Tagungsbericht "Herrschaft und Kommunikation in Brandenburg-Preussen 1600- 1850"

26./27. Mai 2000, Berlin

Programm

Das zentrale oeffentliche Thema an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert ist die aktuelle Kommunikationsrevolution, die sich aus technischem Fortschritt, oekonomischen und politischen Globalisierungsmechanismen sowie grenzenloser Informationsbereitstellung speist. Der Begriff Kommunikation, gepraegt in der fruehen Phase der Industriellen Revolution in England, ist mittlerweile, wie Hans Juergen Teuteberg formuliert, zu einer modischen Alltagsvokabel mit universalistischem Anspruch mutiert. Der Begriff gilt als Sammelbezeichnung fuer "alle Formen von Verkehr, Verbindung, Vermittlung und Verstaendigung". Kommunikation im weitesten Sinne umfasst "den Vorgang der Mitteilung, seine Mittel, seine Aktionen und Reaktionen und die aus ihm notwendig folgenden Wirkungen". Bei diesem enormen oeffentlichen Interesse sowie den sprunghaften Wandlungen im Kommunikationswesen verwundert es daher nicht, dass auch in der Geschichtswissenschaft das Thema in zunehmendem Masse aufgegriffen und der Kommunikationsbegriff seit etwa zehn Jahren in beinahe exponential steigendem Masse benutzt wird.

Die Geschichtswissenschaft befindet sich freilich mit ihrem jaeh entfachten Forschungsinteresse am Phaenomen der Kommunikation nicht in vorderster Front. Die Psychologie und die Publizistik sowie vor allem die Soziologie beschaeftigen sich bereits seit Jahrzehnten mit kommunikationswissenschaftlichen Problemen - und schliesslich hat sich an etlichen Universitaeten das Fach Kommunikationswissenschaft etabliert, mit entsprechenden Lehrstuehlen und wissenschaftlicher Infrastruktur. Diese Faecher und Disziplinen koennen auf eine lange theoretische und methodische Diskussion zurueckblicken. Mehr als 160 Definitionsversuche und umfaengliche Theoriemodelle zur Beobachtung von Kommunikation geben hiervon ein beredtes Zeugnis ab. Fuer den Historiker stellt dagegen die forschungspraktische Operationalisierbarkeit des Phaenomens "Kommunikation" das eigentliche Problem dar.

Ein Ausweg aus diesem Dilemma bietet ein funktionales Bezugssystem, das es ermoeglicht, Phaenomene der Kommunikation in einem konkreten Rahmen zu fassen. Ein solches Bezugssystem stellen die Auspraegungen und Verdichtungsmechanismen der fruehmodernen Staatsbildung dar. Freilich wird der aelteren, teleologischen Vorstellung von Staat in der Tradition des 19. Jahrhunderts, die den Staat als sittliche Idee und zudem ausschliesslich institutionell und normativ begriff, eine Absage erteilt. Statt dessen erscheint in historisch-anthropologischer Perspektive ein Herrschaftsbegriff praktikabel, der - ohne die Institutionen und normativen Vorgaben zu ignorieren - Herrschaft als soziale Praxis auffasst, die vor Ort im direkten Kontakt der unteren Herrschaftstraeger mit den zu Beherrschenden taeglich neu ausgehandelt wurde.

Mit dieser im Prinzip offenen prozessualen Aushandlungspraxis gewinnt die Funktionalitaet der Kommunikation fundamentale Dimension. Ohne funktionierende Kommunikation zwischen den Ebenen der Behoerden und zwischen Obrigkeit und Untertanen war keine wirksame Ausuebung von Herrschaft moeglich. Damit aber kommt dem funktionalen Zusammenhang von Herrschaft, Kommunikation und Verkehr, also der kommunikationstechnischen und verkehrsraeumlichen Durchdringung des Raumes, eminente Bedeutung zu. Brandenburg-Preussen war aufgrund seiner territorialen Zersplitterung und seines beinahe kunststaatlich zu nennenden Charakters in besonderem Masse auf ein funktionierendes Kommunikations- und Informationssystem angewiesen. Die enorme flaechenmaessige Ausdehnung, von Koenigsberg bis an Rhein und Mosel, von der Nordsee bis nach Schlesien, machte ueberdies die schnelle raeumliche Ueberwindung in Gestalt von Chausseen, Kanaelen und einem funktionierenden Postsystem notwendig. Die Integrationspolitik gegenueber neu hinzugewonnenen Provinzen, von denen etliche oekonomisch, politisch und sozial ausserordentlich heterogen waren, verlangte geradezu die Installierung eines Fruehwarnsystems, um disfunktionale Entwicklungen bereits im Keim ersticken zu koennen.

Dieser funktionale Zusammenhang von Herrschaft und Kommunikation war das Thema einer Tagung, die am 26. und 27. Mai 2000 von Ralf Proeve und Norbert Winnige am Forschungsinstitut fuer die Geschichte Preussens (FGP) in Berlin organisiert wurde. Im Anschluss an eine thematische Einfuehrung von Ralf Proeve (Berlin) wurde dieser Zusammenhang in fuenf Sektionen aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Den Anfang bildete die Sektion "Nachrichtenwege und Postorganisation". Esther Beate Koerber (Berlin) untersuchte am Beispiel der Postverbindungen im klevischen Erbfolgestreit das Neben- und Gegeneinander traditioneller Botenverbindungen, der Bauernpost im Rahmen der Landfolge und des Nachrichtensystems der Kaufleute vor dem Hintergrund des Kommunikationsbedarfs der Fuersten. Die praktischen Kommunikationslinien der brandenburg-preussischen Post waren das Thema von Joachim Kundler (Berlin). Unter dem Titel "Kommunikation als Instrument der Herrschaftssysteme. Die Post in Brandenburg-Preussen 1646-1713" schilderte er den Aufbau des Postsystems als integralen Bestandteil des fruehmodernen preussischen Machtstaates. In der zweiten Sektion "Informationsuebermittlung und Rezeption" wurden der Stand der Alphabetisierung und die Nutzung literaler Faehigkeiten als Grundlagen von Kommunikation und Herrschaft behandelt. Norbert Winnige (Goettingen/Berlin) verschaffte einen Ueberblick auf die Entwicklung des Alphabetisierungsstandes in Brandenburg-Preussen zwischen 1650-1850 als Grundlage von Kommunikation und Rezeption. Fuer die laendlichen Kirchengemeinden des Fuerstentums Minden im 18. Jahrhundert untersuchte Reiner Prass (Goettingen) die schriftliche Kommunikation zwischen Provinzbehoerden und Landgemeinden am Beispiel der Distribution und oeffentlichen Bekanntmachung der sog. Circulare. Dass der behoerdliche Alltag einerseits und die Rolle unterer Amtstraeger andererseits einen zentralen Faktor im Funktionszusammenhang von Herrschaft und Kommunikation darstellen, zeigte die dritte Sektion "Informationsgewinnung und Verwaltungspraxis". Ursula Loeffler (Halle) untersuchte Amtsunterbediente in landesherrlichen Aemtern des Herzogtums Magdeburg im 18. Jahrhundert als "Informationsknotenpunkte" zwischen doerflicher Gesellschaft und Obrigkeit. Anne-Margarethe Brenker (Berlin) sprach in ihrem Referat "Breslau und Brandenburg-Preussen zwischen 1740 und 1800. Thesen zur Kommunikation mit einer neueroberten Provinzhauptstadt" ueber den Informationsfluss zwischen Breslau und Berlin, der nicht als einseitige Einflussnahme von oben nach unten verstanden wurde. Stefan Haas (Muenster) bezog seine Beispiele fuer das Referat "Symbolische Kommunikation als Herrschaftsstrategie in Preussen 1790-1848" nicht aus lokal- oder regionalgeschichtlichen Studien, sondern aus dem Komplex der materiellen Kulturgeschichte.

Unter dem Sektionstitel "Diplomatie und Propaganda" sprach Sven Externbrink (Marburg) ueber "Kommunikation - Information - Aussenpolitik. Frankreich und Brandenburg-Preussen 1750-1770". Auf der Basis von Gesandtschaftsberichten stellte er sowohl die Perzeptionsbilder einzelner Diplomaten als auch die Struktur der Informationsvermittlung ueber das jeweils andere Land dar. In der fuenften und letzten Sektion "Strassenbau und Kommunikationstechnik" widmete sich Inga Brandes (Trier) der "Verwaltung des Fortschritts": Gemeindewegebau zwischen Selbstverwaltung und administrativer Steuerung in der Buergermeisterei Senheim 1817-1847". Rudolf Seising (Muenchen) stellte im abschliessenden Vortrag aus der Perspektive des Wissenschaftshistorikers die Einfuehrung der elektrischen Telegraphie in Preussen in der ersten Haelfte des 19. Jahrhunderts vor. Die jeweils halbstuendigen Beitraege wurden von insgesamt 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer intensiv und lebhaft diskutiert, wobei die jeweiligen Sektionsdiskussionen von Ralf Proeve, Ernst Hinrichs (Oldenburg/Berlin), Esther Beate Koerber, Andreas Suter (Bielefeld) und Stefan Brakensiek (Bielefeld) moderiert wurden. In der von Hermann Wellenreuther (Goettingen) eingeleiteten und moderierten Schlussdiskussion wurden unter Stichworten wie Ambivalenz schriftlicher Kommunikation, Information und Repraesentation, Oeffentlichkeit und politische Kultur die Ausgangsfragen der Tagung nochmals behandelt. Die einzelnen Beitraege werden binnen eines Jahres in gedruckter Form vorliegen.

Ralf Proeve, Norbert Winnige


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Norbert Winnige" <nwinnig@gwdg.de>
Subject: TAgungsbericht Herrschaft und Kommunikation
Date: 16.06.2000


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