"Repression und Selbstbehauptung - Die Zeugen Jehovas unter der NS- und
der SED-Diktatur"
Heidelberg (3. - 5.11. 2000)
Tagungsbericht von Dr. Michael Krenzer
Jehovas Zeugen zaehlen zu den wenigen gesellschaftlichen Gruppen, die von beiden deutschen Diktaturen verfolgt wurden. Bislang ist diese doppelte Verfolgung noch nicht Gegenstand einer vergleichenden Studie gewesen. Die Kooperationstagung des Hannah-Arendt-Instituts fuer Totalitarismusforschung an der TU Dresden und der Arbeitsstelle Kirchliche Zeitgeschichte der Theologischen Fakultaet der Universitaet Heidelberg sollte diesbezueglich Anstoesse geben und die Gelegenheit bieten, bereits laufende Forschungsprojekte zusammenzufuehren und zu koordinieren. Die rund 20 Referenten stellten den gegenwaertigen Forschungsstand dar und zeigten Forschungsdefizite und offene Probleme auf. Ebenfalls anwesend waren einige Zeitzeugen sowie Vertreter der Religionsgemeinschaft. Die Veranstalter stellten in Aussicht, einen Tagungsband zu veroeffentlichen.
In ihren einleitenden Vortraegen gaben die Gastgeber Clemens Vollnhals (Dresden) und Gerhard Besier (Heidelberg) einen Ueberblick ueber die Zielsetzung der Tagung. Besier schlug den Bogen der von Jehovas Zeugen erlebten "Vorurteile, Verfolgungen und Verbote" von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart. Er stellte heraus, das westliche Verfassungssystem sei zwar imstande, Minderheiten zu schuetzen, es koenne aber gesellschaftliche Konstellationen geben, die geeignet seien, deren Freiheit stark einzuschraenken. Wenn der Staat die Mehrheit gewaehren lasse und den Minderheitenschutz vernachlaessige oder sogar verhindere, geschehe dies in der Regel in bester Absicht, um die Mehrheit vor der vermeintlich gefaehrlichen Minderheit zu schuetzten. Es sei Teil einer kollektiven Identitaetsbildung, das Denken der Mehrheit als richtig und gut, das der Minderheit dagegen als falsch und boese einzustufen. Sobald in Diktaturen jedoch die Schranken der Rechtsstaatlichkeit fielen, koenne daraus leicht eine Verfolgung der Minderheit erwachsen.
Besier beleuchtete die weitreichende Wirkung von Vorurteilen am Beispiel der von der Staatssicherheit gesteuerten DDR-Zeitschrift "Christliche Verantwortung". Als Publikationsorgan oppositioneller Zeugen Jehovas Konzipiert, sollte es in den Reihen der Glaubensgemeinschaft zersetzend wirken. Waehrend es diesen Zweck verfehlte, gelang es dem Blatt jedoch, grossen Einfluss bei den Gegnern der Zeugen Jehovas zu erlangen. Trotz dessen offenkundiger Stasi-Naehe schoepften "Sektenkundler" im Osten wie im Westen (z.B. die Evangelische Zentrale fuer Weltanschauungsfragen und die Zeitschrift "Kirche im Sozialismus") aus dieser Quelle "Graeuelmaerchen" ueber die Zeugen Jehovas. Besier deutet dies als eine von Vorurteilen gesteuerte positive Wahrnehmung bestaetigender Fehlinformationen. Die Naehe der Meinungen und die Gemeinsamkeit des Gegners erzeuge Sympathie, die ueber sonstige Gegensaetze hinwegsehen lasse. Dabei habe die Auseinandersetzung mit den Zeugen Jehovas vornehmlich nicht auf der Ebene theologischer Inhalte stattgefunden, sondern sei ueber gesellschaftliche Bestimmungsfaktoren des Verhaltens gefuehrt worden.
Der erste Tag war der Verfolgung und dem Widerstand der Zeugen Jehovas unter dem NS-Regime gewidmet. Detlef Garbe (Hamburg) referierte zunaechst den aktuellen Forschungsstand. Da die Widerstandsforschung in den ersten Nachkriegsjahrzehnten hauptsaechlich vom Rechtfertigungsbeduerfnis gesellschaftlicher Grossorganisationen getragen worden sei, seien kleine Religionsgemeinschaften lange Zeit weitgehend unberuecksichtigt geblieben. Das Desinteresse am Schicksal der Zeugen Jehovas sei um so erstaunlicher, als die Besonderheiten ihrer Verfolgungs- und Widerstandsgeschichte durchaus bekannt gewesen seien. So gehoerten sie zu den ersten Verfolgten und erwiesen sich als aeusserst unbeugsam gegenueber dem Anpassungsdruck der "Volksgemeinschaft". Innerhalb der Gemeinschaft gab es einen sehr hohen Beteiligungsgrad am Widerstand. Gekennzeichnet durch einen lila Winkel bildeten sie in den Konzentrationslagern eine eigene Haeftlingskategorie. Sie hatten als die einzige Gruppe, die grundsaetzlich den Kriegsdienst verweigerte, die hoechste Zahl der deshalb zum Tode Verurteilten zu beklagen. Nach der juedischen Bevoelkerung war sie die prozentual am staerksten verfolgte Gruppe. Seit dem Erscheinen der grundlegenden Darstellung Garbes im Jahr 1993 (vgl. Literaturliste) sind 4 Sammelbaende, 13 Monographien, 16 Aufsaetze und 10 (auto-)biographische Darstellungen veroeffentlicht worden. Dennoch fehle bislang noch immer eine zusammenfassende Monographie ueber die Haeftlingsgruppe mit dem "lila Winkel", die vor Kriegsausbruch bis 10% der KZ-Insassen stellte. Das Selbstverstaendnis der verfolgten Zeugen Jehovas und ihre Entschlussbildung in Grenzsituationen muesse ebenfalls noch untersucht werden. Unbekannt seien bislang aber auch die Lebensverhaeltnisse der nicht ins KZ gesperrten, sondern nach der Haft Freigelassenen. Dabei sei zu klaeren, ob es geschlechtsspezifische, soziale, regionale oder sonstige Unterschiede im Hinblick auf die Entscheidung fuer oder gegen weiteres Engagement in der Illegalitaet gegeben habe. Garbe wies darauf hin, dass die Rezeption des Themas ueber einen engen Kreis von Historikern hinaus bisher nur gering sei. Es habe die Eigeninitiative der Betroffenen erfordert, um die Mehrheitsgesellschaft durch die Wanderausstellung "Standhaft trotz Verfolgung" auf die vergessenen Opfer aufmerksam zu machen. Bis heute gebe es starke Widerstaende gegen die Anerkennung der Zeugen Jehovas als Opfergruppe. Garbe selbst muesse sich immer wieder gegen den Vorwurf verteidigen, seine Arbeit nutze den Missionsbestrebungen der Wachtturm-Gesellschaft. Er wies solche Polemik zurueck, denn die Anerkennung der Opfer bedeute nicht die Identifikation mit ihren Idealen. Historische Tatsachen wuerden nicht falsch, weil die Wachtturm-Gesellschaft dadurch vermeintlich ihre Reputation zu verbessern suche, was im uebrigen durchaus mit der apologetischen Geschichtsschreibung der Grosskirchen vergleichbar sei. Garbe warnte davor, die historische Untersuchung zum Gegenstand sektenpolitischer Auseinandersetzungen werden zu lassen. Ebenfalls fatal waere es, den Widerstand der Zeugen Jehovas klein zu reden oder durch Verweis auf wenige kirchliche Widerstandskaempfer relativieren zu wollen. Gleichwohl mag Garbe im Widerstand der Zeugen Jehovas kein Vorbild im paedagogischen Sinn sehen, da ihr Kampf nicht fuer die Freiheit aller, sondern nur fuer die eigene Organisationsfreiheit gefuehrt worden sei. Dies sei legitim, aber kein Leitbild fuer eine demokratisch verfasste Gesellschaft. In der nachfolgenden Diskussion wurden diese einschraenkenden Bemerkungen kontrovers debattiert. Garbe wurde entgegengehalten, auch Bonhoeffer sei mehr fuer christliche Werte und die Autonomie seiner Kirche als fuer den Erhalt demokratischer Strukturen eingetreten. Ausserdem habe das Bekenntnis der Zeugen Jehovas auch eine Kritik an den bestehenden Verhaeltnissen enthalten und den NS-Staat in seine Schranken gewiesen. Auch habe das Widerstehen der Zeugen Jehovas durchaus Nachwirkungen gezeigt. Die Erinnerung daran habe die sozialdemokratischen Mitglieder des Parlamentarischen Rates fuer die Verankerung eines Kriegsdienstverweigerungsrechts im Grundgesetz eintreten lassen.
Im Anschluss berichteten Hubert Roser (Karlsruhe) und Max Woernhard (Thun/CH) ueber die Situation der Glaubensgemeinschaft in der Schweiz. Dort traten die Bibelforscher zuerst in den zwanziger Jahren auf. Nachdem das oberste Bundesgericht der Schweiz noch 1926 ihr Missionswerk als Ausdruck der freien Meinungs- bzw. Glaubensaeusserung beurteilt hatte, schlug die Stimmung mit dem Machtwechsel in Deutschland schnell um. Seit Ende 1938 bis in die fuenfziger Jahre wurde die Glaubensgemeinschaft von der politischen Polizei ueberwacht. Dennoch erlangte die Schweiz, in dem das Zentraleuropaeische Buero der Wachtturm-Gesellschaft beheimatet war, fuer Zeugen Jehovas eine zentrale Bedeutung. Nach dem Ausfall des deutschen Zweiges wurde von hier aus die illegale Arbeit in Deutschland organisiert, Literatur und Matrizen hergestellt und nach Deutschland geschmuggelt.
Manfred Zeidler (Dresden) stellte am ersten Tag abschliessend die juristische Verfolgung der Zeugen Jehovas waehrend der NS-Zeit am Beispiel des Sondergerichts Freiberg dar. Im juristischen Streit um das Verbot der Zeugen Jehovas nach 1933 verneinte das Sondergericht Freiberg fuer Sachsen die Frage, ob Jehovas Zeugen eine durch die Reichsverfassung geschuetzte Religionsgemeinschaft waren. Die Gemeinschaft verfuege ueber kein eigenes Bekenntnis, da sich ihre Glaubenssaetze veraendern koennten und sie erfasse ihre Mitglieder nicht in Totalitaet, da manche nicht getauft seien. Da sie aber an Gott glaubten, sprach ihnen das Gericht gleichzeitig auch ab, eine durch die Verfassung geschuetzte freie weltanschauliche Gemeinschaft zu sein. Nach dieser sophistischen Argumentation ware Jehovas Zeugen lediglich als eine "religioese Vereinigung" anzusehen, deren Rechte durch die Reichstagsbrandverordnung eingeschraenkt und die daher zu Recht verboten worden sei.
In den Jahren der grossen Verhaftungswellen bis 1938 stellten Zeugen Jehovas zwischen 20% und 61% der Angeklagten vor dem Sondergericht Freiberg. Das Strafmass lag in der Regel bei 1 bis 10 Monaten Haft, jedoch wurden die Entlassenen nach der Strafverbuessung haeufig sofort in "Schutzhaft" genommen und in Konzentrationslager verbracht. Der These des Referenten, eine "milde" Rechtsprechung habe den Angeklagten eher der toedlichen Willkuer der Konzentrationslager ausgesetzt, durch das volle Ausschoepfen des Strafmasses habe er dagegen so lange wie moeglich im normalen Strafvollzug ueberleben koennen, wurde in der anschliessenden Diskussion teilweise widersprochen. Zumindest die maennlichen Zeugen Jehovas hatten durch die Einweisung in ein Konzentrationslager den makaberen "Vorteil" nicht mehr wehrwuerdig zu sein, waehrend sie im Strafvollzug nach einer Einberufung der Hinrichtung wegen Kriegsdienstverweigerung entgegensehen mussten.
Den zweiten Tag eroeffnete Bernd Schaefer (Dresden) mit einem Referat ueber die "Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit in der DDR". Er stellte den Umgang mit den Kirchen als taktisches Lavieren zwischen Buendnispolitik (Einflussnahme auf "progressive" kirchliche Verbuendete bei scheinbarer Wahrung der Autonomie), Differenzierungspolitik (gegeneinander Ausspielen der Kirchen bzw. Foerderung innerkirchlicher Spaltung) und Sicherheitspolitik (operative Zersetzung durch das MfS) dar. An ihre Grenzen sei diese Taktik gestossen, wo der grosse Devisengewinn aus der westlichen Finanzierung der Grosskirchen zu Zugestaendnisse gezwungen habe. Auch um ihres internationalen Ansehens willen sei die DDR um ein entspanntes Verhaeltnis zu den Kirchen bemueht gewesen. Hier stellte Schaefer die Frage, in wie weit diese Wechselwirkung von aussenpolitischem Reputationsbeduerfnis und Kirchentaktik auch Auswirkung auf kleine bzw. verbotene Religionsgemeinschaften wie die Zeugen Jehovas hatte oder haette haben koennen.
Hans-Hermann Dirksen (Greifswald) hat "die strafrechtliche Verfolgung der Zeugen Jehovas in der DDR" anhand der im deutschen Zweigbuero der Zeugen Jehovas gesammelten Unterlagen zu 6000 Inhaftierungen und 5000 Verurteilungen untersucht. In seinem Vortrag erlaeuterte er zunaechst die Konfliktlage in der DDR. Die SED-Fuehrung schaetzte die Zeugen Jehovas als gefaehrlich ein, da sie jegliche politische Taetigkeit negierten, in den Augen der SED also das sozialistische Aufbauwerk behinderten. Ausserdem wurde ihr reger Zulauf bei der Bevoelkerung mit grossem Misstrauen und Unwillen wahrgenommen. Am Beispiel des ehemaligen KZ-Haeftlings Fritz Adler stellte Dirksen den Weg zum grossen Schauprozess dar, der 1950 gegen Zeugen Jehovas inszeniert wurde. Im Juni 1950 wurde Adler unter dem Vorwurf der Boykotthetze und des Kanzelmissbrauchs verhaftet. Das MfS erweiterte die Anklage zwar noch um einige Punkte, der Entwurf enthielt allerdings nur drei Wochen vor dem offiziellen Verbot noch nicht den spaetere erhobenen Spionage- oder Umsturzvorwurf. Auf Bitten der zustaendigen Staatsanwaltschaft um Festlegung einer einheitlichen Vorgehensweise gab Oberstaatsanwalt Melsheimer die Anweisung, die Anklageschrift nochmals zu erweitern. Er empfahl, zum Nachweis der Staatsfeindlichkeit der Zeugen Jehovas die Argumentation der inzwischen einsetzenden Hetzkampagne im "Neuen Deutschland" zu uebernehmen. Einschlaegige Zeitungsartikel legte er seinem Schreiben gleich bei. Von einem Schauprozess war jedoch immer noch nicht die Rede. Die Entscheidung fuer einen solchen Musterprozess fiel kurzfristig, um der anlaesslich des Verbots anstehenden Verfahrensflut die Richtung zu weisen. Die Angeklagten, darunter ehemalige KZ-Haeftlinge wie Adler, wurden zu Zuchthausstrafen zwischen 8 Jahren und lebenslaenglich verurteilt. In der Folge eiferten alle Landgerichte diesem Vorbild nach. Abschliessend aeusserte sich Dirksen noch zum bereits am Vortag diskutierten Komplex Widerstand. Seiner Einschaetzung nach sei das Leben der Zeugen Jehovas in erster Linie bestimmt gewesen von der Liebe zu Gott und zum Naechsten, dem sie durch ihre Mission naeherbringen wollten, dass der biblische Lebensweg der Beste sei. Ihr Widerstand, der sich gegen die Einschraenkungen des Regimes gerichtet und in der Ablehnung der Kommunistischen Ideologie bestanden habe, sei demnach nicht Selbstzweck gewesen oder habe nur der Selbstbehauptung der organisatorischen Strukturen gedient, sondern habe anderen Menschen den Weg weisen wollen.
Waldemar Hirch (Stuttgart) referierte im Anschluss ueber "die Politik des MfS gegenueber den Zeugen Jehovas". Nachdem das Ziel der Eliminierung der Glaubensgemeinschaft in der ersten Phase nach dem Verbot ohne Erfolg geblieben war, aenderte sich die Taktik zu Beginn der sechziger Jahre. Das Ziel des MfS bestand nun darin, die illegale Organisation unter ihre Kontrolle zu bringen, ihre Aktivitaeten zu blockieren und sie zu zersetzen. Der Versuch, IM in die Reihen der Zeugen Jehovas einzuschleusen, stellte das MfS jedoch vor Probleme: gewonnene Mitarbeiter aus den Reihen der Glaubensgemeinschaft waren oft nur kurzfristig nutzbar, waehrend eingeschleuste IM haeufig am Einhalten der Verhaltensnormen der Gruppe scheiterten. Insgesamt resuemierte das MfS 1987 nur duenn gesaete Erfolge der IM-Taetigkeit. So konnte die Aufklaerung des Kuriersystems in den Westen auf Dauer nicht geleistet werden. Haeufige Modifikationen und Erhoehung der Konspiration sicherten den gross angelegten Literaturschmuggel in die DDR. Einen Erfolg habe das MfS allerdings mit der bereits erwaehnten Zeitschrift "Christliche Verantwortung" (CV) verbuchen koennen, die in der DDR und dem westlichen Ausland zu einer massgeblichen Informationsquelle ueber Jehovas Zeugen geworden sei. In der gleichen Richtung wirkte die vom MfS initierte und von Manfred Gebhard verfasste "Dokumentation ueber die Wachtturmgesellschaft". Dieses MfS-Buch voller Diffamierungen und Falschinformationen habe selbst in der Bundesrepublik als Standardwerk gegolten und Eingang in verschiedene Lexika gefunden.
Robert Schmidt (Frankfurt/M.) analysierte in seinem Vortrag anhand von Fallbeispielen aus Leipzig und der Oberlausitz den Komplex religioeser Selbstbehauptung und alltaeglichen Verhaltens im Umgang mit staatlicher Repression. Er zeigte auf, wie ihr Glaube den Zeugen Jehovas einen Interpretationshorizont fuer die individuellen Verfolgungserlebnisse lieferte und deren Verarbeitung ermoeglichte. Ein zentrales Problem sei jedoch die Synthese zwischen sozialer und persoenlicher Identitaet gewesen. Da die Erfuellung der Rollenerwartungen den eigenen Ueberzeugungen zuwiderlief, habe es fuer die Glaeubigen nur die beiden Moeglichkeiten gegeben, sich abweichend oder staatsloyal zu verhalten. Daher sei ihr Verhalten als Fundamentalwiderstand zu bewerten. Der staendige Zugriffsdruck im Alltag habe jeden Tag grosse moralische Anstrengung gefordert, um sich den Anforderungen an die religioese Selbstbehauptung zu stellen. Insbesondere die nachbarschaftliche Beobachtung und Bespitzelung sei von vielen als grosse Belastung empfunden worden. Waehrend aelteren Zeugen Jehovas die Konspiration der lokalen Studiengruppen, die Sicherung der Literaturversorgung und die seelsorgerische Betreuung der Glaeubigen besonders wichtig erschien, litten die Juengeren besonders unter den eingeschraenkten Kommunikationsmoeglichkeiten mit gleichgesinnten Gleichaltrigen. Um diesem Beduerfnis zu entsprechen wurden schliesslich ueberregionale Kontakte zu anderen Jugendlichen z.B. im Rahmen von Ernteeinsaetzen organisiert. Noch heute gebe es in der Lausitz eine Reihe derart zustande gekommenen sog. "Rueben-Ehen".
Gerald Hacke (Dresden) erweiterte sein urspruenglich geplantes Referat ueber die Zeugen Jehovas in Sachsen seit 1945 mit Blick auf einen Vergleich der Verfolgungsgeschichte in beiden deutschen Diktaturen. Er stellte zunaechst eine vergleichende Betrachtung der Wahrnehmung der Glaubensgemeinschaft in beiden Systemen an. Waehrend das NS-Regime die Zeugen Jehovas in "juedische Weltherrschaftsplaene" eingebunden sah und ihr "kulturbolschewistische Propaganda" vorwarf, wurde die Glaubensgemeinschaft in der DDR als "Spionageorganisation des amerikanischen Monopolkapitalismus" diffamiert. In beiden Faellen habe die unbekannte Glaubenslehre auf der einen Seite und die bekannte aber suspekte Missionstaetigkeit die Zeugen Jehovas zur dankbaren Projektionsflaeche fuer aktuelle Feindbilder werden lassen. Hacke zeigte jedoch auch Unterschiede im Umgang mit der Gemeinschaft auf. Waehrend die Nationalsozialisten z.B. versuchten, die Glaeubigen durch physischen Terror buchstaeblich zu zerstoeren, setzte die DDR auf innere Zersetzung und Gegengruppen, fuer die es in der NS-Zeit keine Entsprechung gab.
In der an Goeran Westphals Darstellung einiger Fallbeispiele verfolgter Zeugen Jehovas anschliessenden Diskussionsrunde widersprachen Hacke und andere der These, die NSDAP oder die SED habe in der Wachtturm-Gesellschaft sich selbst erkannt und bekaempft. Die Zeugen Jehovas seien zwar nicht demokratisch organisiert, die von ihnen als "theokratisch" bezeichneten Strukturen koennten aber keinesfalls als totalitaer beschrieben werden. Eine solche These vertausche Ursache und Wirkung der Verfolgung. Gespraechsanlass bot auch die Rolle der Frauen in der illegalen Organisation. Sowohl in der NS-Zeit als auch in der DDR uebernahmen sie zur Aufrechterhaltung der religioesen Taetigkeit administrative und seelsorgerische Aufgaben, die ansonsten aufgrund des Mangels geeigneter maennlicher Glaeubigen nicht haetten aufrechterhalten werden koennen.
Robert Reichel (Freiburg) referierte zur Strafverfolgung der Zeugen Jehovas in der Bundesrepublik. Nicht zuletzt mit Blick auf die Zeugen Jehovas im 3. Reich wurde mit dem Art. 4 Abs. 3 das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in das Grundgesetz aufgenommen. Zeugen Jehovas lehnte aber auch den einen zivilen Ersatzdienst ab, da sie durch den Zusammenhang zwischen Wehr- und Ersatzdienst ihre Neutralitaet verletzt sahen und nicht akzeptieren wollten, dass dem Staat erlaubt sein solle, ihren Dienst fuer Gott zeitlich einzuschraenken. Diese Totalverweigerer wurden zu Geld- oder Haftstrafen bis zu 16 Monaten verurteilt. Bis 1968 gab es auch zahlreiche Faelle von Doppelverurteilungen, da eine zweite Einberufung manchmal noch waehrend der Haft erfolgte. In der nachfolgenden Diskussion wurde herausgestellt, dass Jehovas Zeugen diese Verurteilungen nicht als Verfolgung empfanden. Darueber hinaus wurde festgestellt, dass sich ihre Position in der Wehrdienstfrage inzwischen veraendert habe. Analog zu dem Anspruch des Staates auf Steuern werde nun auch sein Anspruch auf zeitlichen Einsatz anerkannt. Die Beteiligung an einem zivilen Ersatzdienst sei demnach eine Gewissensentscheidung des einzelnen Glaeubigen.
Den Abschluss des zweiten Tages bildete die Praesentation und Diskussion Dokumentarfilms "Folget mir nach" von Fritz Poppenberg (Berlin). Der Regisseur berichtete dabei ueber seine frustrierenden, weil vergeblichen, Versuche, diese Dokumentation einem Fernsehsender anzubieten. Die gegenwaertige Medienlandschaft sei nicht bereit, Zeugen Jehovas in einem positiven Licht und sei es nur im historischen Zusammenhaengen ihrer Verfolgungs- oder Widerstandsgeschichte darzustellen.
Am dritten Tag gab Hans-Hermann Dirksen (Greifswald) zunaechst am Beispiel Ungarns und Moldawiens einen Ueberblick die Doppelverfolgung der Zeugen Jehovas im Ostblock. Die Forschung steht in diesem Bereich noch voellig am Anfang.
Hans Hesse (Goettingen) hat die Situation der "Zeuginnen Jehovas in der DDR" untersucht. Er stellte fest, dass 10% (104 von 1138) der in der DDR verfolgten Frauen bereits NS-Opfer gewesen seien. Sie wurden vornehmlich wegen Kuriertaetigkeit, Schriftenschmuggel und aktiver Mission (Hausagitation) zu Strafen zwischen vier und zehn Jahren Haft verurteilt. In der Haft waren Misshandlungen, Provokationen, Einzel- oder Dunkelhaft und stundenlange Verhoere an der Tagesordnung. Mangelnde Hygiene diente der absichtlichen Entwuerdigung der Frauen, als Strafe wurden Arbeitsverbote verhaengt. Aufgrund der Haftbedingungen oder mangelnden medizinische Versorgung kam es zu mehreren Todesfaellen und angeblichen "Selbstmorden".
Wolfram Slupina und Johannes Wrobel (Selters) ergaenzten die vorangegangenen Vortraege um einige statistische Daten zur Doppelverfolgung unter dem NS- und dem DDR-Regime. Demnach waren von den bislang erfassten rund 5000 Verfolgungsopfern der DDR ueber 300 in beiden Diktaturen in Haft. Angesichts des fortgeschrittenen Alters der Betroffenen kennzeichnete Slupina die doppelverfolgten Zeitzeugen als wichtigen Forschungsfokus. Wrobel bot den Historikern fuer ihre Forschungsarbeit ausdruecklich die Zusammenarbeit des Geschichtsarchivs der Zeugen Jehovas in Selters an. Die Aufarbeitung doppelter Opposition und Widerstand sei auch eine Forderung der Bundestags-Enquete-Kommission "Aufarbeitung der SED-Diktatur". Dies sei um so wichtiger, als dieser Aspekt der Geschichte der Zeugen Jehovas noch weitgehend unbekannt sei. Im Rahmen der Wanderausstellung "Standhaft trotz Verfolgung" habe man die Erfahrung gemacht, dass vielen Besuchern sogar unbekannt gewesen sei, dass die von den Nationalsozialisten verfolgten Bibelforscher und die heutigen Zeugen Jehovas ein und dieselbe Religionsgemeinschaft seien.
Clemens Vollnhals (Dresden) unterbreitete in einem bilanzierenden Kommentar einige Ueberlegungen zu "Repression und Selbstbehauptung in totalitaeren Diktaturen". Im Hinblick auf eine Typologie des Widerstands schlug Vollnhals vor, drei Grundformen zu unterscheiden: 1 bewusste politische Opposition, 2 gesellschaftliche Verweigerung und 3 weltanschauliche Dissidenz. Waehrend die erste Form aktiv und konspirativ auf einen Umsturz ausgerichtet sei und auf der radikalen Ablehnung des Systems beruhe, wende sich die zweite Form gegen die totale Erfassung der Gesellschaft. Dabei wirke der Versuch, die eigene Autonomie gegen Uebergriffe des Staates zu verteidigen, unabhaengig vom subjektiven Motiv objektiv als Widerstand. Die dritte Form schliesslich koenne mit partieller Anerkennung der Struktur des Systems einhergehen. Die illegale Organisation der Zeugen Jehovas habe zwar aehnliche Strrukturen wie die der ersten Gruppe entwickelt, ohne aber deren politische Zielrichtung zu teilen. Vollnhals ordnet die Glaubensgemeinschaft als solche daher in die zweite Gruppe ein, waehrend er die einzelnen Glaeubigen eher der dritten Gruppe zuweist. Diese Zuordnung wurde auch in der folgenden Diskussionsrunde thematisiert, schien aber im Hinblick auf die kuenstlich scheinende Trennung zwischen Organisation und Individuum noch nicht konsenzfaehig zu sein.
Die Tagung schloss mit der Vorfuehrung des neuen Dokumentarfilms "Bei uns werdet ihr nichts zu lachen haben" von Loretta Walz (Berlin), der die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der NS-Zeit und der DDR thematisiert.
Literaturauswahl: Gerhard Besier, Erwin K. Scheuch (Hg.), Die neuen Inquisitoren, Religionsfreiheit und Glaubensneid, 2 Bd., Zuerich, Osnabrueck 1999 Garbe, Detlef: Zwischen Widerstand und Martyrium: Die Zeugen Jehovas im "Dritten Reich", Muenchen 41999 Gerald Hacke: Zeugen Jehovas in der DDR - Verfolgung und Verhalten einer religioesen Minderheit, hrsg. v. Hannah-Arendt-Institut fuer Totalitarismusforschung, Berichte und Studien Nr. 24, Dresden 2000 Hans Hesse (Hrsg.): "Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas": Verfolgung und Widerstand der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus, 2. erw. Aufl., Bremen 2000 Hubert Roser (Hrsg.): Widerstand als Bekenntnis: Die Zeugen Jehovas und das NS-Regime in Baden und Wuerttemberg, Konstanz 1999
Weitere Arbeiten der Referenten Dirksen, Hesse und Hirch stehen kurz vor der Veroeffentlichung.
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