Wissenschaft und Nation.
Universalistischer Anspruch und nationale Identitätsbildung
im europäischen Vergleich (19. und 20. Jahrhundert) Bericht
über die Tagung des Zentrums für Vergleichende Geschichte Europas
vom 1. bis 3. März 2001 an der Freien Universität Berlin
Welche Bedeutung besassen wissenschaftliche Organisationsformen und Erkenntnisse für die Bildung von Nation und nationaler Identität? Welche Rolle spielte demgegenüber der Nationsgedanke bei der Institutionalisierung der modernen Wissenschaften und deren Selbstverständnis, als Praxis international und im Ergebnis universell zu sein? Wie lässt sich überhaupt sinnvoll mit solchen Gebilden wie Wissenschaft und Nation argumentieren und zugleich deren Einheit, Universalität und Dominanz in den Meistererzählungen der (Wissenschafts-) Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert der Kritik der historischen Untersuchung aussetzen?
Ziel der internationalen Konferenz am Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas der FU Berlin war es, die inzwischen stark angegriffenen Geschlossenheiten von Nation wie Wissenschaft (hier vornehmlich im angloamerikanischen Sinne der Sciences) als Geflechte sozialer, kultureller und materieller Beziehungen in den Blick zu nehmen und ihren wechselseitigen Entwicklungen nachzugehen. Die sogenannte Allgemeine Geschichte und die meist als Teilgeschichte betrachtete Wissenschaftsgeschichte trafen zusammen, um einen Brückenschlag nicht nur zwischen den jeweiligen Forschungsgegenständen, sondern zugleich zwischen den Disziplinen zu versuchen und die jeweiligen Kategorisierungen von und das je eigentümliche Denken und Sprechen über Wissenschaft und Nation zu prüfen und gegenseitig zu schärfen.
Herbert Mehrtens (Braunschweig) eröffnete das Problemfeld mit seiner Gegenüberstellung der "Imagined Community" (Anderson) der Nation und der "Scientific Community" (seit Kuhn) als vorgestellte Kollektive, die sich im 19. Jahrhundert in wechselseitiger Abhängigkeit entwickelten und in diesem Prozess Evidenz gewannen. Durch performative Handlungen, durch Symbole, Rituale und Institutionen wies sich die historische Formation der Nation als natürliche Ordnung aus. In welcher Weise jedoch die Institution Wissenschaft mit ihren Symbolen und Praktiken zur Naturalisierung der Nation beitrug, blieb umstritten in den nachfolgenden beiden Tagen, in deren Verlauf sich zeigte, dass auch die Gruppe der historisch Forschenden sich als Gemeinschaft erst konstituieren musste. Weitgehende Einigkeit herrschte darüber, dass sich die Nation sowohl in Vermittlungsinstanzen wie dem Museum oder dem wissenschaftlichen Verein als auch in wissenschaftlichen Objekten wie der Karte oder der Geburtenrate repräsentierte; diese Orte und diskursiven Grössen verwiesen auf die Nation als eine scheinbar selbstevidente Einhüllende, die sich zugleich in ihnen erst erkenntlich zeigte. In der Frage der Gewichtung wissenschaftspolitischer Prozesse einerseits und technowissenschaftlicher Verfahren und Produkte andererseits für den Prozess der Nationsbildung hingegen gingen die Allgemein- und die WissenschaftshistorikerInnen nicht unwesentlich auseinander.
Wenig Probleme bereitete da noch die Untersuchung von Ausstellungskulturen, in welchen nationale und wissenschaftliche Repräsentationen zur Deckung gebracht wurden. Am Beispiel internationaler Ausstellungen zeigte Alexander Geppert (Florenz), dass die "nationale Inszenierung von Wissenschaften" genauso die wissenschaftliche Inszenierung der Nation umfasste. Messen und Museen exponierten den wissenschaftlichen Fortschritt einer Nation als Beitrag zur Menschheitszivilisation als einem universellen Projekt. Becky Conekin (London) schilderte dieses Verhältnis anhand des Festivals of Britain von 1951. Diese Ausstellung inkorporierte das Land durch seine Errungenschaften zur Gänze, indem es ihnen zu einem musterhaft ästhetisierten Ausdruck verhalf. Die Botschaft der Erneuerung der Nation durch Wissenschaft und Technik verdichtete sich eingewebt in Alltagstexturen von der Architektur bis zur Tapete. H. Glenn Penny (Kansas City) hingegen stellte am Beispiel der Gründungen ethnologischer Museen in Deutschland die Stadt als wissenschaftsorganisierendes Prinzip der Nation voran. Wissenschaft und Nation seien "Aggregate", die sich nicht in jeder Situation auf Einheit beriefen. Lynn K. Nyhart (Madison, Wisconsin) plädierte entsprechend in ihrem Kommentar für eine differenzierte Perspektive auf die Orte und Räume der Öffentlichkeit wissenschaftlichen Wissens, die das Paradox der Verortetheit von Wissen und des universellen Fortschreitens der Wissenschaften nicht ausschliessen dürfe.
Die Verkörperung der Vorstellungen sowohl der Nation als auch des universellen wissenschaftlichen Fortschritts in der Person des Wissenschaftlers war das Thema der Beiträge von Tore Fraengsmyr (Uppsala), Nicolaas A. Rupke (Göttingen) und Jakob Vogel (Berlin). Sie widmeten sich der Frage, auf welche Weise Forscher wie Linné, Humboldt und Agricola zu Helden von Mythen stilisiert wurden, die zur Bildung nationaler Identitäten beitrugen. Im Zeitalter der Heroen- und der Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts wurde neben der politischen und militärischen Leistung auch die wissenschaftliche Leistung nützlich für die Erzählung der Nation. Die Vereinnahmungen des Forschers und seiner Arbeit waren flexibel und reduzierend; der Forscher bildete gewissermassen die Einschreibefläche und den Ausdruck für die Artikulationen dieser Aneignungen, die zu Traditionen, zu mächtigen, sinnhaften Erzählungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der gedanklichen Gemeinschaft gesponnen werden konnten. Festgehalten in Geschichten und Geschichte konnten sich Nationen über Jahrhunderte hinweg in solchen Traditionen spiegeln und selbstverständigen. Etienne François (Berlin) regte in seinem Kommentar weitere Überlegungen dazu an, wie in Ritualen nationaler Gedächtnispolitik der Wissenschaftler - mehr noch als seine wissenschaftlichen Erfolge - zum Fokus, Kern, Repräsentanten und Symbol nicht nur des Wissenschaftskollektivs, sondern auch des Kollektivs Nation und seiner Grösse wurde, der Forscher selbst quasi zum Ausstellungs- und symbolischen Tausch- und Sammelobjekt einer (inter-) nationalen Leistungsschau wurde.
Zugleich war ein weiterer heikler Punkt in den Beziehungen von Wissenschaft und Nation berührt worden: Wie und wo äussert sich Wissenschaft, und an wen richtet sie sich? Oftmals wird das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit vorschnell mit den Begriffen der Popularisierung und Instrumentalisierung verkürzt. Popularisierung von Wissen und Wissenschaft gilt der Geschichtsschreibung häufig als verflachende, Instrumentalisierung als unlautere Umgestaltung der wahrhaft wissenschaftlichen Unternehmung. Die historische Wissenschaftsforschung hingegen besteht darauf, dass wissenschaftliches Wissen nicht erst im Prozess der Weitergabe oder Fremdnutzung, sondern schon im Produktionsvorgang Repräsentation ist, sich semiotisch wie materiell darstellen muss, um Bestand zu gewinnen. Am Beispiel der Geographie, Landesvermessung und Statistik behandelten die Beiträge der dritten Sektion, wie die Nation als Wissen in Zahlen, Formeln, Graphen, Karten, Bildern und Objekten präsent wurde. Kirill Rossiianov (Moskau) stellte landessondierende Expeditionen als Rationalisierung und Mobilisierung des Russischen Reiches durch dessen geographische Inventarisierung vor. Wissenschaft professionalisierte sich als modernisierende "Produktivkraft": Bevölkerung und Bodenschätze wurden als ,Ressourcen' erst exponiert und damit verwaltbar. Das Imperium selbst wurde zum wissenschaftlichen Projekt und Produkt. David Gugerli (Zürich) erforschte die Konstruktion der Evidenz der ,Nation' in der geographischen Karte am Beispiel der Landeskarte der Schweiz aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. In einem hoch arbeitsteilig organisierten Prozess ging ein Geflecht unterschiedlichster Interessen und Expertisen in das stringente Objekt Karte über, welches individuelle Autorschaft verschwinden liess: Im Kartenrelief sprang die Nation selbst den Betrachtern "ins Auge". Ein zirkulärer Prozess der Bürgschaft garantierte die Autorität der Karte: Wissenschaftliche Objektivität und Methode versicherten wissenschaftliche Genauigkeit und Wahrhaftigkeit. Die offensichtliche Vollständigkeit war zugleich fiktiv: Diese Repräsentation konnte sich keine Lücken erlauben, ,weisse Flecken' der Alpenvermessung etwa waren zu intrapolieren. Sybilla Nikolow (Zeist) demonstrierte das imaginierte Nationsganze als mathematisch-statistisches Produkt: Hier entstand das Volk durch Verfahren der Erfassung und Homogenisierung diskreter Grössen und der Übersetzung abstrakter Zahlengebilde in anschauliche Formen, etwa in der bekannten Alterspyramide. Die Zahlen, ihre Verbindung zu Häufigkeiten und Raten sowie ihre graphische und ikonographische Präsentation in Ausstellungen um 1900 schufen neue Einheiten, in welchen sich die Nation auf neue Weise entdecken sollte. Das Individuum trat heraus, indem der Betrachter mit seiner Position in der statistischen Gesamtheit sich zu identifizieren angehalten wurde. Die Beiträge, so Christoph Conrad (Berlin) in seinem Kommentar, nahmen zum Gegenstand, was in der Allgemeingeschichte meist allgemein bleibt: die wissenschaftliche Praxis selbst. Die Darstellungsformen der Wissenschaften lieferten überzeugend die Basis kultureller Verständigung über Karten und Graphen als evidente, unmittelbare Ansichten der Nation. Diese Repräsentationen lösten sich mit der Einübung der Wahrnehmung von den Prozessen ihrer Herstellung ab, wurden zu Naturmodellen und als Massstäbe normgebend.
Um nationalen Argumentationen in den Wissenschaften und der Festigung der Wissenschaftsgemeinschaft im Gefüge der Nation nachzugehen, konzentrierten sich Marc Schalenberg (Berlin) und Constantin Goschler (Berlin) auf die Politik wissenschaftlicher Sozietäten und ihrer Protagonisten. Anhand der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GdNAe) diskutierten sie, wie Nation funktional wurde für die Etablierung und Legitimierung der Agenda der Wissenschaftler. Mit der offenen Mitgliedschaft richtete sich die GdNAe inmitten der Disparatheit deutscher Staaten an die vorgestellte Nation - ein performativer Akt vereinnahmender Bezugnahme. Als einer der herausragenden Strategen der Zirkularität von nationalen und wissenschaftlichen Argumenten erklärte Rudolf Virchow in Festreden mit Verweis auf die nationale Einheit den Charakter einer deutschen Wissenschaft. Angesichts der Diskussionen in der vorangegangenen Sektion wäre genauer zu untersuchen, so Iris Schröder (Berlin) und Vera Tolz (Salford, UK) in ihren Kommentaren, in welcher Weise "nationale Argumente" nicht nur der öffentlichen Legitimierung von Wissenschaft dienten, sondern auch in die Forschungspraxis selbst diffundierten. Olga A. Valkova (Moskau) lieferte einen Ausblick darauf mit ihrer Frage nach der Bedeutung von Sprache in der Vorstellung der Nation. Am Beispiel des wissenschaftlichen Publikationswesens in Russland um 1850 demonstrierte sie das Dilemma, in welches der Zwang zur internationalen Anerkennung den national verpflichteten Wissenschaftler stürzen konnte: Würde die russische Wissenschaft durch den landessprachigen Artikel deutlicher oder besser repräsentiert als durch den international wahrgenommen deutsch- oder französischsprachigen Artikel? Der Beitrag verwies auf einen der scheinbaren Widersprüche, der die gesamte Tagung begleitete: Die Nation entsteht durch ihre internationale Anerkennung. Jede nationale Bezugnahme auf Wissenschaft muss sich auf transnationale Standards berufen.
Das prekäre Verhältnis von Eigenem und Universellem in den Naturwissenschaften war Thema der letzten Sektion. Gabriele Metzler (Tübingen) verhandelte am Beispiel der Physik die Rhetorik, die in der Situation der Ausgeschlossenheit Deutschlands aus der internationalen Wissenschaftlergemeinschaft nach dem 1. Weltkrieg die Wissenschaft zu einem Objekt von nationalem Wert machte. Das Ideal universalistischer Wissenschaft wurde zu einem Rahmen für die Rede einer spezifisch deutschen Elite und ihrer Wertarbeit, die Deutschland in die internationalen Ränge der Forschung zurückbringen sollte. Als "Kulturträgerin" wurde die Wissenschaft zur Quelle nationaler Identitätsbildung. Eckhardt Fuchs (Berlin) führte den Internationalismus in den Wissenschaften auf die "Konferenzbewegung" seit den 1860er Jahren zurück. Der 1. Weltkrieg habe sich weniger als Zäsur denn als Weiche für die Herausbildung einer neuen Form von Wissenschaftsinternationalismus erwiesen: Dieser Pan-Amerikanismus, der Europa als wissenschaftliches Zentrum ablöste, verfolgte gerade im universalistischen Gedanken massiv die nationale Agenda. Christian Geulen (Essen) bearbeitete entlang der evolutionstheoretischen Auseinandersetzungen um die Vererbung erworbener individueller und kollektiver Eigenschaften, wie sich der Nationalismus zu einer Wissenschaft der Nationalcharaktere, der biologischen Reproduktion der Nation, professionalisierte. Zum wissenschaftlichen Gegenstand geworden verriet nationale Identitätsbildung die Ansprüche wissenschaftlicher Universalität nicht, sondern bestärkte sie noch. Dieter Hoffmann (Berlin) reflektierte in seinem Kommentar die Verschiedenartigkeit des Verhältnisses von intellektueller Hegemonie und politischer Macht hinsichtlich des nationalen (Deutschland versus USA) wie des wissenschaftlichen Settings (Physik versus Chemie). Die Beziehungen seien jeweils deutlich und eng, jedoch keine ursächlichen.
Ralph Jessen (Berlin) und Dominique Pestre (Paris) kamen in ihren Abschlusskommentaren in zwei Punkten überein: Zum einen warnten sie vor voreiliger Kategorienbildung und vor dem unreflektierten Gebrauch eines Vokabulars, das Wissenschaft und Nation als gegeben und statisch bereits voraussetzt. Sie schlugen vor, Wissenschaft und Nation als Geflechte und Bezugssysteme zu behandeln und jene sozialen Relationen zu untersuchen, in welchen ,Nation' und ,Wissenschaft' als Gebilde erst entstehen. Zum zweiten mahnten sie an, die Interaktionen zwischen Wissenschaft und Nation nicht auf ihre semiotischen Praktiken, ihre sprachliche Verfasstheit und ihre Kommunikation im öffentlichen Raum zu beschränken. Die Untersuchung der "secret science" (Jessen), der materiell-semiotischen Kulturen und Praktiken der Wissenschaft, die bislang primär Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte blieben, sollten zukünftig stärker in die allgemeingeschichtliche Analyse der Nationsbildungsprozesse eingehen. Seit dem späten 19. Jahrhundert, so Pestre, haben Technowissenschaften die Welt nicht mehr nur beschrieben, sondern durch ihre Aktivitäten, Technologien und machtvollen Objekte die Welt gestaltet, wenn nicht gleichsam neu erschaffen. Wissenschaft ist seither der evidente Weg, die Welt einzufassen. Darin zeichnet sie sich vor anderen nationsbildenden Aktivitäten aus. Insofern hat die Tagung gezeigt, dass Wissenschaftsgeschichte keinesfalls als eine kleine Nische der Geschichtsschreibung aufzufassen ist, sondern in vielfacher Hinsicht mit jenen grossen Problemen verknüpft ist, die im Zentrum der sogenannten allgemeinen Geschichte verhandelt werden.
Sabine Hoehler, Max Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin
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