Selbstzeugnisse fruehneuzeitlicher Staedterinnen
39. Arbeitstagung des Suedwestdeutschen Arbeiskreises fuer
Stadtgeschichtsforschung, 17.-19. November 2000, Heidelberg
In Kooperation mit dem Stadtarchiv Heidelberg (Peter Blum) und dem stellvertretenden Vositzenden des Suedwestdeutschen Arbeitskreises fuer Stadtgeschichtsforschung (Hans-Peter Becht) fand vom 17. bis 19. November 2000 eine von Daniela Hacke (Zuerich) und Bernd Roeck (Zuerich) konzipierte interdisziplinaere Tagung mit dem Titel "Selbstzeugnisse fruehneuzeitlicher Staedterinnen" statt, an der ueber 60 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilnahmen.
In der Eroeffnung der Tagung umriss Bernd Roeck kurz das Forschungsfeld und formulierte grundsaetzliche Ueberlegungen zur Genese des Individuums. Die erstmals in Italien und in den Niederlanden entstandenen Portraets wurden als eine Zunahme der Reflexion ueber das Selbst gedeutet - und nicht der Geburt des Individuums. Es setzte sich seit dem ausgehenden Mittelalter eine neue Auffassung des Selbst und der Welt durch, die - so die These - in einer komplexen Beziehung zum neuzeitlichen Saekularisierungsprozess steht. Diese Entwicklungen traten zuerst in Staedten und im hoefischen Ambiente auf, da dort die Kommunikationsstrukturen, die Bildungsmoeglichkeiten und die religioese Infrastruktur intensiver entwickelt waren als in laendlichen Gesellschaften.
Die Historikerin Benigna von Krusenstjern (Goettingen) wies in ihrem Vortrag "Schreibende Frauen in der Stadt der Fruehen Neuzeit" eindringlich darauf hin, dass wir von schreibenden Staedterinnen noch keine ausreichenden Kenntnisse besitzen. Dies erklaerte die Referentin mit der unguenstigen Ueberliefungssituation von Selbstzeugnissen im allgemeinen, von denen Selbstzeugnisse von Frauen im besonderen Mass betroffen waren. Die Gleichsetzung schreibender Frauen jener Zeit mit Dichterinnen und Schriftstellerinnen verengte ueberdies den Blickwinkel der Forschenden - "einfachere", d. h. nicht literarische Formen weiblichen Schreibens blieben in einer solchen Perspektive weitgehend unbeachtet. Diesen einfacheren Formen weiblichen Schreibens ging die Referentin in ihrem Vortrag nach; anhand von Beispielen konnte sie ueberzeugend darstellen, dass Staedterinnen trotz ihrer Benachteiligung bei Bildung und Ausbildung im 16. und 17. Jahrhundert eine von ihnen als selbstverstaendlich empfundene Schreibfaehigkeit besessen und diese nicht anders als Maenner in verschiedenen Gattungen (u. a. in Familienbuechern, Zeitchroniken, Lebenslaeufen und Briefen) angewandt haben.
Die Vormittagssektion wurde am 18. November von der Historikerin Ulrike Gleixner (Berlin) mit einem Vortrag ueber "Frauen in pietistischen Selbstzeugnissen" eroeffnet. Die Referentin wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass im Pietismus alle (auto-) biographischen Schreibformen Gestaendnis- und Bekenntnistexte sind (Tagebuch, Brief, Autobiographie, Biographie, Lebenslauf und Lebenslauf in der Leichenpredigt). Die Referentin entwickelte ein Textverstaendnis, in dem eine Trennung zwischen dem schreibenden Subjekt und dem Text aufgehoben wurde. Erst durch den Schreibprozess erfaehrt, erkennt und konstituiert sich das Subjekt, schafft aber auch gleichsam (neue) Identifikationsstrukturen innerhalb einer frommen Genealogie und Gedaechtniskultur. Zudem war pietistisches Schreiben geschlechterspezifisch gepraegt. Der Pietismus ermoeglichte Frauen zwar das Schreiben, ihre Teilnahme an der Schreibkultur unterlag jedoch erheblichen Einschraenkungen. Lebenslaeufe oder Autobiographien, die immer auch einen beruflichen, akademischen Werdegang beschreiben, konnten sie nicht verfassen.
Der zweite geplante Vormittagsvortrag der Historikerin Brigitte Schnegg(Bern) "Tagebuchschreiben als Selbstpruefung. Das Beispiel der Bernerin Henriette Stettler-Herport" musste wegen Krankheit ausfallen. Stattdessen referierte Olaf Schulze (Pforzheim) kurzentschlossen ueber das "Leben und das Werk der Dichterin Wilhelmine Mueller, geborene Maisch (28. August 1767 - 12. Dezember 1807)," der ersten Frau des Karlsruher Buchhaendlers und Verlagsgruenders Christian Friedrich Mueller. Im Mittelpunkt des Vortrags stand eine Analyse des Frauenbildes der Wilhelmine Mueller. Auf der Basis von autobiographischen Notizen und Briefen, aber auch von Gedichten der Autorin (die der Referent zu den Selbstzeugnissen zaehlte), rekonstruierte Olaf Schulze die Reflexionen der Autorin ueber ihre Rollen als Ehefrau, Mutter und Schriftstellerin.
Die Nachmittagssektion wurde von der Kunsthistorikerin Annegret Friedrich(Trier) mit einem Vortrag ueber "Selbstinszenierungen weiblicher Intellektualitaet in der Malerei des 18. Jahrhunderts" eroeffnet. Im Mittelpunkt ihres Vortrags stand das 1779 von Richard Samuel geschaffene Gruppenrollenportraet neun englischer Damen (Bluestocking), The nine living muses of Great Britain. Anhand dieses Gemaelde diskutierte die Referentin das Selbstverstaendnis weiblicher Intellektueller jener Zeit, die Selbstpositionierung ausserhalb maennlicher Institutionen des Wissens und die Vorbildfunktion der klassischen Antike in Rolleninszenierungen und Maskeraden.
Die Nachmittagssektion endete mit einem Vortrag der Germanistin Eva Kormann (Karlsruhe), die ueber die "Selbstvergewisserung in einer verkehrten Welt. Zur Heterologie fruehneuzeitlicher Subjektivitaetskonstruktionen in autobiographischen Texten" sprach. Gegenstand ihrer Analyse waren Klosterchroniken aus dem 17. Jahrhundert (Maria Anna Junius, Clara Staiger und Sebastian Buerstner). In ihrem Vortrag ging die Referentin von einer heuristischen Definition der Autobiographik als Sammelbezeichnung fuer Selbstbeschreibungen einer Person im Sinne eines autobiographischen Pakts (nach Lejeunes) aus, die sich auf "Leben" beziehen, also einen "referentiellen Pakt" schliessen, und die geschrieben, folglich konstruiert sind. Die Selbstbilder und die "Subjektivitaet", die in autobiographischen Texten formuliert werden, koennen sich in ganz unterschiedlichen Formen zeigen, wie die Analyse der aus der Zeit des Dreissigjaehrigen Kriegs stammenden chronikalen Texte bewies. Es lassen sich heterologe Selbstbilder finden, d. h. die Autorinnen (und der Autor) beschreiben sich selbst, indem sie anderes beschreiben und sich auf andere beziehen. Als die markantesten Beispiele fuer eine solche Heterologie galten der Referentin die Selbstbezeichnungen der Autorinnen im Titel ihrer Chroniken "ich schwester Maria Anna Juniusin" und "ich S. Clara Staigerin". Die Chroniken aus der Kriegs- und Krisenzeit werden, so die These des Referats, zu "Selbstvergewisserungen einer verkehrten Welt".
Die Historikerin Gesa Ingendhal (Tuebingen) referierte zum Tagungsabschluss "Zum Selbstverstaednis der "armen Witwe" in der Fruehen Neuzeit. Eigen-Sinn und Fremd-Sinn." Gesa Ingendhal stuetzte sich in ihrem Vortrag auf Winfried Schulzes 1996 in die Diskussion eingefuehrten - erweiterten - Begriff der Ego- Dokumente, um in ihrem Vortrag auch illiterate Frauen, die keine selbstverfassten Selbstzeugnisse hinterlassen haben, in den Prozess der Individualisierung einbeziehen zu koennen. In diesem Sinne rekonstruierte die Referentin aus Heiratsvertraegen, Bittschriften und Klagebriefen von Frauen Facetten des Selbst, die sich hinter administrativer Formelsprache und anderen ausserindividuellen Zwaengen verbergen. Die Referentin zeichnete ein streitbares Bild der "armen Witwe" in der staedtischen Gesellschaft der Fruehen Neuzeit. Frauen, wie die Metzgerswitwe Katharina Schmiedin oder die Knopfmacherwitwe Elisabetha Jordanin, setzten sich selbstbewusst mit den Freiraeumen und Grenzen ihres kulturellen Status auseinander und wussten den Topos der Beduerftigkeit taktisch klug zu nutzen.
In der sich anschliessenden Schlussdiskussion wurden die einleitend von Bernd Roeck genannten Parameter fuer die Erforschung (weiblicher) Selbstzeugnisse (Genese des Individuums in Italien, zunehmende Saekularisierung = zunehmende Reflexion ueber das Selbst) kontrovers diskutiert. Eine Zunahme der Reflexion ueber das Selbst mit zunehmender Saekularisierung gleichzusetzen, sei problematisch, da von einem fortschreitenden Entwicklungsmodell ausgegangen werde, an dem vor allem in der Diskussion Kritik geuebt wurde und in dem Brueche (oder auch eine "Abnahme" von Selbstreflexion) nur schwer zu thematisieren seien. Abschliessend wurde eine positive Bilanz der Tagung gezogen und betont, dass die Erforschung schreibender Frauen (in Sinne der Definition von Benigna von Krustenstjern) in der Fruehen Neuzeit weiterhin ein Desiderat der Forschung darstellt. Die Tagung verstand sich als ein erster Schritt in diese Richtung. Ein erstes Fazit koennte lauten, dass sich Frauen in verschiedene Gattungen einschrieben, aber selber keine eigenen Formen entwickelten.
Daniela Hacke (Zuerich)
(mit freundlicher Mitarbeit der Referentinnen und des Referenten)
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