem Schreibtisch und liest nicht etwa Akten, er bildet sich vielmehr weiter in einem dickleibigen Band mit dem Titel "Die Psychologie des Verbrechens". Der Film aus den sechziger Jahren bezieht sich unuebersehbar auf die Vorgaenger der dreissiger Jahre: Ihr Thema waren schon die 'Bilder des Verbrechens' und ihre Transformationen in den unterschiedlichen Praesentationsformen; die "1000 Augen" stehen nicht bloss fuer die vollstaendige Ueberwachung durch den Verbrecher, sondern auch fuer die vielfaeltigen Formen, in denen der Verbrecher gesehen wird und in denen er sich selbst sieht. Dazu passt, dass der Kommissar der sechziger Jahre in einem jener Kompendien liest, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Konjunktur hatten, einem der mehr oder minder 'populaeren' Gesamtueberblicke ueber das Verbrechen, seine Psychologie, seine Anthropologie, seine Wirklichkeit usw. Sie koennen - wie Lombrosos Oeuvre letztlich auch - als Beispiele dafuer verstanden und untersucht werden, dass ueber Kriminalitaet nur als Konstrukt bestimmter Medien- und/oder Diskurskonstellationen diskutiert werden kann; ich muss dies hier nicht ausfuehren (vgl. dazu Loeschper und Linder und Ort, beide im Ersch.). Dass die Konzeption, Rezeption und Verarbeitung lombrososcher und anderer Kriminalitaetsvorstellungen im Rahmen einer allgemeinen Diskussion der Medikalisierung und/oder Biologisierung von Kriminalitaet und Abweichung zu verstehen ist (nicht nur in Deutschland), ist ein Thema der Tagung, auf das ich mich nur punktuell einlassen kann (s.u.). Und schliesslich kann ich auch nur en passant darauf verweisen, dass in der Konkurrenz der populaeren Medien nach der Wende zum 20. Jahrhundert (in der 'schoenen Literatur', die schon lange nicht mehr nur in Buchform erscheint, und vor allem im Film) die Darstellung von Kriminalitaet und ihrer Verfolgung (also die Ordnungsstoerung und die Wiederherstellung von Ordnung) eine herausragende Rolle spielt: der Markt ist aufnahmefaehig (nicht umsonst spricht Heinz Steinert von der Strafjustiz als einem Teil der 'Kultur- und Unterhaltungsindustrie', vgl. Steinert 1997, S. 104). Die Konkurrenz der Kriminalitaetsdarstellungen foerdert Homogenisierungstendenzen; die Grenzen zwischen 'authentischer' und 'fiktionaler' Kriminalitaetsdarstellung werden durchlaessiger, die Bilder und Vorstellungskomplexe flottieren schneller und machen sich weitgehend frei von der Rueckbindung an bestimmte Textsorten und/oder Praesentationsformen (und den damit verbundenen Legitimationsstrategien).

Ich werde mich im folgenden im wesentlichen auf zwei Filme von Fritz Lang konzentrieren, naemlich die beiden 'Polizeifilme' aus den dreissiger Jahren: M - Eine Stadt sucht einen Moerder (1931, zitiert M) und Das Testament des Dr. Mabuse (produziert 1932, zitiert Testament). Mein Interesse richtet sich vorwiegend auf die Praesentationen/Konzeptionen von Fahndung, von Verbrechern und ihrem Verhaeltnis zur Polizei sowie die Reflexion der medialen Repraesentation von Kriminalitaet und Strafverfolgung.

Fahnder und Verbrecher

Der Detektivroman erzaehlt bekanntlich zwei Geschichten aus verschiedenen Vergangenheiten: die Geschichte der Detektion, und die des Verbrechens, das der Aufklaerung zeitlich vorausliegt (vgl. dazu Schulze-Witzenrath 1979, Huehn 1998). Das literarische Genre erkennt das Prinzip der Fahndung nach dem unbekannten Taeter: Der Fahnder muss sich stets ein Bild vom Taeter machen, das so vorlaeufig wie fiktiv ist. Er greift zurueck auf individuelle und 'ueberindividuelle' (gespeicherte) Erfahrungen (die man in den Polizeihandbuechern etc. finden kann, vgl. dazu diesem Aspekt Becker 1992a Becker 1992b, Becker 1994). Die Suche nutzt zunaechst allgemeine Definitionen und aktualisiert sie, haeufig mit ungewissen Erfolgsaussichten. Die Polizeifahndung in M geht nicht anders vor: Die Polizei sucht zunaechst auch mit ihren Routinemitteln nach dem Kindermoerder Beckert. Sie durchkaemmt die Treffpunkte der 'Unterwelt', sie kontrolliert in Bahnhoefen und Obdachlosenasylen, immer in der Hoffnung, dass ihr der Taeter eines Tages ueber den Weg laufen wuerde (eine Taktik, deren Erfolgsaussichten bald als gering eingeschaetzt werden, die aber offenkundig zur internen Legitimation und zur Beruhigung der Oeffentlichkeit eingesetzt wird). Und parallel dazu wird quer durch die Polizeihierarchie darueber spekuliert, wie der Kindermoerder denn aussehen koennte. Eine der Routinerazzien wird im Film vorgefuehrt (gleichsam als Illustration und Dokumentation zum Telefongespraech zwischen dem Polizeipraesidenten und dem Innenminister). Ort: Eine Kellerkneipe der 'Unterwelt'; von einer Prostituierten gewarnt, geraten die Besucher in Panik, ihr Fluchtweg geht ueber eine Treppe hoch zur Strasse. Auf halber Hoehe kommt ihnen die Polizeimannschaft entgegen und drueckt sie in die Kneipe zurueck; grosse Aufregung, die Polizei wird beschimpft. Kommissar Lohmann erscheint an der Treppenkehre und bleibt stehen:

(Lohmann:) "Nanananananana, Kinder...! Macht doch keen Quatsch" [...] (Kneipenbesucher im Chor, skandierend:) "Loh-mann, Loh-mann" [...] (Stimme aus der Menge:) "Papa Lohmann" (S. 33, E. 99).

Damit ist der Rahmen definiert, Ruhe kehrt ein, die Personenkontrolle kann beginnen, die Lohmann so effizient wie ruhig-ironisch leitet. Seinem Blick entgeht nichts: er erkennt den gefaelschten Ausweis, nimmt ganz nebenbei den mutmasslichen Einbrecher in ein Pelzgeschaeft fest. Die Mannschaft und ihr Chef verrichten normale Polizeiarbeit, die ohne Zwischenfaelle bewaeltigt wird (vgl. dazu z. B. Becker 1992b sowie die dort zitierten Handbuecher und Anleitungen).

Die zitierte Sequenz stellt nicht bloss Polizeiroutine dar, sie repraesentiert Definitionen der Kriminalitaet, der Polizei sowie des Verhaeltnisses zwischen beiden. Der 'ideale' Polizist Lohmann ist mit seiner Klientel eng vertraut, er begegnet ihr stets gleichermassen streng wie freundlich, er hat Verstaendnis fuer die Situation seiner 'Kunden', laesst ihr aber nichts durchgehen; er unterscheidet wie die Ganoven zwischen 'normaler' Kriminalitaet und einer Kriminalitaet ausserhalb der geteilten Normalitaetsdefinition. An seiner Gesetzestreue besteht kein Zweifel. In Verhoeren gelingt es ihm, Vertrauen im Verhoerten/Verdaechtigten zu erwecken. Kurzum: Der Polizist traegt die Zuege eines strengen, dabei gerechten und bei aller Verkoerperung des staatlichen Strafanspruchs wohlwollenden Vaters. Mit Kommissar Lohmann rekurrieren Langs Polizeifilme auf ein Bild des Polizisten, das - zumindest in Deutschland - eine lange literarische Tradition hat: Der ermittelnde Polizist tritt in der Vaterrolle auf und wird in dieser vom Verbrecher (den er ueberfuehren soll und wird) akzeptiert. Er laesst den Verbrecher zu Wort kommen, er hoert ihm zu, er scheint sich in seine Lage versetzen zu koennen. Haeufig ist dies korreliert mit einer defizitaeren Familiensituation des Verbrechers, mit Vaterlosigkeit oder mit einem unfaehigen Vater. Indem er diese Leerstelle besetzt, bringt der Polizist den Verbrecher dazu, das moralische Unwerturteil und die juristische Verurteilung als 'richtig' einzusehen. Die Definition des Vater-Polizisten impliziert natuerlich die Vorstellung vom kindlich-unterentwickelten Kriminellen; sowohl in M als auch im Testament wird in zahlreichen Sequenzen das Vater-Kind-Verhaeltnis zwischen dem Kommissar und den Kriminellen hervorgehoben: Verbrecher zeigen sich als unerwachsen, unverantwortlich, fuehrungsbeduerftig.

Das Bild vom Vater-Polizisten Lohmann hat auch bedrohliche Zuege: "Nah. Kamera blickt unter dem Schreibtisch hervor auf Lohmann, der auf dem Stuhl mehr liegt als sitzt. Durch die perspektivische Verzerrung erscheint sein Unterkoerper vergroessert" (S. 99, E 365). Die Perspektive des Verdaechtigten, der sich vor dem Schreibtisch des Kommissars aufhaelt, wandelt sich in die des Kindes, das den Vater bei der Arbeit beobachtet. Die Merkmale der Maennlichkeit sind betont - von der Zigarre im Mund bis zum deutlich ausgebeulten Schritt; Haltung und Kleidung des Kommissars sind nachlaessig, er wirkt 'aufgeknoepft' und gleichsam verschwitzt, ein Bild der Macht bei der Arbeit, die sich nicht mit Aeusserlichkeiten aufhaelt, die sich nicht in Frage stellt oder stellen laesst. Der Vater-Kommissar ist in seinem Buero zu Hause, er schlaeft und waescht sich hier, er bricht von hier aus zum abendlichen Opernbesuch auf, ueber ein anderes 'Heim' scheint er nicht zu verfuegen.

Mit diesen Visualisierungen, die generell das Verhaeltnis zwischen Polizei und Verbrechern repraesentieren, gewinnt Maria Tatars Beobachtung der Gemeinsamkeiten zwischen Kommissar Lohmann und dem von ihm verfolgten Kindermoerder erst Plausibilitaet: Beide betreiben, in der Rolle des wohlwollenden Vaters oder des guten Onkels, das Geschaeft des Aussonderns von defizitaeren Menschen; die Grenze zwischen Ordnungshuetern und Ordnungsstoerern ist in der Tat unsicher (vgl. Tatar 1995, S. 166 f.). Die alltagsweltlich sichere Unterscheidung (die in Literatur und Film unablaessig bestaetigt scheint) loest sich auf zugunsten eines Verhaeltnisses gegenseitiger Abhaengigkeit (Vater/Kind) und der partiellen Uebereinstimmung. Weder fuer den Fahnder noch fuer den Verbrecher gilt die buergerlich-normale Grenze zwischen Arbeits- und Privatleben, beide sind Tag und Nacht im Einsatz, auch so begruendet sich Abhaengigkeit. Polizist-sein und Verbrecher-sein ist nicht Taetigkeit, sondern Eigenschaft, alternatives Merkmal der Personen, die gemeinsam 'Unterwelt' konstituieren. Das auffaelligste (dabei nicht unmittelbar pertinente) Zeichen fuer die Zusammengehoerigkeit ist das unkontrollierte Rauchen, das sowohl in Verbrecher- als auch Polizeikreisen bis zur Karikatur betont wird und auf eine Maennlichkeit verweist, die defizient, weil oral orientiert erscheint (vgl. dazu in M E 163, 164 sowie die Stammtischsequenz E 52 ff.).

Fahndungsarbeit

Die Polizei sucht (auch wenn sie eine Serientat vermutet) nach dem Taeter der jeweils letzten Tat. Sie sieht ihre Aufgabe nicht so sehr darin, die Bevoelkerung vor der (vermuteten) naechsten Tat zu schuetzen, ihre Aufklaerungsroutine ist orientiert am Sachverhalt der geschehenen Tat - und in M scheitert sie mit dieser Fahndungsmethode, denn sie hat es mit einem 'untypischen' Taeter zu tun. Tatortuntersuchungen und Spurensuche, Zeugenbefragungen in immer erweitertem Umfeld um den Fundort, Ueberwachung und Razzien an bestimmten, der Unterwelt zugeordneten Orten: All dies fuehrt nicht zum Taeter, weil sich die Suche in einem Raum verliert, den die Fahnder im Rahmen ihrer Routinen nicht strukturieren koennen. Wo im Prinzip jeder (Mann) verdaechtig ist (vgl. dazu Kanzog 1997, S. 111), sind alle moeglichen Aufenthaltsorte gleichermassen relevant oder irrelevant. Auch die 'physiognomischen Erfahrungswerte' (die 'gespeicherten' Bilder vom Verbrecher) verlieren ihre Gueltigkeit, wo sich hinter jedem 'Normalgesicht' der Taeter 'verstecken' kann, so wie sich der falsche Blinde mit der dunklen Brille tarnt (vgl. E 183, S. 56 f.). Das physiognomische Alltagswissen nuetzt nur im Hinblick auf den 'alltaeglichen Verbrecher' (den also, den die Polizei ohnehin schon kennt), es fuehrt so wenig zu Beckert in M wie zu Professor Baum im Testament. Es kennzeichnet den herausragenden Polizisten Lohmann (und verbindet ihn wiederum mit dem Ganovenhauptmann Schraenker), dass er den Fahndungsumschwung in M herbeifuehrt, indem er die Abkehr von der Raumfahndung vorschlaegt (so wie er im Testament den entscheidenden Hinweis auf Professor Baum erst durch die 'Lektuere' der unterschiedlichen Raumbewegungen erhaelt, vgl. dort E 376). Anstatt sich weiter ziellos im Raum zu bewegen und auf die mehr oder minder zufaellige Begegnung mit dem Moerder zu hoffen, schlaegt Lohmann die 'Fahndung in der Zeit' vor - er besinnt sich auf die Staerke der (Strafverfolgungs-) Behoerden, naemlich die Produktion und Archivierung von Texten (der Filmkommissar gesteht implizit zu, dass eine Detektions- und Praeventionsstrategie, die in jedem Buerger den potentiellen Verbrecher sieht, nur begrenzte Erfolge verspricht). Die Texte, die in den Akten enthalten sind, enthalten Biographien (Geschichten der Abweichung), die in die Zukunft fortgeschrieben werden koennen (als Gedankenexperimente) und die Zahl der moeglichen Taeter ganz erheblich einschraenken. Verdaechtigt wird, wer in der Vergangenheit Devianz gezeigt hat, und zwar spezifische Devianz; Lebensspuren werden ausgewertet, die als Texte auf Dauer gestellt, gespeichert und archiviert wurden. Die Detektion foerdert auf diese Weise Geschichten zutage, die zur eigentlichen Verbrechens- und Verbrechergeschichte hinfuehren. Die weitere Ermittlung verbindet die Erkenntnisse aus der Lebensgeschichte Beckerts mit den Spuren, die der Taeter hinterliess, als er den Brief an die Zeitung verfasste, der ihn repraesentierte und bekanntmachte. Der Text ist erfolgreich, weit ueber die Intentionen seines Autors hinaus (vgl. E 190 ff., S. 58 f.). Fahndung in der Zeit setzt Lese- und Deutungsfaehigkeit sowie Vertrauen in die Repraesentationsfunktion von Texten voraus: Hier demonstriert Lohmann seine Staerken - auch im Testament, wo er z. B. die Kratzer in der Fensterscheibe unmittelbar als Schrift und als Mitteilung des verschwundenen Hofmeister erkennt (vgl. E 81 ff.). Die Polizei erweist sich in Langs Filmen als Teil der Institutionen, die Aussonderung und Abgrenzung, Ordnungserhaltung und Wiederherstellung mithilfe symbolischer Repraesentation betreibt. Dies unterscheidet sie (bei aller partiellen Uebereinstimmung der persoenlichen 'Ausstattungen) denn doch fundamental von ihrer Klientel.

Lesefaehigkeit ist deren Staerke naemlich nicht; trotzdem ist auch die Fahndung der Bettler- und Ganovenorganisationen nach dem Kindermoerder erfolgreich: Waehrend die Polizei freilich allein den Taeter sucht und zunaechst auf das Auftauchen der Moerderphysiognomie wartet (Opferschutz ist nicht ihre Prioritaet), richten die Unterweltler ihre Aufmerksamkeit auf die (potentiellen) Opfer. Auch sie ueberwachen den Raum der Stadt. Doch den Ganoven gelingt, was der Polizei missraet: Indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die Kinder lenken, erhaelt der Raum der Grossstadt eine einfache Struktur - entweder ist ein Kind anwesend oder nicht. Der Blickwechsel, den die Ganoven vollziehen, haengt damit zusammen, dass sie die Serienverbindung der einzelnen Mordtaten nicht nur erkennen, sondern auch ernst nehmen (uebrigens auch im Hinblick auf den populistischen Effekt, den die Moerderjagd als Kinderschutz hat, vgl. das Gerichtsverfahren am Ende des Films). Die Relevanzzuschreibung erfolgt im Raum als einfache Ja/Nein-Entscheidung, die jeder Beobachter unmittelbar und ohne Ruecksprache mit einer Zentrale treffen kann. Einfach und wirksam ist auch die Kommunikation zwischen den Beobachtern und der Zentrale durch Boten oder Telefon. Die Organisation der Fahndung bezieht sich klug auf die Moeglichkeiten und die Faehigkeiten der Beteiligten. Unuebersehbar produziert die Unterwelt in M ihren Fahndungserfolg durch die Orientierung an der zeitgenoessischen Fabrikarbeit: strenge Hierarchisierung, enger Entscheidungsspielraum vor Ort, eindeutige Anweisungen und geringe Anforderungen an den einzelnen (vor allem im Hinblick auf Gedaechtnisleistung, Schriftbeherrschung und Kommunikationsfaehigkeit). So wird aus dem Raeuberhauptmann der Manager.

Der Erfolg der Ganoven verdankt sich ihrem abgestimmten, gemeinsamen Handeln. Demgegenueber tritt die scheinbare Identifizierung des Moerders durch den 'blinden Zeugen' in den Hintergrund. Der Blinde verbindet zwar Ballonkauf, Moerderlied und den Tod der Elsie Beckmann, er kann aber nicht belegen, dass der Moerder und das Kind sich ueberhaupt begegnet sind. Seine - dramatisch vorgebrachte - Beschuldigung fuehrt lediglich dazu, dass Beckert zusammenbricht, gesteht und sich als krank darstellt. Es ist die Schnittfolge, die suggeriert, dass er Beckert als den Moerder identifiziert - dies koennte er gar nicht. Der Film spielt an dieser Stelle mit dem Alltagswissen, dass Blindheit die anderen Sinne schaerft, er stattet den Zeugen zudem mit besonderer Glaubwuerdigkeit aus: er ist, obwohl Bettler, tatsaechlich blind. Trotzdem ist seine Beschuldigung Hypothese, eines der 'Gedankenexperimente' der Detektion. Es ist auch nur konsequent, dass am Ende der Jagd auf den Moerder nicht die subtil-kriminalistische Ueberfuehrung steht, sondern das Gestaendnis des Taeters im Rahmen der Prozessinszenierung.

Das 'Tribunal der Unterwelt' (Kracauer), das im Keller der alten Schnapsfabrik ablaeuft (E 403 ff., S. 106 ff.), ist hoechst eindrucksvoll in Szene gesetzt, bemerkenswert schon deshalb, weil sich der deutsche Film mit Gerichtsszenen traditionellerweise (und bis heute) schwer tut (vgl. dazu Drexler, im Ersch.). Die Ganoven - zumal der Schraenker (vgl. E 276, S. 79) - belohnen sich gleichsam fuer die gelungene Fahndung, indem sie den symbolischen (und damit auch unterhaltenden) Teil der Strafjustiz in eigener Regie uebernehmen. In dieser Verhandlung bleibt lediglich die Rolle des Anklaegers unbesetzt; doch der Schraenker, der den 'Vorsitz' fuehrt, laesst an seiner Stelle das Publikum 'mitspielen', und er nimmt deren lautstark angemeldeten Forderungen zielsicher auf:

(Schraenker:) "Der Angeklagte hat gesagt, dass er nicht anders kann. Das heisst also: dass er morden muss! Und damit hat er sich selber sein Todesurteil gesprochen. [...] Ein Mensch, der von sich selbst sagt, dass er zwangsweise fremdes Leben vernichtet, [...] dieser Mensch muss ausgeloescht werden wie ein Schadfeuer! [...] Dieser Mensch muss ausgerottet werden! Dieser Mensch muss weg!" (S. 116 f., E 449 f.) - (Schraenker, zum Thema Irrenhauseinweisung:) "Und eines schoenen Tages faengt das Morden-Muessen wieder von vorne an? Wieder monatelange Hetzjagd. Wieder Paragraph einundfuenfzig! Wieder Irrenhaus! Wieder Ausbrechen oder Entlassen werden! Und wieder: Morden-Muessen! und das geht weiter, bis in alle Ewigkeit, Amen?" (S. 119, E 463).

Aus der Sicht des Endes waere es fuer die Ganoven risikoloser gewesen, den Moerder gleich um die Ecke zu bringen: Rache- wie Sicherheitsbeduerfnis waeren befriedigt, der Taeter 'unschaedlich' gemacht - und die Verbrecherversammlung waere auf dem ihr angestammten Terrain geblieben. Freilich: auf den Effekt des symbolischen Zurechnens, Beschuldigens und Ausgrenzens (der ja auch ein Effekt der Selbstdefinition ist) haetten die Ganoven dann verzichten muessen; sie haetten die eigene Abscheu vor dem Monster nicht so unmissverstaendlich zum Ausdruck bringen koennen. Man kann, wie Kanzog (1997, S. 116), das Ende des Films mit dem Einschreiten der Polizei als Absage an jede Selbstjustiz verstehen. Man wird dieses Ende jedoch auch auf die Definition des 'kriminellen Menschen' beziehen muessen: Mit ihrem Tribunal ueberschreiten die Kriminellen die Grenzen ihres Bereichs, der nur 'eigentliche', direkt-folgenorientierte Handlungen kennt. Die Zuschreibung von Bedeutungen, die ueber diese Grenze hinausweisen, haben sie den Gerichten und den Kriminologen zu ueberlassen, denen also, die sich professionell mit der Kriminalitaet befassen. Der Uebergang in den Bereich des symbolischen Handelns ist als Uebertretung zu verstehen, die ganz folgerichtig von der Polizei beendet wird. Bei allem Wohlwollen laesst sich der Vaeter-Staat auf seinem ureigenen Terrain keine Konkurrenz machen: Mit dem Moerder kann die Polizei gleich die Ganoven verhaften, die ihn aufgespuert haben.

'Berufsverbrecher'

Der Verbrecher, der seinen Lebensunterhalt auf kriminelle Weise verdient, zeigt seine wahre Leistungsfaehigkeit offenkundig erst, wenn er in ein hierarchisches System des Befehlens und Gehorchens eingespannt ist. In M wird die Autoritaet des Schraenkers freiwillig anerkannt, als Voraussetzung fuer Arbeitsteilung und Risikoabsicherung. Im Testament erweist sich dieser 'Verbrechertyp' als anfaellig dafuer, Selbstbestimmung gaenzlich aufzugeben und sich der 'Despotie' des 'Mannes hinter dem Vorhang' auszuliefern. Die Polizeifilme aktualisieren und transformieren das Muster der Raeuberromane des 19. Jahrhunderts (vgl. dazu Dainat 1996). Der Raeuber wird auf der Basis von Merkmalszuschreibungen charakterisiert, die seine Ausgrenzung rechtfertigen: ungebremste Sinnlichkeit, Gegenwartsbezogenheit, Unfaehigkeit, Wunscherfuellung aufzuschieben, dazu Tendenz zur Gewalt bzw. handgreiflichen Problemloesung. Hinzu kommt seine Unfaehigkeit, sich einzufuegen - sein Soziabilitaetsdefizit, dass dazu fuehrt, dass auch Bandenbildungen nicht auf Dauer gestellt werden koennen. Doch es gehoert auch in die literarische Tradition, dass Raeuberbanden keineswegs aus arbeitsscheuen Menschen bestehen, im Gegenteil: schon im Raeuberroman organisiert der Hauptmann und seine Unterleute Arbeit derart, dass regelmaessige Einkommen erzielt werden. Im Scheitern dieser Ansaetze wird das eigentliche Differenzkriterium sichtbar: Raeuber koennen (aus der Sicht der literarischen Konstrukte) nicht mit Geld umgehen. Der Buerger sieht in der regelmaessigen Lohn- oder Gehaltszahlung den Vorteil der Verstetigung, er kann planen - er kann sparen, er kann das Gesparte spaeter investieren usw., dabei sind die Summen (zumindest in der Vorstellung), die er erhaelt, stets geringer, als die Sore, die der Ganove aus dem gelungenen Coup erloest. Der Raeuber bzw. der Ganove (so ist immer die Vorstellung) nutzt seinen Geldeingang stets nur zur unmittelbaren Wunschbefriedigung - Saufen, Fressen, Weiber. Er verweigert sich der Verstetigung der Lebenshaltung, die als Voraussetzung eines stetigen Geldumlaufs und so einer 'gesunden' Wirtschaft gesehen wird. Aus dieser Sicht entzieht sich der Raeuber dem regulaeren Waren- und Geldumlauf; er gilt als Parasit, der durch unmittelbaren Konsum Werte vernichtet. Die Terrorherrschaft , die im 'Testament des Dr. Mabuse' imaginiert ist, wird paradox: Sie will die Vernichtung der Werte im grossen Stil betreiben (tut dies auch, vgl. die Falschgeldproduktion und die imposante Visualisierung der explodierenden Fabrik, Testament, E 437 ff.), sie ist aber darauf angewiesen, dass die ausfuehrenden Kriminellen die Vernichtungsarbeit wie einen buergerlichen Beruf betreiben.

Auf die Figuren "Schraenker" (in M) und "Kent" (im Testament), die sich im Kontext der 'Berufskriminalitaet' je spezifisch profilieren, kann ich nur hinweisen: Der Schraenker ist ein autoritaerer Anfuehrer, der die Defizite des 'kriminellen Typs' keineswegs ueberwindet (also als Abwandlung der traditionellen Figur des Raeuberhauptmanns gesehen werden kann); Kent als die einzige Figur, der der Uebergang bzw. die 'Rueckkehr' in das buergerliche Leben zu gelingen scheint.

Der Serienkiller Beckert

"Aus dem Eingang eines Mietshauses kommt der Moerder; er geht nach links aus dem Bild" (E 191, S. 58 f.) Der Stand eines fahrenden Obsthaendlers. [...] Hinter dem Obstkarren steht, in Hut und Mantel, der Moerder. Genussvoll beisst er in einen Apfel und bedeutet dem Verkaeufer, der ihm eine Tuete fuellt, noch einen Apfel mehr einzupacken" (E 199, S. 61).

Ordentlich und unauffaellig tritt Beckert aus dem Hausflur ins Nachmittagslicht der Strasse. Er ist die einzige erwachsene Figur in M, die nicht ueber ihre Arbeit (als Polizist, Wirt oder Verbrecher, als Waescherin oder Prostituierte) definiert ist. Beckerts Auftreten signalisiert: Er hat Zeit, durch die Stadt zu flanieren. Der Film thematisiert seine Taetigkeitslosigkeit nicht; sicher ist jedoch, dass er aus der Anstalt nicht in eine alte Taetigkeit oder ins Elend oder in eine Familie entlassen wurde. Er lebt allein, und wie sein ganzes Verhalten zeigt, in einiger Bequemlichkeit. Als 'Normalmensch' bewohnt er sein moebliertes Zimmer; er liest die Zeitung, die er sich von der Wirtin ausleiht, nimmt seine frugalen Mahlzeiten ein, bummelt an Schaufenstern vorbei und kehrt in einem Cafe ein. Ganz wie die Kinder, die dann seine Aufmerksamkeit erregen, betritt er die Strasse ohne erkennbare Absicht, ohne Ziel: Seine Affinitaet zur Kindlichkeit, zur Sphaere der Kinder, drueckt sich vor allem im Verhalten aus, nicht nur in seinen 'kindlichen Zuegen'.

Beckert ist der Moerder, fuer den ihn Polizei und Ganoven halten, daran ist kein Zweifel. Fragwuerdig ist das Deutungsmodell 'Krankheit/krankhafte Triebhaftigkeit', in das seine Taten eingespannt werden. Mit seinem 'Gestaendnis' gelingt es ihm ohne Zweifel, Verstaendnis und Mitleid zu erregen, und zwar sowohl bei den Zuschauern im Gerichtssaal, als auch bei den Zuschauern im Kino. Er stellt sich als Opfer eines nicht beherrschbaren Triebes dar. Die Krankheit ist das Fremde in ihm, das ihn steuert: Heteronomie. Das deckt sich mit dem, was in der Polizei-Konferenz hypothetisch ueber den schwer pathologischen Moerder gesagt wurde - und auch der Schraenker zoegert keine Sekunde, das Krankheitsmodell in seine Ausmerze-Argumentation einzubauen. Der Film bietet Konstrukte an, die in einem Zirkel aus Spekulationen ueber die Taeterpersoenlichkeit und Gestaendnisdeutungen bestaetigt werden. Alles passt - um im Krimi-Jargon zu bleiben - zu gut zusammen: Wenn eine Filmfigur es darauf absaehe, einem drohenden Todesurteil der Justiz zu entgehen, dann koennte sie ohne Zweifel die Strategie waehlen, die Beckert vorfuehrt. Akzeptiert man die Selbstdiagnose, dann werden alle Verhaltensweisen als Zeichen fuer die Krankheit plausibel, z. B. sein heftiges Atmen beim Anblick eines kleinen Maedchens (E 208, S. 63), das zwanghafte Pfeifen der Peer-Gynt-Melodie usw. Doch Symptome, die in jeder Situation auf die Krankheit verweisen wuerden, sind alle diese (gewiss merkwuerdigen) Verhaltensweisen nicht.

"Aber ich bin noch nicht am Ende" (E 30, S. 16) schreibt Beckert in seinem Brief an die Zeitung. Der Taeter kuendigt die 'planmaessige' Fortsetzung der Serie an, doch am Ende weiss er sich als fremdbestimmt durch Krankheit darzustellen. Wer sich an dieser Stelle auf die alte Diskussion einlaesst, ob der kranke Taeter zur Planung faehig ist - oder ob Planung gegen die Krankheit spricht, der folgt moeglicherweise einem vom Film gelegten red herring. Auf diese Weise ist die Ambivalenz der Figur nicht aufzuloesen; die Frage ob 'Mordlust' oder 'Lustmord' ein kommunikables Motiv ersetzen koennen, muss offen bleiben. Alltagsdeutung, aber auch Justiz und kriminologische Wissenschaften haben bekanntlich Schwierigkeiten mit Taetern, deren Motive fuer eine Tatserie (sei es des Diebstahls, der Brandstiftung oder der Toetung) nicht offenkundig oder nicht akzeptabel erscheinen. Diese Schwierigkeiten sind mit dem Anwachsen der biologischen, anthropologischen, medizinischen und psychologischen Erklaerungsanspruechen des wissenschaftlichen Diskurses seit dem Ende des 19. Jahrhunderts noch gewachsen und muenden mit einiger Regelmaessigkeit in die Konzeptionen von Triebhaftigkeit, Degeneration und Vererbbarkeit, die auf tautologische Weise ein atavistisches 'Krankheitsbild' konstituieren, das dem von Lombroso anthropologisch und semiotisch (phrenologisch, physiognomisch) konstruierten homo delinquens gleichkommt. Die Diskussion darueber, ob der Serienkiller gesund oder krank ist, hat - nicht zuletzt deshalb, weil diese Diskussion in das Strafverfahren gehoert - regelmaessig zur Folge, dass die Opfer ausgeblendet werden. Und doch definieren sie die Serie. Die Frage, ob ihre (gemeinsamen) Eigenschaften Rueckschluesse auf die Motive des Taeters zulassen, wird oft unzulaessig ausgeblendet. Nicht so im Film Langs:

Die Informationen ueber Elsie Beckmanns Opfereignung sind durchaus handfest: Sie ist allein unterwegs, waehrend ihre Mutter zu Hause offenkundig als Lohnwaescherin arbeitet. Der Vater bleibt unsichtbar, es gibt kein Zeichen, das auf ihn verwiese. (Andere Vaeter begleiten ihre Kinder auf dem Weg zur oder von der Schule, andere Muetter begleiten ihre Kinder auf der Strasse.) Der Gedanke, dass eine alleinerziehende Mutter mit Arbeit und Kind notwendig ueberlastet ist, liegt nahe. Aus dieser Zwangssituation gibt es fuer die Proletarierin keinen Ausweg. Man kann also den Aufruf am Ende des Films, mehr auf die Kinder aufzupassen, nicht nur als unmittelbaren Appell an die Eltern interpretieren, sondern auch als Hinweis auf die Normfamilie, die allein die Voraussetzungen fuer das gedeihliche Aufwachsen von Kindern zu bieten scheint. Die Ratio der Beckertschen Toetungsserie waere also im Rahmen sozialdarwinistischer, eugenischer, rassehygienischer und/oder degenerationstheoretischer Diskurse zu rekonstruieren. Zugespitzt: Sie nimmt eine gesellschaftlich verbreitete Abwertung von Proletarierfamilien, sowie der Anlagen und Chancen ihrer Kinder auf und macht (auf monstroese Art) Ernst mit ihr. Insofern verdeckt die Diskussion darueber, ob Beckert krank ist (unfaehig, seinen Trieb zu steuern) oder ein boeses Monster (der seinen Trieb ungeniert auslebt), dass Beckert exekutiert, was in den Diskursen ueber Fortpflanzung, ueber Degeneration und Proletarisierung usw. usf. angedacht und angedeutet wird.

Der "Schraenker" jedenfalls ist mit seiner Argumentation fuer die Ausmerzung des 'kranken' Serientaeters durchaus auf der Hoehe zeitgenoessischer Diskussionen: die Gesellschaft muss sich schuetzen, vor den unheilbar koerperlich oder geistig Kranken, vor denen, die Angehoerige und Staat emotional und finanziell schwer und unabsehbar belasten; die Legitimitaet und Praxis der Todesstrafe ist eines der Argumente, die stets fuer die 'Vernichtung lebensunwerten Lebens' (vgl. - fuer viele - Binding und Hoche 1920) angefuehrt werden, und jedes Argument fuer die Toetung unheilbar Kranker bestaetigt wiederum die Todesstrafe, denn: die Gesellschaft kann kein "Interesse an der Erhaltung eines stets wieder rueckfaelligen, sozial also unheilbaren Verbrechers, eines Bloedsinnigen, eines Krebskranken [...]" haben (Pelckmann 1990 (1923), S. 119, vgl. Linder und Ort, im Ersch.). Gewiss rettet die Polizei am Ende Beckert davor, Opfer einer Lynchjustiz zu werden, mit der die Ringvereine zu 'normalen' kriminellen Verhaeltnissen zurueckkehren wollen. Doch nun ist die Justiz vor die Frage gestellt, ob sie die Logik der Ausmerzung auch auf ihn, den insgeheimen Vollstrecker, anwenden will.

Man kann die beiden Interpretationsstraenge verknuepfen: Vom Erwachsenen wird erwartet, dass er die 'asozialen' Triebe in sich unterdrueckt, gleichsam abtoetet. Beckert externalisiert dies, er toetet die Kinder, die er als Ebenbilder des einsamen Triebkindes in seinem Inneren wahrnimmt. Indem er diesem 'davonzulaufen' versucht, erreicht er es immer wieder in der Aussenwelt. Die Mordtat waere als der immer vergebliche, deshalb immer wiederholte Versuch zu werten, sich als Erwachsener zu praesentieren, als das 'ich', das er in seinem Schreiben an die Presse hervorhebt, E 30, S. 16). Auf monstroese Weise kann Beckert sich mit seinen Taten als sozial nuetzlich und somit als erwachsen darstellen: Er toetet in den unbeaufsichtigten, vaterlosen Kindern die zukuenftigen, potentiellen Monster. Das Boese tilgt das Boese, so wie die Verbrecher in ihrem Tribunal den Verbrecher strafwuerdig ausmerzen wollen. Das Boese ist auf diese Weise in der Gesellschaft nicht zu tilgen. Dies fuehrt auch noch einmal zurueck zum 'vaeterlichen Kommissar', der in seiner Berufspflicht aufgeht und ganz an die Verfolgung von Verbrechern wie Beckert oder Dr. Mabuse gebunden bleibt: Er ist im Zweifel ein Vater, der die eigenen Kinder vernachlaessigt.

Dr. Mabuse und die Herrschaft des Textes

"[Erich Wulffen] wurde der tiefe Kenner der dunklen Nachtseiten des menschlichen Seelenlebens; er stieg hinab in seine Tiefen und holte Schaetze herauf, die der wissenschaftlichen Welt als unverlierbares Gut zu eigen geworden sind. Der Biologe, der Psychologe, der Psychiater, der Soziologe, sie alle kehrten heim und werden heimkehren, reich beschenkt von ihrer Wanderung durch die Geisteswelt Erich Wulffens. [...] [Man strebt ihm nach,] fortgerissen von dem immer fesselnden und lebensvollen Schwung seiner Darstellung, die oft zu poetischer Kraft sich steigert, gefesselt durch die Einblicke, die Wulffen aus eigenster Erfahrung als das Ergebnis eines unermuedlichen Bienenfleisses und in verschwenderischer Fuelle darbietet [...]" (Juliusburger 1932, S. 50).

Die Faszination, die das Werk des Juristen und Enzyklopaeden der Kriminalitaet auf den Sanitaetsrat ausuebt, ist betraechtlich. Die Formulierungen des Festschriftenbeitrags machen kenntlich, worauf der Erfolg der Schriften des Ministerialrats am saechsischen Justizministerium zurueckzufuehren ist: Er ist es, der die terra incognita ausmisst, ungeachtet aller Gefahren, die dort auf ihn warten. Und sein Bericht laesst keinen Zweifel daran, dass die Kriminalitaet das schlechthin 'Andere' bleibt, auch wenn das Wissen ueber sie und ihre Ursprungsbedingungen erweitert wird. Die Grenzen bleiben gesichert, zumal dann, wenn eine aufgeklaerte Justiz ueber sie wacht. Aus dieser Sicht 'bannt' der Text 'ueber' die Kriminalitaet die Gefahren, die im direkten Kontakt mit ihr unausweichlich sind. So kann der Autor die "Gesamtdarstellung" versprechen, "welche von den Urformen des Lebens ueber das Pflanzen- und Tierreich und die Naturvoelker rechtsgeschichtlich zu dem im modernen sozialen Milieu geltenden inlaendischen und auslaendischen Strafgesetze und seiner Erklaerung bis zu den ethischen Verbesserungsvorschlaegen fuer die kuenftige Gesetzgebung aufsteigt" (Wulffen 1928, S. 11).

Mit der Figur des Psychiaters Professor Baum stellt Langs Testament diese Konzeption in Frage: Noch dort, wo die Annaeherung an die Kriminalitaet den Umweg ueber den Text nimmt, besteht die Gefahr der 'Uebertragung', an deren Beginn die Faszination steht. Baum drueckt sich so aus: Dr. Mabuse habe seine "uebermenschliche Logik und Kenntnisse der Hypnose [...] verwendet zur Ausuebung von Verbrechen, die man nicht fuer moeglich hielt" (E 59); ein "phaenomenales Gehirn", das immer schon auf der Grenze zwischen "Genie und Irrsinn" angesiedelt war, bediente sich des fast leblosen Koerpers, um in der Zelle der Irrenanstalt eine "auf unanfechtbarer Logik aufgebaute Anleitung zur Ausuebung von Verbrechen" bis ins "kleinste Detail" auszuarbeiten (E 69). Von diesem Text laesst sich Professor Baum fesseln und fortreissen; der Psychiater wird zum unsichtbaren Chef einer hocheffizienten Verbrecherbande. In Langs Dr. Mabuse, der Spieler (1922, zweiteilig) bewegte sich ein hoechst lebendiger und wandlungsfaehiger Psychiater/Psychoanalytiker, Spieler, Hypnotiseur und Frauenheld in der guten Gesellschaft; seine Faehigkeiten machten ihn am Spieltisch unschlagbar. Dr. Mabuse spielte mit Karten und Menschen, bis ihm im Staatsanwalt von Wenk ein gleichwertiger Gegner erwuchs, der sich in der Spieler-Gesellschaft zwar uneingeschraenkt bewegen konnte, der im Spiel aber nicht den Selbstzweck sah. Ihm ist zu verdanken, dass Dr. Mabuse stumm und bewegungsunfaehig, scheinbar ungefaehrlich, in die Irrenanstalt eingeliefert werden konnte. Zwar bekam ihn die Justiz nicht zu fassen (s.o.), aber vom 'lebendigen Leichnam' konnte nach allem Ermessen keine Gefahr mehr ausgehen. Schliesslich scheint der Leiter der Anstalt, eben Professor Baum, alles zu kontrollieren: Er verfuegt ueber das Bild Mabuses (das er in seinen Vorlesungen als Dia stillstellt), er verfuegt ueber seine Geschichte, seine Biographie (die er einem Studentenpublikum vortraegt, nicht ohne emotionales Involvement zu zeigen und erneut Faszinationn hervorzurufen, E 55 ff.), und schliesslich verfuegt er auch ueber seinen Koerper, der unveraendert/unveraenderlich auf der Zellenpritsche liegt.

Doch Baum taeuscht sich selbst: Nicht er uebt auf die Dauer Macht ueber den Patienten aus, der Patient verfuegt vielmehr ueber ihn. Er haette freilich gewarnt sein koennen, haette er die Geschichte seines Patienten erforscht: Mabuses Macht bestand im wesentlichen in der Virtuositaet, mit der er die von seinem Koerper ausgehenden Zeichen/Signale beherrschte (vgl. seine Wandlungsfaehigkeit und seine Leistungen als Hypnotiseur). Die Konzeption der Einheit von Koerper und Geist impliziert, dass der Koerper unwillkuerlich die inneren Vorgaenge anzeigt (mithin koennen Taeuschungen nicht von langer Dauer sein: der geuebte Physiognom erkennt sie). Fuer Mabuse gilt jedoch schon im Spieler die radikale Trennung von Geist und Koerper; der Geist beherrscht den Koerper, setzt die Zeichen, die von ihm ausgehen, willkuerlich (und beherrscht so die Reaktionen).

In der Anstaltszelle geht ein Wandel mit Mabuse vor sich, der dies noch radikalisiert und gewissermassen modernisiert, der jedenfalls als Anpassungsleistung an die neue Situation zu verstehen ist. Der Koerper scheint sich voellig vom Geist zu loesen und zum Werkzeug, zur Schreibmaschine zu werden. Die vollzieht sich in einem graduellen Lernprozess: die Hand beginnt zunaechst zu kritzeln, dann einzelne Woerter, erst spaeter ganze Saetze und Seiten zu schreiben. Die Hand wird zur Schreibmaschine, die ohne Bedienerin auskommt und auskommen muss (und so werden die beschriebenen Blaetter einfach auf den Fussboden ausgeworfen und muessen vom Waerter aufgesammelt, von Baum geordnet werden, E 84 ff.). Im Testament steht der Text, der das Verbrechen imaginiert, am Anfang der Verbrechensserie. Die Lebenszeit Mabuses endet in dem Moment, in dem sein Text (die Anweisung zur vollstaendigen Herrschaft durch Verbrechen) vollendet ist. Mit seinem Tod endet auch die Macht des Verbrechers, er wird zur Figur der Kriminalitaetsgeschichte (und der Kriminalkommissar zum Kriminalitaetshistoriker, der den Autor des Textes ausfindig machen muss, um zu erkennen, dass der Text als Script verwendet wird). Der Text verselbstaendigt sich, er, nicht Dr. Mabuse, macht Baum zum Gehilfen. Die Verbrechen, die Baum nach dem Vorbild der Imaginationen realisiert, sind die Verbrechen Baums. In dem Masse aber, in dem sich Baum in den Dienst der Imaginationen nehmen laesst, verliert er sein Ich und erst als 'lebender Leichnam' in der Zelle der eigenen Anstalt nimmt er wirklich Mabuses Stelle ein. Zwei Formen der medialen Repraesentation: der Text tritt an die Stelle von Mabuses Geist, Baum an die Stelle seines Koerpers. Die Dissoziierung von Koerper und Geist wird bis zum Bruch getrieben (der den gespeicherten Text, wie man aus der Mabuse-Serie der sechziger Jahre weiss, freilich nicht zerstoert, seine Potenz bleibt erhalten).

Anstelle einer Zusammenfassung

Langs Polizeifilme sind im Hinblick auf die Darstellung von Kriminalitaet im Kontext zeitgenoessischer, vor allem literarischer/paraliterarischer Konzeptionen zu sehen; der Ent-Schuldungs-Effekt, der in der Zuschreibung von Krankheit liegt bzw. liegen soll, wird problematisiert: Krankheit wird als Fremdbestimmung verstanden, sie entzieht Schuldfaehigkeit und persoenliche 'Motivierbarkeit', damit entfaellt aus juristischer Sicht die Legitimation von Strafe; der kranke Taeter wird nicht mehr als Person gesehen, sondern als Koerper, der einem fremden 'Willen' gehorcht. Derart auf die Spitze getriebene Fremdbestimmung macht erst recht deutlich, dass die Zuschreibung von Krankheit den Blick auf die sozialen Funktionen von Verbrechen, auf die Verknuepfung individueller Motive mit den allgemeinen Diskursen des Ausgrenzens und Aussonderns verstellt. Beide Filme, M und Testament, spielen diese Konzeption durch: Beide Taeter, Beckert und Baum, koennen als Instrumente eines 'Boesen', dessen Willen sie bewusstlos auszufuehren scheinen, gesehen werden, und noch Dr. Mabuses Hand generiert quasi automatisch einen Text, in dem sich das Boese selbst schreibt und speichert. Als Zeichenproduzenten bleiben sie selbstreferentiell. Der Text, in dem das Boese sozusagen bei sich selbst bleibt, als Anleitung zu immer neuen Verbrechen, kann offenkundig nicht zur Herrschaft gelangen. Sobald er in die Tat umgesetzt wird, hinterlaesst diese die Spuren, die den konkreten Taeter repraesentieren und den Detektionslauf in Gang setzen. Sie wird zur Kriminalitaetshistorie, die, ehe sie neue Geschichten konstruieren kann, alte Texte ausgraben und interpretieren muss. Damit wird der Blick auf die naechste Ebene gelenkt, die eingangs zitierte Lektuere der "Psychologie des Verbrechens" ist mehr als ein ironisches Zitat: sie zeigt den Kommissar beim Versuch, der Serie von Verbrechen und Verbrechensaufklaerung, von Stoerung und Wiederherstellung der Ordnung, zu entkommen auf die Ebene der Bedeutungszuschreibungen und der Konstitution von Regeln. In den Texten der Juristen und Kriminologen, der Psychiater und der Psychologen, aber auch der Literaten und Journalisten, konstituiert sich die Handlung als Verbrechen, der eine Bedeutung zugewiesen wird. Hier gewinnt Kriminalitaet Zeichenqualitaet; man braucht sich nur in der zg. Literatur umzusehen, um die einzelnen Bedeutungszuweisungen aufzuzaehlen: Krankheit der Gesellschaft, Degeneration, soziale Verwerfungen usw. Erst auf dieser Ebene wird die Konkurrenz zwischen den filmischen und literarischen und den wissenschaftlichen Repraesentationen der Kriminalitaet ausgetragen. [...]


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Joachim Linder" <JLinder@csi.com>
Subject: Artikel: "Fahnder und Verbrecher in Fritz Langs deutschen Polizeifilmen"
Date: 16.09.1998


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