Kultur. Ein interdisziplinaeres Kolloquium zur Begrifflichkeit.

Halle (Saale), 18. bis 21. Februar 1999

Ein Tagungsbericht von Dr. Ortwin Dally

Kultur hat Konjunktur. Der Begriff taucht nicht nur in der Umgangssprache in unterschiedlichen Zusammenhaengen auf, er ist auch in Humanwissenschaften zu einem intensiv diskutierten Erklaerungsmuster geworden. Seit den achziger Jahren hat in zahlreichen Faechern eine ”kulturale Wende” stattgefunden oder ist noch im Gange. In der Soziologie, den Geschichtswissenschaften, Philologien und der Ethnologie, aber auch in vielen anderen Faechern wie der Philosophie, der Geographie und den sog. area studies ruecken kulturell definierte Fragestellungen immer mehr in den Vordergrund. Der Kulturbegriff wird jedoch nicht allein in den Humanwissenschaften thematisiert, auch die Naturwissenschaften nehmen ihn immer mehr in den Blick.

Eine Tagung in Halle (Saale), deren Beitraege jetzt publiziert worden sind (Bestellungen: Landesamt fuer Archaeologie Sachsen-Anhalt; Bibliothek; Richard-Wagner-Str. 9-10; D-06114 Halle [Saale]; e-mail: poststelle@lfa.mk.sachsen-anhalt.de), hatte zunaechst das Ziel, eine Bestandsaufnahme der erkenntnistheoretischen und begrifflichen Reflexion in einigen Natur- und Humanwissenschaften zu erzielen (1). Wesentlich fuer die Konzeption der Tagung war, Natur- und Humanwissenschaftler ins Gespraech zu bringen, um herauszuarbeiten, in welchem Masse jeweils Kultur als Erklaerungsmuster menschlichen Handelns dient, und ob sich Anknuepfungspunkte ergeben (2). Fragen nach der Gewichtung kulturaler Faktoren in den einzelnen Faechern, ihrer Forschungspraxis und der Nutzung des Kulturbegriffs fuer empirische Analysen sowie nach Differenzen und Gemeinsamkeiten im Umgang mit dem Kulturbegriff bei der Theroriekonstruktion standen im Vordergrund.

Der Ablauf des Kolloquiums war so organisiert, dass zunaechst die naturwissenschaftlichen Faecher zu Wort kamen und danach die Humanwissenschaften. Den einfuehrenden Vortrag hielt Eberhard May, der die wichtigsten Argumente fuer einen fliessenden Uebergang von Natur und Kultur auflistete. Es folgten zwei Vertreter der Soziobiologie: Eckart Voland wandte sich gegen Vorstellungen einer einseitigen Determination des Menschen durch Kultur. Volker Sommer fuehrte die Anwendung einer soziobiologischen Argumentationsweise auf kultur-wissenschaftliche Fragen vor.

Hans-Peter Wotzka (Ur- und Fruehgschichte) und Ortwin Dally (Klassische Archaeologie) machten deutlich, wie durch traditionelle Forschungsansaetze und die spezifischen Fundgegenstaende der jeweiligen Wissenschaft ihr Kulturbegriff bis heute bestimmt wird. Christoph Conrad (Geschichte) und Hans Peter Hahn (Ethnologie) zeigten, inwiefern der Stellenwert des Begriffs Kultur von der fachinternen Diskussion abhaengig ist, und sich deshalb im Lauf der Wissenschaftsgeschichte geaendert hat. Hans Peter Hahn und Bettina Schmidt (Ethnologie) verdeutlichten unterschiedlich, fast gegensaetzliche Moeglichkeiten, mit der Forschungsausrichtung auf die Probemlagen der Zeit zu reagieren. Klaus P. Hansen (Amerikanistik) betonte am Beispiel der USA die Differenz in einer Kultur. Kultur laesst sich daher nicht als Einheit denken. Ganz aehnlich argumentierte Winfried Gebhardt (Soziologie), der aber noch deutlicher darauf einging, was sich daraus konkret an Fragen und Aufgaben fuer die Forschung ergibt. Damit beschrieb er den aktuellen Stand seines Faches, waehrend Gernot Saalmann (Soziologie) sich auschliesslich mit der Theoriegeschichte befasste. Dies diente im in erster Linie dazu, auf Punkte hinzuweisen, die in einer systematischen Kulturtherie von Bedeutung sind. Holger Kalehta (Philosophie) stellte einen Ausschnitt aus der Diskussion um die Philosophische Anthropologie dar. Bernd Juergen Warneken (Empirsche Kulturwissenschaft) blickte zurueck in die Geschichte seines Faches. Am Beispiel der Konzepte von Volkskultur und Hegemonialkultur zeigte er auf, wie sich die Betonung von einem Nebeneinander und einer Pluralitaet zu einem Miteinander und der wechselseitigen kreativen Aneignung verschoben hat. Helge Gerndt (Volkskunde) schliesslich stellte am Beispiel von ”Kultur” sehr anregende weiterfuehrende Fragen zur Funktion und Verwendung ueberhaupt von Begriffen. Im Verlauf der Tagung schaelten sich in den einzelnen Rede- und Diskussionsbeitraegen einige Aspekte heraus, die noch einmal aufgegriffen werden sollen:

Bemerkenswert war, dass der Diskussionsstand in den einzelnen Faechern nach wie vor sehr uneinheitlich ist. Eine ”Kulturalisierung” ist zwar von den meisten Teilnehmern konstatiert worden, der Grad des Diskussionsstandes haengt aber in starkem Masse von der Tradition der jeweiligen Faecher ab. Die Diskussion des Kulturbegriffes und seiner Nutzung muss jedenfalls nicht negativ gesehen werden, sondern sollte als Chance begriffen werden, um nicht nur neue thematische Schwerpunkte zu entwickeln sondern auch aeltere Themen und Inhalte aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Diese Chance drohen Fachgebiete, die sich der aktuellen Diskussion verschliessen, zu versaeumen.

Unbestritten war, dass menschliches Handeln und menschliche Kultur ein biologische Grundlage haben. Es beduerfte allerdings weiterer Untersuchungen und Gespraeche dazu, wie gross die Rolle biologischer Grundlagen bei der Erklaerung kultureller Phaenomen einzuschaetzen ist. Die Frage des Verhaeltnisses von ”Natur” und ”Kultur” bleibt somit aktuell, ebenso wie die nach der Moeglichkeit einer Verknuepfung humanspezifischer und soziobiologischer Kulturdefinitionen.

Die kulturale Wende hat ein Zusammenruecken einiger humanwissenschaftlicher Faecher wenn nicht sogar ein Verwischen der Faechergrenzen zur Folge. Bedingt wird dieses ”Aneinanderruecken” sicherlich zum einen durch die Gobalisierung, die monokausale Erklaerungen fuer kulturelle Phaenomene unmoeglich macht, zum anderen durch den Rueckbezug von Ethnologen, Historikern und Sozialwissenschaftlern auf fuehrende Kulturwissenschaftler wie Max Weber, Michel Foucault, Clifford Geertz u.a. Trotzdem sind die einzelnen Faecher und ihre spezifischen methodischen Herangehensweisen nach wie vor notwendig. Um bestimmte Phaenomene analysieren zu koennen, sind fachspezifische Kompetenzen unverzichtbar. Anstatt den Faecherkanon neu zu konzipieren, sollten deshalb eher neu eingerichtete integrale Studiengaenge, Forschungskolloquien und Sonderforschungsbereiche zur interdisziplinaeren Forschung beitragen.

Deutlich wurde die Ablehnung einer statischen und auf romantische Vorstellungen zurueckgehenden Vorstellung von Kultur als organischer Einheit von Territorium, Sprache, Kunst und Religion. Im Gegensatz zu dieser essentialistischen Sicht von Kultur als ”Container” wurde ueber die Grenzen der humanwissenschaftlichen Faecher hinweg ein offener Kulturbegriff vertreten, der es erlaubt, Kultur als Prozess und Praxis zu begreifen und die jeweiligen Akteure in den Mittelpunkt des Interesses zu ruecken. Diese Sichtweise ermoeglicht eine Abkehr von objektivistischen Vorstellungen und kann darueber hinaus zur Erkenntnis der zeitlichen und soziokulturellen Bedingtheit des eigenen Denkens fuehren. Bezueglich dieser erkenntnistheoretischen Reflxion zeigten sich in der Diskussion grosse Unterschiede zwischen den Vertretern der einzelnen Fachrichtungen. Deutlich wurde ferner, dass es keinen global gueltigen Kulturbegriff gibt. Der Begriff bedarf der Spezifizierung, um ihn fuer empirische Analysen brauchbar zu machen. Trotzdem hat daneben ein allgemein formulierter Begriff seine Berechtigung, da er eine Verbindung der empirischen Einzelanalysen und die Konstruktion umfassender Kulturtheorioen ermoeglicht. Ob Kultur in matrielle, geistige und soziale Kultur unterteilt werden sollte, blieb umstritten. Die Praktikabilitaet und der Wert einer solchen Einteilung des Begriffes muessen sich noch erweisen.

Interesse verdient die mehrfach geaeusserte Beobachtung, dass in vielen Disziplinen der Zentralbegriff merkwuerdig unscharf ist: Leben, Psyche, Gesellschaft, Kultur. Dardurch wird deutlich, dass diese Phaenomene gegenstand fortdauernder Forschung sind. Eine allzu praezise Definition wuerde unter Umstaenden wichtige Aspekte ausgrenzen. Diesem Dilemma laesst sich begegnen mit der oben skizzierten Dialektik zwischen einem allgemeinen, haeufig nur implizierten Kulturbegriff und einem jeweils spezifischen, explizieten Begriff innerhalb einer besonderen Fragestellung. Ein staendiges, die Forschung begleitendes Nachdenken ueber ”Kultur” gehoert zum Alltag jeder Kulturwissenschaft notwendig dazu.

Die angerissenen Punkte zeigen, dass die Diskussion zur Bedeutung von ”Kultur” im Fluss ist. Das Potential der damit zusammenhaengenden Fragen ist noch laengst nicht erschoepft. Ein Ende der Diskussion – dies wurde in Halle sehr deutlich - ist momentan nicht abzusehen.

1) Vgl. auch K. P. Hansen (Hrsg.), Kulturbegriff und Methode: der stille Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften (Tuebingen 1993).- Auch hier wird die Diskussion des Kulturbegriffs in diversen Faechern beschrieben. In dem Sammelband finden sich auch Aufsaetze zur Kunstgeschichte, Kulturgeographie und Psychologie, die in dem Hallenser Kolloquium nicht vertreten waren.- Vgl. auch B. Henningsen – S. M. Schroeder (Hrsg.), Vom Ende der Humboldt-Kosmen. Konturen von Kulturwissenschaft (Baden-Baden 1997).

2) Vgl. dazu jetzt auch O. G. Oexle (Hrsg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplemtaritaet, Goettinger Gespraeche fuer Geschichtswissenschaft 6 (Goettingen 1998).


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Dr. Ortwin Dally" <dally@zedat.fu-berlin.de>
Subject: Tagungsbericht: Kultur. Ein interdisz. Koll. zur Begrifflichkeit (Halle, 18.-21.2.99)
Date: 27.11.2000


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