Preussen, Deutschland und Europa 1701 bis 2001
26.-27. Oktober 2000 - Bildungswerk Potsdam
Ein Tagungsbericht von Juergen Luh
In Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung, Bildungswerk Potsdam, und dem Institut fuer Nord- und Osteuropaeische Studien, Groningen (NL), veranstaltete der Lehrstuhl Landesgeschiche mit dem Schwerpunkt Brandenburg-Preussen der Universitaet Potsdam vom 26. bis 27. Oktober 2000 eine internationale Fachkonferenz unter dem Titel "Preussen, Deutschland und Europa 1701 bis 2001" in der brandenburgischen Landeshauptstadt. In vier Ueberblicksvortraegen und acht Workshops befassten sich Vortragende aus Deutschland, Grossbritannien, den Niederlanden und Polen sowie rund 110 Tagungsteilnehmer mit unterschiedlichen Aspekten der Beziehungen, Einfluesse und Mentalitaeten in Preussen, Deutschland und Europa seit der Selbstkroenung Kurfuerst Friedrichs III. von Brandenburg zum Koenig Friedrich I. am 18. Januar 1701.
Im ersten Ueberblicksvortrag der Konferenz konzentrierte sich Wolf D. Gruner (Rostock) vor allem auf die machtpolitische Rolle und den Aufstieg Preussens in Europa. Der Antagonismus zwischen der neuen protestantischen Grossmacht und der katholischen Fuehrungsmacht des Reiches entwickelte sich zu einer ernsten Gefahr fuer dessen Fortbestand. Auch nach dem Zerfall des Alten Reiches blieben die oesterreichisch-preussischen Beziehungen gespannt, da die beiden Maechte zwar natuerliche Verbuendete, aber zur gleichen Zeit auch "praedestinierte" Rivalen waren. In seinem Ausblick ueber den im Vortrag abgesteckten Zeitraum hinaus bewertete der Referent das Entstehen des deutschen Nationalstaats von 1871 allerdings nicht als Stoerfaktor fuer das europaeische Gleichgewicht, da das Deutsche Reich durch seine geopolitische Lage und die daraus entstehende Gefahr eines Zweifrontenkrieges zur Integration in Europa gezwungen war.
Die drei Referate des ersten Workshops standen ganz im Zeichen der "Preussischen Tugenden". Gerd Heinrich (Berlin) richtete hier zunaechst das Augenmerk auf die Entwicklung europaeischer sowie spezifisch preussischer Tugendvorstellungen unter besonderer Beruecksichtigung des Einflusses lutherischer und calvinistischer Lehren, und kam zu dem Schluss, dass Tugendbemuehungen in Preussen in erster Linie auf ueberpersoenliche Ziele gerichtet waren und zum Erhalt des monarchischen Staates beitragen sollten. Im Anschluss an diese Ausfuehrungen stellte Oliver Hermann (Wittenberge) die Ergebnisse seiner Forschungen bezueglich der Vorbilder Friedrichs des Grossen vor. Friedrich bewunderte einerseits entschluss- und tatkraeftige Helden, andererseits Philosophen auf dem Thron, sah aber nur in der Verbindung beider Typen die Verkoerperung seines staatsmaennischen Ideals. Unter seinen eigenen Vorfahren entdeckte er die Kombination dieser Qualitaeten einzig und allein beim Grossen Kurfuersten Friedrich Wilhelm. Carel Horstmeier (Groningen) naeherte sich dem Themenschwerpunkt des Workshops von einer anderen Blickrichtung, indem er die Entwicklung des niederlaendischen Deutschlandbildes im 20. Jh. nachzeichnete und sich dabei besonders von der Frage leiten liess, inwiefern die Niederlaender Preussen auch in der DDR wiederfanden. Waehrend Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg von seinen niederlaendischen Nachbarn weiterhin als "deutsch" bezeichnet und als leicht bedrohlich empfunden wurde, neigte man hinsichtlich Ostdeutschlands bald zur ironischen Abstraktion der DDR-Buerger als "Rote Preussen". Bewunderung fuer die DDR brachten allerdings fast nur niederlaendische Kommunisten auf, denn im Ostdeutschlandbild der meisten anderen Niederlaender wurde der Antifaschismus der DDR ganz erheblich vom Eindruck des Totalitarismus ueberlagert.
Der zweite Workshop, der sich mit dem Thema "Nachbarn im Reich" befasste, wurde mit dem Vortrag von Frank Goese (Potsdam) "Preussen in kursaechsischer Sicht 1648-1786" eingeleitet. Nachbarschaft, Partnerschaft, aber vor allem Rivalitaet auf diplomatischer, wirtschaftlicher und konfessionspolitischer Ebene bestimmten im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert das Verhaeltnis zwischen Kursachsen und Brandenburg-Preussen. Die Berichterstattung in Sachsen ueber Preussen war eher nebensaechlich und die preussische Kroenung war Sachsen keinen "Leitartikel" wert. Fuer Sachsen war Preussen nur einer von vielen Nachbarn. Man hatte verhaltenen Respekt vor der preussischen Militaermacht. Die nach 1740 offensichtlich gewordene Unterschaetzung des noerdlichen Nachbarn ist darauf zurueckzufuehren, dass Sachsen seine Aufmerksamkeit mehr auf die mitteldeutschen Kleinterritorien, Boehmen und Polen richtete. Die Wahrnehmung Brandenburg-Preussens aenderte sich zeitlich; auch wurde stets ueber die regionale Heterogenitaet der Hohenzollernmonarchie reflektiert. Doch gab es nie "das" einheitliche Preussenbild in Kursachsen. Im Anschluss daran, beleuchtete Vinzenz Czech (Potsdam) die Beziehungen Brandenburgs zu seinen kleinen Nachbarn im 17. und 18. Jahrhundert naeher. Die brandenburgische Geschichte bestuende nicht nur aus dem preussisch-habsburgischer Dualismus, dem Verhaeltnis zu Sachsen oder den Beziehungen zu den europaeischen Nachbarn, sondern Brandenburg war auch eingebunden in die raeumliche und politische Struktur des Alten Reiches, das durch eine Vielzahl kleiner und kleinster unabhaengiger Territorien gepraegt war. Die Beziehungen zu diesen Nachbarn waren gekennzeichnet durch die Prinzipien des Reichsrechts, insbesondere des Lehnrechts und des dynastischen Erbrechts. V. Czech fuehrte die Entwicklung des Verhaeltnisses Brandenburgs zu seinen kleinen Nachbarn an drei Punkten aus: 1. die Politik Brandenburgs in den Reichskreisen, 2. das Verhaeltnis zu den Nachbarn als Mitglied im niederrheinisch-westfaelischen Grafenkollegium, 3. die dynastische Politik der Kurfuersten und spaeteren Koenige im 17./18. Jahrhundert. Abschliessend sprach Michael Kaiser (Koeln) ueber die preussisch-bayerischen Beziehungen 1701-1871. Fuer Preussen wie Bayern war kennzeichnend, dass sie eine ambitionierte Politik verfolgten. Zu Beginn waren beide gleichrangig, doch mit der Koenigskroenung erfaehrt Brandenburg-Preussen eine Rangerhoehung. Bayern vermochte es nicht, seine Ambitionen bezueglich einer Koenigskrone und Habsburgs Erbe erfolgreich durchzusetzten. Preussen hat Bayern als schaerfsten Konkurrenten des Hauses Habsburg abgeloest, und wurde im bayerischen Erbfolgekrieg sogar Schutzmacht des von Oesterreich bedrohten Bayerns und Retter bayerischer Selbststaendigkeit. Ungeachtet dieser Entwicklung hat Bayern seine Fuehrungsansprueche nie abgelegt ("Bayern als Hort des Deutschtums"). Als Fazit hielt M. Kaiser fest, dass der Aufschwung Preussens fuer Bayern Stagnation brachte.
Hans van Koningsbrugge (Groningen) beleuchtete im zweiten Ueberblicksvortrag das Beziehungsgeflecht zwischen den Niederlanden, Preussen, Schweden und Russland und deren jeweiligen Verbuendeten zwischen 1700 und 1709. Als Ergebnis konnte er zeigen, dass die niederlaendische Aussenpolitik dieser Zeit fast ausschliesslich von der spanischen Erbfolgeproblematik beherrscht war. In diesem Zusammenhang galten im Haag die Regierungen in Stockholm, Kopenhagen und Berlin als potentielle Verbuendete im Kampf gegen Frankreich, waehrend man Russland lange Zeit nicht einordnen konnte.
Gegenstand des dritten Workshops waren die Niederlande. Horst Lademacher (Muenster) stellte Ueberlegungen zur aussenpolitischen Position der niederlaendischen Republik im europaeischen Maechteverband und die Stellung zu Preussen an. In der zweiten Haelfte des siebzehnten Jahrhunderts stiegen die Niederlande von einer europaeischen Grossmachtstellung ab, wenn zwar nicht zur vollen Bedeutungslosigkeit so doch zu einer Position zweiten Ranges in der europaeischen Maechtekoalition. Die Beziehungen zu Brandenburg waren durch kulturellen Einfluss, dynastische Verflechtungen und engere politische Beziehungen nach 1648 gekennzeichnet. Jan G. Smit (Nimwegen) setzte sich mit den "Zielsetzungen der Inneren Kolonisation in Preussen und in den Niederlanden" auseinander. Innere Kolonisation ist ein Begriff, der sich erst nach der Reichsgruendung entwickelt hat und zu damaliger Zeit die politischen Auswirkungen der Ansiedlung neuer Bauernhoefe bezeichnete. Die Besiedlung neuer Landflaechen war schon seit langem ein sozialer und wirtschaftlicher Vorgang von lokaler und regionaler Bedeutung. Nach der Reichsgruendung wurden sie Bestandteil nationaler Ziele und insbesondere Preussen fuehrte eine solche Siedlungspolitik durch, wobei der Ansiedlung von Bauern eine Schutzfunktion zukam. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde mit dem Reichssiedlungsgesetz vom 11.8.1919 die Innere Kolonisation zur Reichssache. Damit bekam auch die Besiedlung von Moorgebieten im Westen und Wattenflaechen im Norden eine wachsende nationale Bedeutung. J. W. Koopmans (Groningen) untersuchte mit seinem Vortrag "The News about Prussia in the 'Europische Mercurius' (1690-1756)" die Art und Weise, in der die Territorien der Hohenzollern und die Regenten im Europischen Mercurius (EM), einer niederlaendischen Zeitschrift, die zwischen 1690 und 1756 erschien, beschrieben wurden. Waehrend des 17. Jh. waren die Beziehungen zwischen Brandenburg und der Niederlaendischen Republik freundlich oder zumindest neutral (bis 1713 Verbuendete in der Auseinandersetzung mit Frankreich). Der Aufbau des Vortrages orientierte sich an den Regierungen der drei waehrend der Publikation des EM aufeinanderfolgenden Koenigen Brandenburg-Preussens: Friedrich III./I. (bis 1713), Friedrich Wilhelm I. (1713-1740) und Friedrich II. (bis 1756). Im allgemeinen verfuegten die Herausgeber des EM ueber recht gute und prompte Informationen ueber Brandenburg-Preussen, die sie teilweise aus deutschen Zeitungen bezogen. Die zahlreichen Briefe und die anderen zitierten Dokumente vom preussischen Hof belegen gute Verbindungen sowohl innerhalb, als auch ausserhalb der herrschenden Eliten der Niederlaendischen Republik. Preussen und seine Herrscher wurden waehrend der meisten Jahre der Veroeffentlichung von EM positiv dargestellt. Die drei Koenige wurden selten offen kritisiert; im Gegenteil, sie wurden oft gepriesen, besonders Friedrich Wilhelm I.
Workshop 4 setzte den Themenschwerpunkt "England". Frank Mueller (Oxford) widmete sein Referat den britischen Hoffnungen auf Preussen als Traeger von Reformen, die sich das Empire im 19. Jh. fuer Deutschland wuenschte. Aus britischer Sicht war im Deutschen Bund allein Preussen in der Lage, eine defensiv modernisierende Umgestaltung der bestehenden Verhaeltnisse zu bewegen. Revolutionaere Reformbewegungen sollten dabei ebenso unterbunden werden wie der Einfluss Oesterreichs, das sich moeglichst aus der deutschen Politik heraushalten sollte. Den Schritt ins 20. Jh. machte Andreas Rose (Potsdam), der sich mit dem Preussen- und Deutschlandbild beschaeftigte, das die englische Presse in den dreissiger Jahren, ihrem Goldenen Zeitalter, verbreitete. Neben der in der britischen Auslandsberichterstattung und besonders im "Guardian" weit verbreiteten Gleichsetzung von "militarism" und "Prussianism" kam hier auch die Unterschaetzung der von den Nationalsozialisten ausgehenden Gefahr seitens Grossbritanniens zu Tage. Papens Kabinett der Barone schien als Relikt alter preussischer Eliten den britischen Korrespondenten bedrohlicher zu sein, als die jugendlich wirkenden Nazis unter einem Hitler, den man als politisch moderat empfand. Dominik Geppert (Berlin) schliesslich setzte sich mit der Rolle Deutschlands und Europas im politischen Weltbild Margaret Thatchers auseinander. Nach anfaenglichem proeuropaeischem Enthusiasmus wandelte sich die Haltung der britischen Premierministerin zunehmend ins Negative, da sie die Ergebnisse der Neuausrichtung der Agenda der EG Ende der 70er Jahre als den englischen Interessen entgegengesetzt empfand. In dem Masse, in dem ihre Versuche, die besondere Beziehung zwischen Grossbritannien und den USA wiederherzustellen und britische Vorstellungen vom europaeischen Gleichgewicht zu reaktivieren, scheiterten, wurden Deutschland und Europa fuer sie mehr und mehr zum Feind.
Den zweiten Konferenztag leitete der Ueberblicksvortrag von Peter-Michael Hahn ein, der die Entwicklung hoefischer Kultur bei den Hohenzollern in ihren europaeischen Kontext einordnete. Dass in Brandenburg eine Staedtelandschaft im Stile Italiens oder Burgunds, die Erfindungen und Kunstgueter hervorbrachte, im Umfeld des Hofs fehlte, erschwerte die Prunkentfaltung und -erhaltung in wesentlichem Masse. Darueber hinaus mangelte es Brandenburg lange Zeit an Eliten, die durch einen gesteigerten Bedarf an Kulturguetern die Entwicklung der fuer hoefische Repraesentation noetigen Infrastruktur haetten beguenstigen koennen. Erst in der zweiten Haelfte des 17. Jahrhunderts begannen die brandenburgischen Fuersten, ihren Aufwand zu vergroessern. Eine wirtschaftliche Basis fanden ihre Bemuehungen in der Tatsache, dass in Folge des Nordischen Krieges die Elbe fuer etwa 20 Jahre zu einem wichtigen Handelsweg wurde und erkleckliche Summen in die Kassen der Hohenzollern brachte. Sobald jedoch von seiten des Herrscherhauses keine Nachfrage mehr bestand, brach die Produktion von Repraesentationsrequisiten zusammen, da hoefische Kultur auf Dauer nicht ohne Staedtelandschaft bestehen konnte.
Im auf den Vortrag folgenden fuenften Workshop unter dem Titel "Kulturaustausch" fuehrte zunaechst Lothar Mertens (Bochum) die Erkenntnisse seiner Forschungen ueber das kulturelle und wissenschaftliche Leben der preussischen Juden zwischen 1848 und 1918 aus. Ueber 80% der nach Bildung draengenden juedischen Studenten in Deutschland waren an den Universitaeten Berlins und Breslaus eingeschrieben, da diese Staedte nicht nur einen ueberdurchschnittlich starken juedischen Bevoelkerungsanteil hatten, sondern auch ueber konfessionelle Bildungseinrichtungen verfuegten. Die Berufsaussichten juedischer Studenten mit Universitaetsabschluss waren allerdings schlecht, da beispielsweise Habilitationen lange Zeit Christen und getauften Juden vorbehalten blieben. Andreas Pecar (Koeln), der zweite Referent des Workshops, praesentierte eine vergleichende Studie ueber den neuen Koenigshof in Berlin und den Kaiserhof in Wien, die besonders von der Frage nach dem unterschiedlichen Umgang mit hoefischen Zeremoniellen in beiden Residenzen geleitet wurde. Waehrend in Berlin der fast vollstaendige Neubau des Schlosses ein wichtiger Aspekt der Neudefinierung des zeremoniellen Rangs der Hohenzollern war und symbolisch dessen Erhoehung unterstrich, haette in Wien eine neue bauliche Huelle nicht das alte kaiserliche Zeremoniell und den daraus abgeleiteten Anspruch beherbergen koennen, weshalb ueber Generationen hinweg keine Veraenderungen an der Hofburg vorgenommen wurden. Nach Suedeuropa lenkte im Anschluss Holger Kuerbis (Augsburg) den Blick, um anhand von Memoiren und Tagebuechern darzulegen, wie die Preussen Spanien sahen. Die Beziehungen zwischen den beiden Laendern waren bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts eher duenn und das Bild Spaniens im deutschen Raum hauptsaechlich durch die Werke franzoesischer Autoren gepraegt, die einen negativen Eindruck der iberischen Halbinsel vermittelten. Erst seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts reisten auch Deutsche an den westlichen Rand des Mittelmeers, und fuer einen kurzen Zeitraum stieg das oeffentliche Interesse an Spanien sprunghaft an. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gingen nicht wenige preussischer Offiziere nach Spanien, um dort aktiv am Kampf gegen die napoleonischen Truppen teilzunehmen. In ihren Aufzeichnungen und Memoiren verbreiteten sie das idealisierte Bild vom Aufstand des gesamten spanischen Volkes gegen die franzoesische Armee. Der Sieg Spaniens sollte der Befreiung ganz Europas vorausgehen. Das abschliessende Referat des Workshops hielt Agnieszka Zablocka-Kos (Breslau) ueber die Provinzstaedte Posen und Breslau, die fuer Preussen im 19. Jh. eine wichtige Bedeutung als oestliche Vorposten des preussischen Staates und Exponenten der deutschen Kultur hatten. Die Integration beider Staedte in Preussen ging jedoch nur muehsam vonstatten wie Bauten, die in Breslau und Posen bis 1918 errichtet wurden, durch die Wahl ihrer Standorte, ihren Stil und ihre raeumlichen Wechselbeziehungen bezeugen.
Ebenfalls im Anschluss an den Vortrag von Professor Hahn folgte der sechste Workshop mit dem Themenschwerpunkt "Wirtschaft und Recht". Juergen Luh (Potsdam) sprach zunaechst ueber "Die Kriegsfinanzierung in Preussen und Europa im 18. Jahrhundert". Preussen sei das einzige Land gewesen, das den Krieg ohne groessere Geldsorgen gefuehrt habe - mit Hilfe des saechsischen Silbers und den Kontributionen aus diesem Land, durch wenige Anleihen im Inland sowie eine enorme Muenzverschlechterung. Letztere sei zwar waehrend des Krieges von Vorteil gewesen, habe danach der preussischen Wirtschaft aber schwer geschadet. Andere Kriegsteilnehmer, Oesterreich, England und Frankreich, haetten ihre Bevoelkerung staerker besteuert als Preussen und bei weitem groessere Anleihen aufgenommen. Obwohl in diesen Laendern eine riesige Staatsverschuldung vorhanden war, seien sie in der Lage gewesen, das ganze 18. Jahrhundert hindurch mit gleichbleibender Intensitaet Krieg zu fuehren. Patricia Clavin (Keele) betrachtete "Deutschland und die europaeische Wirtschaft 1920-1939" einmal nicht unter dem Aspekt der Reparationen. Deutschland sei in ein Netz regionaler und internationaler Wirtschaftsbeziehungen, sowohl zu Ost- als auch zu Westeuropa, eingebunden gewesen. Deutsche Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsberater waren in ein Netzwerk von internationalen Experten integriert. Dies verdeutlichte P. Clavin eindrucksvoll am Leben Moritz Bonns, dem Direktor der Handelshochschule in Berlin, Berater mehrerer Weimarer Republik-Regierungen, der sich fuer Wirtschaftsliberalismus und internationale Zusammenarbeit in Europa einsetzte und in vielen internationalen Kommissionen taetig war. Dabei wandte er sich direkt an Politiker, Regierungsberater und die oeffentliche Meinung in verschiedenen Laendern, einschliesslich Grossbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten. Stephan Wernicke (Europaeischer Gerichtshof, Luxemburg) gab in seinem Vortrag "Deutschlands Perspektiven in der Europaeischen Union" zunaechst einen Ueberblick ueber die Diskussion um die EU: Staatenbund vs. Bundesstaat, wobei man sich als Loesung fuer einen Staatenverbund entschied. In der Diskussion um eine europaeische Verfassung sei das Verhaeltnis von Volk zu Staat noch ungeklaert. Doch gibt es nicht ein europaeisches Volk, sondern viele einzelne Nationen. Die Frage, ob Europa die Hoheitsgewalt ausuebe beantwortete er mit ja. Nicht der einzelne Staat sei als letzter verantwortlich sondern die europaeische Gemeinschaft. Auf dem Weg hin zu einem europaeischer Verfassungsverbund wirken nationale Teilverfassungen und eine supranationale europaeische Verfassung aufeinander (Bsp. Soldatenurteil). Dabei hat das europaeische Recht (Gemeinschaftsrecht) Vorrang und wirkt auf die nationale Ebene ein. Deutsche Richter seien heute schon europaeische Richter, deutsches Recht werde schon an europaeischem Recht kontrolliert.
Manfred Goertemaker gab im vierten und letzten Ueberblicksvortrag eine umfangreiche Darstellung ueber "Die deutsche Frage. Vom Reich zur Bundesrepublik 1871-1990". Nach der Reichseinigung im Jahre 1871 und der Entlassung Bismarcks kamen in Deutschland neue Kraefte an die Macht. Das neue Deutschland war dynamisch, grossspurig, arrogant, ohne Gespuer fuer Nachbarn und europaeisches Gleichgewicht. Der Nationalismus und Militarismus Deutschlands war ein Irrweg, der in die Katastrophe fuehrte. Die Deutsche Revolution und Weimarer Republik bot die Moeglichkeit zu einem Neubeginn, aber altes Obrigkeitsdenken, Kriegsschuldartikel und Reparationszahlungen waelzten alte Schuld auf die neue Republik ab. Deutschland blieb ein Aussenseiter der europaeischen Politik. Das Jahr 1933 bedeutete Kapitulation vor den Schwierigkeiten der Demokratie und der Weg zurueck zu gewohnter Obrigkeitsstaatlichkeit und Fuehrerpersoenlichkeit. Die Teilung Deutschlands 1945, die M. Goertemaker als Folge des Ost-West-Konflikts (die Teilung der Welt zog die Teilung Deutschlands nach sich, nicht umgekehrt) versteht, sowie die Aufloesung Preussens durch den alliierten Kontrollrat 1947 (Gesetz Nr. 46) bedeutete territoriale Zersplitterung als Loesung fuer die deutsche Frage. Aus einer westdeutschen Position der Staerke heraus betrieb Adenauer eine Politik der Westintegration. Die SBZ, spaeter die DDR wurden sofort in den sowjetischen Machtbereich eingebunden. Mit Willy Brandts neuer Ostpolitik wurde der status quo anerkannt sowie Massnahmen zur Zusammenarbeit ergriffen. Die Wiedervereinigung 1989/90 ging, aus politischer und oekonomischer Notwendigkeit heraus, vom Osten aus. Die Befreiung Osteuropas war das Werk der Menschen Polens, Ungarns etc. Fuenf Aspekte seien in der deutscher Politik von Bedeutung: 1. das Voranschreiten der europaeischen Integration, durch die der alte europaeische Nationalstaat ueberwunden werden kann (Verzicht auf die DM als Preis fuer die Wiedervereinigung), 2. die Wahrung der aeusseren Sicherheit im Rahmen der atlantischen Allianz (NATO), 3. die Stabilisierung Osteuropas, 4. wirtschaftliche Verflechtungen, 5. die Wahrung der neuen weltpolitischen Verantwortung im Rahmen der UNO.
Im siebten Workshop, der sein Augenmerk auf das Militaer in Preussen richtete, stellte Peter H. Wilson (Sunderland) Ueberlegungen zur sozialen Militarisierung Preussen-Deutschlands an. Entscheidend war hier die Neubewertung der sozialen und politischen Langzeitwirkungen des zwischen 1713 und 1733 in der preussischen Monarchie eingefuehrten Kantonsystems, das nach Ansicht des Referenten nicht etwa die preussische Gesellschaft militarisierte, sondern umgekehrt den Mitgliedern der Armee ein Zivildasein ermoeglichte. Darueber hinaus muss der Begriff der sozialen Militarisierung neu definiert werden, da er mit seinen Praemissen der Komplexitaet der fruehneuzeitlichen Gesellschaft nicht gerecht wird. Im zweiten Referat befasste sich Daniel Hohrath (Esslingen am Neckar) mit Aspekten der militaerischen Beziehungsgeschichte Preussens und Wuerttembergs. Zwar erfuhr das wuerttembergische Heerwesen des 18. Jahrhunderts in der Historiographie eine fast ausschliesslich negative Bewertung, doch spielte Wuerttemberg fuer Preussen in mehrfacher Hinsicht eine nicht unwesentliche Rolle, da Angehoerige des fuerstlichen Hauses immer wieder militaerische Fuehrungspositionen in der preussischen Armee einnahmen und Offiziere, die den ersten Teil ihrer Karriere in Sueddeutschland absolviert hatten, nicht selten auf allen Ebenen der Hierarchie in preussische Dienste uebertraten. Die Tradition des preussisch-deutschen Militaers in beiden Weltkriegen, nach der Tod und Untergang einer Niederlage vorzuziehen waren, beleuchtete Max Plassmann (Marburg) naeher. Von den Soldaten wurden groesstmoegliche Opferbereitschaft und Willensstaerke verlangt, zwei Eigenschaften, durch die die zahlenmaessige Unterlegenheit der preussisch-deutschen Armee ausgeglichen werden sollte. Der Grund fuer die besonders intensive Pflege dieser Tradition, die prinzipiell auch in anderen Armeen zu finden war, lag in dem Gefuehl der Unterlegenheit gegenueber weitaus staerkeren Gegnern, das den preussischen Staat seit den Schlesischen Kriegen begleitete.
Der letzte Workshop widmete sich den kontinentalen Maechten. Zuerst eroerterte Juergen Angelow (Potsdam) die Beziehungen zwischen Preussen und Oesterreich in der Zeit von 1866 bis 1918. Nach den Entscheidungen von 1866-71 war das Verhaeltnis zwischen Preussen und Oesterreich nicht allein von rationalen staatlichen Entscheidungshandeln allein bestimmt. Nach dem nationalen Riss von 1866 spielten "irrationale Faktoren, traumatische Vorstellungen und Stereotype" eine nicht zu unterschaetzende Rolle. Die starke Anlehnung der Habsburgermonarchie an das 1871 gebildete Deutsche Reich fand seinen Ausdruck im 1879 gegruendeten Zweibund, der bis zu seiner Kuendigung durch Wien im Oktober 1918 in Kraft blieb und neben seiner sicherheitspolitischen Aufgabe vor allem der Aufrechterhaltung der dominierenden Stellung der deutschen Minoritaet in Oesterreich-Ungarn diente. Ricarda Vulpius (Berlin) ging in ihrem Vortrag ueber "Lokale Selbstverwaltung versus Autokratie in Preussen und Russland (1808-1848 / 1864-1905)" der Frage nach, ob lokale Selbstverwaltung mit einem autokratischen Staatssystem vereinbar ist. Im Falle Russlands wie Preussens zeigt sich im Ergebnis, dass ein autokratisches Herrschaftssystem und lokale Selbstverwaltung unweigerlich in Konflikt geraten mussten. Eine Gesellschaft, die auf lokaler Ebene engagiert und verantwortungsbewusst die Zukunft mitgestalten sollte, konnte auf Dauer auf der nationalen Ebene nicht politisch unmuendig bleiben. Nicht zuletzt die Einfuehrung lokaler Selbstverwaltung musste daher langfristig als Angebot verstanden werden, der Autokratie Mitspracherechte auch auf gesamtstaatlicher Ebene abzutrotzen. Andreas Vuckovic (Berlin) stellte "Frankreich in Berlin. Das Deutschlandbild der franzoesischen Besatzungsverwaltung 1945-48" vor. Der Vortrag gab Einblicke in die Dienstprotokolle der franzoesischen Besatzungsangehoerigen sowie in die Korrespondenz der Besatzungsmacht basierend auf den Quellen der Kolmarer Aussenstelle des Archivs des franzoesischen Aussenministerium. Zum Preussenjahr 2001 sollen saemtliche Vortraege in einem Tagungsband erscheinen.
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