[Der nachfolgende Artikel unseres Listenmitglieds Bodo Mrozek erschien leicht gekuerzt im Berliner "Tagesspiegel" vom 19. Mai 1998 (Nr. 16 341, S. 27) K.B.]

Tagungsbericht: Orte des Erinnerns, Schloss Genshagen, 15.-16. 5.98

Schwierigkeiten mit dem Gedenken

Politiker und Historiker suchen europaeische "Orte des Erinnerns" / Eine deutsch-franzoesischeTagung

Von Bodo Mrozek

Alle Jahre wieder: Faeuste recken sich trotzig in die Hoehe, rote Fahnen flatteren im Wind. Die Massen lassen das ZK der SED hochleben. Mit derart enthusiastischen Bildern wuerdigte das "Neue Deutschland" jaehrlich den DDR-Gedenktag an die Ermordung Rosa Luxe mburgs und Karl Liebknechts am 15. Januar 1919. Die "Vermaechtnisse von Karl und Rosa" wurden indes jaehrlich ausgetauscht. Mal ging es gegen die Nato, mal fuer die Mauer: Planerfuellung in Sachen Staatsgedenken.
Anlaesslich eines deutsch-franzoesischen Symposiums im "Berlin-Brandenburgische Institut fuer Deutsch-Franzoesische Zusammenarbeit e.V." (BBI) beschrieb der Historiker Martin Sabrow(Potsdam) das Verschmelzen von Mythen, Wissenschaft und Politik zu eine m "kollektivierten Gedaechtnis." Daneben habe sich allerdings eine Suboeffentlichkeit entwickeln koennen, wie die Diktaturforschung herausarbeitete. Das Gedenken an die ermordeten Kommunisten, fuer die bis heute alljaehrlich, nun aber freiwillig, Zehntausende demonstrieren, fuehrte ins Zentrum des Tagungsthemas "Orte der Erinnerung."

Die BBI-Direktoren Rudolf von Thadden und Brigitte Sauzay hatten Historiker und Politiker aus Frankreich und Deutschland in die Abgeschiedenheit von Schloss Genshagen in Brandenburg eingeladen. Das Herrenhaus, fern ab von Grossstadtbetrieb und S-Bahnhof, be erbergt in seinen malerisch broeckelnden Mauern seit drei Jahren das Institut, finanziert vom Land Brandenburg, dem franzoesischen Aussenministerium, der Robert-Bosch-Stiftung und wechselnden Sponsoren.

Gedaechtnis, Erinnerung, Gedenken: das sind oft drei Paar Schuhe, zumal im Geschichtsjahr 1998. Noch ist der Nachmaerz der Gedenkrituale 150 Jahre nach der 1848er Revolution nicht ausgeklungen, schon hagelt es wieder Jubilaeen: 30 Jahre Studentenrevolte, 80 Jahre Novemberrevolution, 350 Jahre Westfaelischer Friede. Dazu die Geburtstage von Bert Brecht und Hildegard von Bingen, der Todestag Theodor Fontanes; die Aufzaehlung liesse sich verlaengern.

Auch Frankreich werde derzeit von einer Welle der Jubilaeen ueberrollt, so berichtete der Historiker Maurice Agulhon (Paris): es jaehren sich das Toleranz-Edikt von Nantes (1598), das den konfessionellen Frieden herstellte, die Sklavenbefreiung (1848) und Emile Zolas beruehmter Apell "J'accuse!" waehrend der Dreyfus-Affaere (1898). Agulhon konstatierte zwar eine Entmystifizierung beim Gedenken etwa an Resistance und Kolonialzeit, doch sei Erinnerung im oeffentlichen Leben oft immer noch unzulaessig vereinfachend. "Eine serioese Botschaft beim Gedenken muss aber eine komplexe sein."

Waehrend in Deutschland die Gedenktage meist gefeiert werden, wie sie fallen, hat die Beschaeftigung mit dem Erinnern in Frankreich Tradition. Lange bevor hierzulande Wissenschaftler wie Jan und Aleida Assmann das kulturelle und nationale Gedaechtnis untersuchten, befassten sich Franzosen mit aehnlichen Fragestellungen. Schon 1925 beschrieb Maurice Halbwachs in Anknuepfung an den Soziologen Emile Durkheim das gesellschaftliche Denken als kollektives Gedaechtnis, das sich aus gegenwaertigen Fragen rekonstruiere. I n den 80er Jahren begann der franzoesische Historiker Pierre Nora sein monumentales Projekt der lieux de memoires. In einer mehrbaendigen Essay-Sammlung beschreiben rund hundert Wissenschaftler "Erinnerungsorte", die "das Gedaechtnis der franzoesischen Nation " verkoerpern: Denkmaeler, Gebaeude wie Versailles oder Notre-Dame sowie Feiern und Symbole wie die Trikolore.

Etienne Francois, Direktor des Centre Marc Bloch (Berlin), plant gemeinsam mit dem Historiker Hagen Schulze von der Freien Universitaet Berlin eine deutsche Geschichte der Erinnerungsorte zu entwerfen.

Aber kann man das franzoesische Konzept einfach auf Deutschland uebertragen? Es bestehe die Gefahr einer politischen Legitimation der Geschichte wider Willen, raeumte Francois ein. "Das kennen wir nur allzu gut." Deshalb muesse eine Geschichte deutscher Erinnerungsorte aus europaeischer Perspektive geschrieben werden. Schliesslich ist auch Versailles, wo 1871 das Kaiserreich ausgerufen und 1919 der Friedensvertrag zum Ende des Ersten Weltkrieges unterzeichnet wurde, ein deutscher Erinnerungsort. Der Ausspruch Marc Blochs, es gebe keine franzoesische, nur eine europaeische Geschichte, gelte erst recht fuer Deutschland, meinte Francois.

Richard von Weizsaecker sprach sich fuer einen europaeischen Gedenktag aus. Doch sieht er dabei Schwierigkeiten: "Es wird nicht leicht sein, das Gedenken in Europa anzugleichen." Davon zeugte auch die Diskussion. Der Europa-Abgeordnete Wolfgang Ullmann ( Buend nis 90/Gruene) plaedierte fuer den 8. Mai als "europaeischen Tag der Befreiung" und der Historiker Reinhart Ruerup (TU Berlin) warf gleich einen bunten Strauss moeglicher Feiertage in die Diskussion: den Waffenstillstand von 1918, den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in Prag am 20. August 1968 oder das Ende des 30jaehrigen Krieges. Der Bielefelder Sozialhistoriker Reinhart Koselleck stellte sich gegen ein Gedenken, das "kostenlos zu haben" ist und sprach sich dafuer aus, ein Holocaust-Denkmals fuer alle Opfergruppen zu errichten.

Zeitweise erweckten die Debatten den Eindruck, man sei zusammengekommen, sich auf einen europaeischen Gedenktag zu einigen. Einige Diskussionsbeitraege liessen sich deswegen als korrigierende Antraege zur Geschaeftsordnung verstehen: etwa wenn Heinz Kittsteiner (Frankfurt/Oder) einwandt, "sich von der rueckwaertsgewandten Gedenkrethorik abzuwenden" und keine kuenstlichen Erinnerungstage zu produzieren. Oder wenn Etienne Francois mahnte, die Aufgabe des Historikers sei nicht, ein Gedenken zu veranstalten, sondern es zu analysieren. Und Martin Sabrow kritisierte die Konstruktion einer europaeischen Geschichte von einem ex-post-Standpunkt aus.

Die Schwierigkeit mit der europaeischen Erinnerung liegt auch an einem Forschungsmagel: waehrend allerlei neuere Arbeiten mittlerweile die emotionalen Grundlagen der Nationen herausstellen, wie derzeit auch in der Berliner Ausstellung "Mythen der Nationen" (Deutsches Historisches Museum) zu besichtigen, fehlt es an einer wirklich internationalen Konzeption: eine europaeische Geschichte der lieux de memoires steht noch aus.

Ein Tagungsband mit Beitraegen von Maurice Agulhon, Etienne Francois, Jean-Francois Forges, Daniel Dayan, Marc Ferro, Michael Werner, Reinhart Koselleck, Otto Gerhard Oexle, Adam Krzeminski, Martin Sabrow u.a. ist in Vorbereitung und erscheint voraussichtlich im Goettinger Wallstein-Verlag.


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Bodo Mrozek" <bodomr@zedat.fu-berlin.de>
Subject: Tagungsbericht: Orte des Erinnerns, Schloss Genshagen, 15.-16. 5.98
Date: 26.5.1998


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