Schoene Neue Welt - Auswanderung aus dem Rheinland nach Nordamerika vom 17. bis zum 19. Jahrhundert

Wissenschaftliches Symposium

Abtei Brauweiler, Pulheim 15.-17.05.2000

von: Nicola Antonia Peczynsky <n.peczynsky@lvr.de>, Landschaftsverband Rheinland, Fachstelle fuer Regional- und Heimatgeschichte

Programm

Das zweieinhalbtaegige Symposium zur rheinischen Amerikaauswanderung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert in der Abtei Brauweiler (Pulheim) stand im Kontext der geplanten Ausstellung Schoene neue Welt - Rheinlaender erobern Amerika, die das Rheinische Freilichtmuseum Kommern im April 2001 eroeffnen wird. Neben der spannenden Lebensgeschichte des Johannes Herberg wird die Ausstellung grundlegende Aspekte zum Thema Auswanderung darstellen.

Zur wissenschaftlichen Vorbereitung dieses Projekts hatten das Rheinische Freilichtmuseum Kommern und die Fachstelle fuer Regional- und Heimatgeschichte, beides Dienststellen des Landschaftverbandes Rheinland, Fachleute aus der ganzen Bundesrepublik und aus den USA eingeladen, die neue Forschungen zur Auswanderung aus dem Rheinland nach Nordamerika vom 17. bis zum 19. Jahrhundert vorstellten und diskutierten. Die Amerikaauswanderung gehoert zu den schlecht aufgearbeiteten Kapiteln der rheinischen Geschichte, so dass dieses Symposium nicht nur den Forschungsstand in diesem Bereich aktualisieren sondern auch zur weiteren wissenschaftlichen Erforschung anregen wollte. Es gliederte sich in die vier Sektionen Wirtschaftsgeschichte, Politische Geschichte, Religions- und Konfessionsgeschichte sowie Alltags- und Mentalitaetsgeschichte. Das untersuchte Gebiet entsprach etwa der ehemaligen preussischen Rheinprovinz sowie den entsprechenden Siedlungsgebieten in Amerika und umfasste einen zeitlichen Rahmen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert.

Den Eingangsvortrag in der ersten Sektion Wirtschaftsgeschichte ueber die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhaeltnisse in den rheinischen Territorien im 18. und 19. Jahrhundert mit ihren Folgen fuer die Auswanderung hielt Prof. em. Friedrich Zunkel (Koeln). Trotz Zuwanderung und Geburtenueberschuss im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts blieb die Emigration aus den rheinischen Territorien gering, denn hier gewaehrleisteten eine relativ leistungsstarke Landwirtschaft und der Aufschwung der vorindustriellen Gewerbe eine weitgehend ausreichende Versorgung. Deshalb haetten bei den meisten Auswanderern subjektive Motivationen die objektiven Auswanderungsgruende uebertroffen. Aus Sorge um die Wirtschaftskraft verhaengten aber viele rheinische Landesherren Verbote, die nur Arme und soziale Aussenseiter aussparten. In den linksrheinischen Gebieten fuehrten erst die Franzosen 1799 Freizuegigkeit ein, die ab 1818 mit Einschraenkungen auch in der preussischen Rheinprovinz galt.

Nach der seit 1844 offiziell gefuehrten Statistik, deren Zahlen aber nach Meinung des Referenten zu niedrig gewesen sein duerften, kamen zwei Drittel der Emigranten aus den Regierungsbezirken Trier und Koblenz. Die Bereitschaft zur Massenauswanderung im 19. Jahrhundert war Folge der Verarmung breiter Bevoelkerungsschichten aufgrund langfristig wirkender struktureller Veraenderungen in Wirtschaft und Gesellschaft im Zuge der Industrialisierung, die durch die Wirtschaftspolitik noch verschaerft wurde. Im Gegensatz zu anderen Gebieten gelang es weder den franzoesischen noch den preussischen Behoerden in der Rheinprovinz die Nahrungsversorgung fuer die seit Ende des 18. Jahrhunderts stark wachsende Bevoelkerung in ausreichendem Masse auszuweiten. Daneben war in den Rheinlanden bis 1871 auch die Vermeidung des verhassten preussischen Militaerdienstes ein wichtiger Auswanderungsgrund.

Aufgrund der fortschreitenden Proletarisierung breiter Bevoelkerungsschichten, die zu Massenauswanderungsbewegungen fuehrten, koenne fuer die 1840er und 1850er Jahre die Auswanderung aus wirtschaftlich-sozialen Gruenden fuer die Rheinprovinz als notwendiges Ventil bezeichnet werden kann.

In der Diskussion wurde die Reaktion der amerikanischen Behoerden auf die obrigkeitliche Abschiebepolitik in den rheinischen Territorien im 18. und 19. Jahrhundert thematisiert. Zudem wurde angeregt, die in den rheinischen Territorien oftmals pragmatische, regional sehr unterschiedlich gehandhabte Auswanderungspolitik zu untersuchen, besonders im Zusammenhang mit Fragender Sozialdisziplinierung in der Fruehen Neuzeit.

Im zweiten Vortrag von Prof. Walter Kamphoefner (Texas) ging es um Wanderungsverhalten und Zielorte rheinischer Auswanderer, der dazu die "chance plus chain"-These entwickelt hat, wonach Siedler ihrer lokalen Gemeinschaft treu bleiben, solange es zu keinem Desaster komme. Da eine Ueberpruefung der Ortsnamen in Hinsicht auf die Zielrichtung der Immigranten irrefuehrend sein koenne und Rheinlaender aufgrund ihrer politischen Uneinigkeit diesbezueglich wenig Spuren hinterlassen haetten, hat der Referent Auswanderungsakten des Hauptstaatsarchivs Duesseldorf fuer die Regierungsbezirke Aachen, Duesseldorf und Koeln fuer das 19. Jahrhundert ausgewertet. Aus dem Regierungsbezirk Aachen bevorzugten demnach 38 % der Auswanderer Texas, aus Duesseldorf 44% die Richtung New Jersey und aus dem Regierungsbezirk Koeln zogen 32% der Auswanderer nach Lousiana.

Bei der Strukturierung des Migrationsprozesses aus dem Rheinland besassen personelle Verbindungen und Kettenwanderungen den groessten Einfluss. Aber auch gezielte Siedlungsprojekte zeigten regional unterschiedlich durchaus Wirkung: Der 1845 von Prinz Solms-Braunfels zur Kolonisation Texas' gegruendete Adelsverein machte zwar 1847 bankrott, seine Siedlungsplaetze waren aber auch spaeter noch fuer rheinische Auswanderer attraktiv. Ebenso hatten katholische Siedlungsprojekte ganz unterschiedlichen Erfolg, aber offensichtlich fanden sich Katholiken eher in Siedlergruppen zusammen als Protestanten.

Zudem bestimmte der berufliche und persoenliche Hintergrund die Wahl des Zielortes. Insgesamt gebe es aber keinen Modernisierungseffekt in Hinsicht auf die Beschaeftigungsstruktur, denn der bevorzugte Zielort blieb bis in die 1880er Jahre die laendliche Region, weil fast nur Junggesellen in den Staedten siedelten. Auch das fruehere Arbeitsumfeld spiegelt sich in der Wahl wider, denn Personen des ersten Beschaeftigungssektors siedelten im Mittleren Westen, Handwerker waren am meisten im Sueden und im unteren Westen vertreten, waehrend Beschaeftigte des dritten Sektors vor allem in den Nordosten zogen.

Zum Abschluss der Sektion setzte sich Prof. em. Wolfgang Helbich (Bochum) mit dem Quellenwert von rheinischen Auswandererbriefen fuer die Wirtschafts- und Sozialgeschichte auseinander. Dieser Vortrag bedeutetete gleichzeitig eine kritische Auseinandersetzung mit seiner wissenschaftlichen Arbeit der letzten Jahrzehnte.

Briefe ergaenzen und unterstuetzen amtliche und oeffentliche Quellen. Sie enthalten vor allem Informationen ueber das persoenliche und berufliche Umfeld sowie die Lebenshaltungskosten. Selten dagegen berichten die Briefeschreiber ueber gesellschaftliche und politische Belange in Amerika und ueber ihre Auswanderungsgruende, die die Adressaten in aller Regel kannten.

Die beiden Hauptfunktionen von Auswandererbriefen liegen im Illustrieren und Dokumentieren. Auch koennen Klischees aufgrund der prozentualen Haeufigkeit ihres Vorkommens als quantitaiv signifikante Realitaet eingeordnet werden. Aus Angst vor Zuzug weiterer Familienangehoeriger, die versorgt werden mussten, waren sie zudem selten geschoent und damit die wichtigste Informationsquelle fuer Emigranten. Allerdings wird der Quellenwert durch die Subjektivitaet der Aussagen relativiert: Doch wenn es um Hoffnungen, Wuensche, Wertmassstaebe sowie Aengste und Unsicherheiten geht, vermittelt vor allem das individuelle Werturteil einen halbwegs authentischen Einblick in die Gedankenwelt der deutschen Auswanderer. Dieses Urteil werde aber von persoenlichen Faktoren beeinflusst und so sei es trotz zusaetzlicher Informationen ueber den Briefeschreiber kaum moeglich, zwischen eigenen und uebernommenen Aussagen zu unterscheiden. Auch weisen Briefsammlungen Klassen- und Bildungsgefaelle auf. Regionale Unterschiede lassen sich dagegen nur in Hinsicht auf politische Themen und die Sprache bzw. Mundart ermitteln. Das Hauptproblem der Quellenart "Brief" sah der Referent in der zeitaufwendigen und kostspieligen Erschliessung dieser handschriftlichen Dokumente.

Die Diskussion verdeutlichte, dass es wenige professionelle Briefeschreiber gab, die zumeist in der Stadt lebten und nur selten angefragt wurden. Ueblich war der Sammelbrief, bei dem einzelne Familienmitglieder nacheinander einen Abschnitt lang berichteteten. Geschlechtsspezifische Merkmale lassen sich vor allem in der Wahl der Themen erkennen, da Frauen haeufig ueber den eigenen Haushalt und die Kirche schrieben.

Der zweite Tag der Tagung begann mit der Sektion Politische Geschichte, die von Dr. Wolfgang Splitter (Balitmore/Hattingen) mit einem Vortrag ueber die innere Organisation und politische Bedeutung von Gemeinden rheinischer Auswanderer in Pennsylvania im 18. Jahrhundert eroeffnet wurde. Waehrend die Mennoniten aufgrund ihrer vom oeffentlichen Leben abgeschotteten Gemeindestruktur und ihres theologischen Ansatzes nur geringe Probleme mit der Situation in Nordamerika hatten, befanden sich die lutherischen Geistlichen von Anfang an in einem Zwiespalt: Das Austarieren zwischen den Rechten der Amtskirche in Europa und den Anspruechen der Gemeinde war oftmals eine schwierige Angelegenheit. Sich langsam emanzipierend forderten einige Geistliche daher mehr Mitspracherecht.

Bis in die 1780er Jahre waren die meisten rheinischen Einwanderern an der Einbuergerung nicht interessiert: Mit Ausnahme Franz Kaspar Hasenclevers, der sich vehement fuer die Unabhaengigkeit Pennsylvanias und spaeter der USA einsetzte, finden sich vor 1800 daher kaum deutsche Parlamentarier in den hoeheren politischen Gremien Pennsylvanias. Dafuer gibt es aber Anzeichen rheinischer Beteilung an politischen Entscheidungen in den Counties und Gemeinden. Nach 1710 kam die erste grosse Gruppe von suedwestdeutschen Einwanderern, die von den Erfahrungen der fruehen rheinischen Pioniere profitierte, und gleichzeitig die soziale Integration und den politischen Aufstieg der deutschen Siedler beschleunigten, weil sie das zahlenmaessige Verhaeltnis zwischen den Einwanderergruppen verschoben: So seien die rheinischen Immigranten vielmehr Wegbereiter in Hinsicht auf die Infrastruktur der Ansiedlung als in Hinsicht auf die politische Organisation gewesen. Unerforscht ist dabei noch immer die Bedeutung der "niederlaendischen Rheinlaender". In der Diskussion wurde deutlich, dass sich hinsichtlich des Verhaeltnisses zwischen Amtskirche in Europa und lutherischer bzw. reformierter Gemeinde in Amerika im Zuge der amerikanischen Revolution der Versuch einer Abnabelung vor allem der Lutheraner erkennen lasse.

Der naechste Vortrag von Prof. Antonius Holtmann (Oldenburg) beschaeftigte sich mit der Amerikaauswanderung im Kontext der gescheiterten Revolution 1848/49. Nach seiner Auffassung werde dieser Zusammenhang allerdings ueberbewertet. Stimmen wie der juedische Rabiner Bernhard Wechsler, die eine Republik forderten und deshalb die USA als Vorbild aber auch als Auswanderungsziel sehr positiv beurteilten, waren demnach eher Ausnahmen. So verurteilten die "Oldenburgischen Blaetter" bereits 1833 Auswanderung als etwas fuer Faule und Ungehorsame. In diesem Zusammenhang wurde das sogenannte "Kolumbuslied" von Franz Lohmeyer, das ein sehr vorteilhaftes Bild von Amerika zeichnete, von der Polizei als besonders gefaehrlich eingestuft, weil es zur Aufwiegelung der Bevoelkerung geeignet sei. In kontroversen Debatten in der Paulskirche ueber das Grundrecht der Auswanderung setzten sich linke Gruppierungen fuer Bestimmungen zum Schutze von Auswanderern aus, waehrend die Rechte die Abschiebung von Armen als humane Aktion beurteilte. Auch in den USA reichten die Reaktionen der deutschen Einwanderer auf die Revolution von 1848/49 von der Einrichtung einer Revolutionskasse in Cincinnati bis zu heftigen Verurteilungen in verschiedenen Zeitungen.

Daher sei Immigration im Kontext der Revolution 1848/49 ein vielschichtiges Problem, das sich mit einfachen Erklaerungsmodellen nicht fassen laesst. Die Diskussion ergab, dass das "Kolumbuslied" in mehreren voneinander abweichenden Versionen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten in verschiedenen Territorien auftauchte. Zudem zeigte sich, dass Friedrich Hecker als Typus eines Revolutionaers gerade von orthodoxen lutherischen und katholischen Kirchenzeitungen in Amerika zur Abschreckung verwendet worden sei.

Als letztes in dieser Sektion referierte Barry Moreno vom Museum Ellis Island/New York ueber die Einwanderungsgesetzgebung und -politik im 19. Jahrhundert der USA sowie des Staates New York, ueber den rund zwei Drittel aller Einwanderer in diesem Zeitraum einreisten.

Bereits im Gefolge der Napoleonischen Kriege kamen soviele Fluechtlinge aus Europa, dass die finanziellen Lasten fuer die Bewohner New Yorks zu hoch wurden. Die seit 1824 geaenderte Einreisepraxis, nach der Sicherheiten von Einreisewilligen verlangt wurden, war aufgrund des haeufigen Missbrauchs allerdings in den 1840er Jahren mehrmals Gegenstand von offiziellen Untersuchungen. Zudem ueberstieg die Zahl der Immigranten weiterhin die Kapazitaeten so stark, dass der Staat New York die erste umfassende Einwandererbehoerde schuf, naemlich die 1847 gegruendete "State Board of Emigration Comissioners": Seit 1855 wurden Immigranten direkt vom Schiff zur medizinischen Kontrolle und zur Feststellung der Personalien in die Festung "Castle Garden" gebracht. Kranke und mittellose Einwanderer schickte man nach "Ward Island". Doch auch Castle Garden musste nach zahlreichen Skandalen und aufgrund der Inkompetenz der Beamten angesichts einer wachsenden Zahl von Immigranten im April 1890 geschlossen werden. Der Kongress beschaeftigte sich erst im Zuge des Buergerkrieges ernsthaft mit einer umfassenderen Einwanderungsgesetzgebung und verabschiedete zwei wichtige Gesetze zum Landerwerb und zur Arbeitserlaubnis. Die Wende um 1875 zu einer restriktiven Einwanderungsgesetzgebung hing mit der allmaehlich aufkommenden Diskrimierung von aussereuropaeischen Immigranten zusammen, die seit 1896 die Zahl der alteingesessenen Siedler ueberstiegen. Zudem entzog der Kongress die legeslativen Kompetenzen in der Einwanderungsgesetzgebung den einzelnen Staaten und schuf stattdessen eine Bundesbehoerde, das "Bureau of Immigration". Mit Ellis Island (New York) wurde 1892 die erste nationale Sammelstelle fuer Einwanderer eroeffnet. In der Diskussion praezisierte Barry Moreno die rassische Diskriminerung: Seit 1899 gab es eine offizielle Einwanderungszaehlung nach Rassen, bei der Juden die groessten Schwierigkeiten hatten, denn ihre Integrationsfaehigkeit wurde allgemein bezweifelt.

Die naechste Sektion beschaeftigte sich mit der Religions- und Konfessiongeschichte und wurde mit dem Vortrag von Roland Paul (Trier) eroeffnet, der ueber den Aufbau der reformierten Gemeinden durch rheinische Auswanderer in der Neuen Welt im 18. Jahrhundert sprach. Aufgrund der Defizite in der kirchlichen Betreuung der Neusiedler, wie sie auch der Reisebericht des Gottlieb Mittelberger aus den Jahren 1750 bis 1754 schildert, sprachen die fruehen Prediger oftmals vom "Neuen Kanaan": Demnach gab es weder eine Besoldung noch eine freie Wohnung fuer den Pfarrer, so dass er vollstaendig auf die Gaben der Gemeinde angewiesen war. Zudem teilten sich bis in die 1780er Jahre refomierte und lutherische Gemeinden oftmals einen Kirchenbau. Diese Zustaende provozierten nicht nur Konflikte mit Amtskirche und Gemeinde, sondern schreckten bis in die 1750/ 60er Jahre studierte reformierte Theologen ab. Die Jahre 1749/50 brachten aufgrund der starken Einwanderung einen Umschwung, denn die Zahl der deutsch-lutherischen Gemeinden stieg bis zum Jahr 1776 auf 196, die der reformierten Gemeinden auf 123 an. Die Mehrzahl davon bekannte sich im selben Jahr zur amerikanischen Unabhaengigkeitserklaerung. Zudem besassen die Gemeinden einen starken Einfluss auf das Schulwesen und fuehrten beispielsweise "sunday schools" ein. Erst seit 1812 wurde die deutsche Sprache durch die steigende Zahl englischer Prediger verdraengt, zunaechst in der Stadt, spaeter auch auf dem Land.

Die Diskussion zeigte, dass nicht die fehlende theologische Ausbildung der Grund fuer ein Zerwuerfnis zwischen Gemeinde und Prediger war, sondern vielmehr seine Lebensfuehrung oder seine Gehaltsforderung. Hier verlief die Entwicklung in der Stadt anders als auf dem Land, dessen Bevoelkerung wesentlich religioeser war.

Im folgenden referierte Dr. Ulrich Bister (Herborn) ueber die Wechselbeziehungen zwischen amerikanischen und rheinischen Erweckten des innerkirchlichen und radikal-taeuferischen Pietismus. Er definierte den Pietismus gemaess der Erklaerungen des evangelischen Kirchenlexikons als eine bedeutende Erneuerungsbewegung des Protestantismus seit Ende des 17. Jahrhunderts, die sich mit der Prophetie beschaeftige und die Froemmigkeit in Hinblick auf das "heilige Leben" (Schwaermer und Enthusiasten) intensiviere. Obwohl nicht jede pietistische Gruppe kirchenkritisch war, beurteilte die evangelische Landeskirche diese Bewegung als allgemeine Gefahr.

Um 1700 wanderten Pietisten erstmals nach Amerika aus. In Rueckbezug auf die Bibel sahen viele die neue Welt als das "neue Jerusalem" an. Fuer den Aufbau der pietistischen Gemeinde, die spaeter wieder Ausgangspunkt fuer die Wiederbelebung der Bibelgesellschaften im Rheinland waren, war deshalb die Frage nach dem Verbleib in der Staatskirche zentral. Der erfolgreichste Verleger und Drucker des 18. Jahrhunderts war Christopher Sauer, der mit seinen Buechern alle protestantischen Glaubensrichtungen bediente. Der Forschungsueberblick am Ende des Vortrages zeigte, dass in Bezug auf rheinische Pietisten viele Quellen noch nicht ausgewertet sind: Zu denken waere an eine Zusammenfuehrung und Erforschung der religioesen Zeitschriften zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Zudem plaedierte Dr. Bister fuer einen offeneren Blick in Hinsicht auf die konfessionshistorische Literatur.

Im letzten Vortrag dieses Tages beschaeftigte sich Prof. Andreas Gestrich (Trier) mit der Religionspolitik in den rheinischen Territorien als Ausloeser fuer Auswanderungsbewegungen im 17. und 18. Jahrhundert. Nach Ansicht der neueren Literatur ist religioese Unterdrueckung und Verfolgung als Auswanderungsgrund eher als marginal anzusehen, vielmehr handele es sich dabei um ein vorgeschuetztes Motiv. Dennoch bestehen nach Ansicht des Referenten Zusammenhaenge zwischen der Auswanderungsentscheidung und religioeser Unterdrueckung. Die Obrigkeit in den rheinischen Territorien reagierte auf dreifache Weise auf religioese Randgruppen: Mehrere Landesherren verhaengten seit Ende des 17. Jahrhunderts Verbote gegen radikale Pietisten und Separatisten, die die Staatskirche in Frage stellten. Allerdings wurden meistens nur die Anfuehrer ausgewiesen. Zudem versuchten einige dieser Gruppen, beispielsweise die Separatisten, zunaechst innerhalb des Deutschen Reiches eine neue Heimat zu finden, bevor sie nach Amerika auswanderten. Die beiden weiteren Reaktionsweise bestanden in der Unterdrueckung von religioesen Randgruppen, ueber die wirtschaftliche Auflagen als Disziplinierungsmassnahmen verhaengt wurden, um die Ausbreitung der Gruppe zu stoppen, sowie in der Ueberwachung. Gleichzeitig konnte auf diese Weise auch der Anschein von religioeser Toleranz nach aussen gewahrt werden. Es sei aber kaum moeglich, die verschiedenen Formen der Diskriminierung quantifizierend zu erfassen. Bei groesseren auswanderungswilligen Gruppen darf deshalb auch nicht die Rolle des Weltbildes und der Zukunftserwartungen bei der endgueltigen Auswanderungsentscheidung vernachlaessigt werden. In der Diskussion wurde deutlich, dass mit dem Vormarsch des Katholizismus am Ende des 16. Jahrhunderts die Unterdrueckung der Pietisten und Mennoniten zunahm. Eine Ausnahme stellten hier kleinere Adelshoefe dar, die diese Gruppen aus wirtschaftlichen Gruenden tolerierten. Deshalb kam es bereits in den Jahren 1654 bis 1660 zur ersten grossen (Binnen-) Wanderungsbewegung. Ein noch offenes Forschungsthema sei die Frage, inwieweit finanzielle Interessen der Obrigkeit neben konfessionellen Aengsten bei der Ausweisung eine Rolle gespielt haben.

Am letzten Tag der Tagung beschloss Carola Schmidt (Goettingen) die Sektion Religions- und Konfessionsgeschichte mit einem Vortrag ueber die Rolle deutscher Theologen und Kirchenmaenner beim Aufbau lutherischer Gemeinden in der Neuen Welt. Sie bevorzugte einen exemplarischen Ansatz mit einem Vergleich der Situation in North Carolina und Pennsylvania. Im Jahr 1742 kam der Laienprediger Muehlenberg nach Pennsylvania, um dort als Pastor taetig zu werden und als kirchenobrigkeitlicher Betreuer Locationen durchzufuehren. Angesichts der Zustaende in den lutherischen Gemeinden aenderte Muehlenberg seine politischen und gesellschaftlichen Anschauungen. Seine Lebensaufgabe sah er nun vor allem in der "Ecclesia platanda". Mit der Werbung von Hallenser Theologen als rechtmaessig ordinierte Pastoren und der Weihung einer lutherischen Kirche gelangen Muehlenberg seit Mitte des 18. Jahrhunderts die ersten Schritte hin zu einer hierarchisch strukturierten lutherische Kirche in Pennsylvania. Doch durch den Zusammenschluss der Gemeinden bildete sich eine eigenstaendige lutherische Kirche in Pennsylvania mit synodale Strukturen, die aufgrund der langen Postwege nach Europa weder kontrolliert noch beeinflusst werden konnten. Die Situation der Gemeinden in North Carolina war aehnlich. Doch bemuehten sich die Lutheraner infolge der seit 1770 einsetzenden theologischen Differenzen mit den Reformierten um eigene Pastoren und wandten sich an das Konsistorium in Hannover, das den Pastor Nuessmann nach Uebersee schickte. Der gravierendste Unterschied der Gemeindeordnung Nuessmanns aus dem Jahre 1783 war die Subordination im Vocationsfall unter das Konsistorium Hannover und die Universitaet Goettingen. Mit dem 19. Jahrhunderts beginnt die staerkere Akkulturation in Richtung amerikanischer Umwelt.

Die Diskussion zeigte, dass die staerkere Abhaengigkeit der lutherischen Gemeinden in Amerika von Europa auf die Ankunft der deutschen Pastoren zurueckzufuehren ist, die nochmals einen starken Impuls zur Rueckbesinnung auf die deutsche Mutterkirche gaben. Als wuenschenswertes Forschungsthema wurde die Frage nach dem Einfluss des reformierten Presbyterialelements auf die Kirchenordnungen in den USA bewertet Die letzte Sektion Alltags- und Mentalitaetsgeschichte eroeffnete James Duffin (Philadelphia) mit einem Vortrag ueber Aspekte des Alltags deutscher Einwanderer in Philadelphia und Germantown waehrend des 17. und 18. Jahrhunderts. Er stuetzte sich dabei vor allem auf die Hinweise in Johannes Herbergs Tagebuch.

Diesem fiel vor allem die im Vergleich zu seiner Heimat ungewoehnlich hohe Nutzung von Pferden als Reit- und Transporttiere auf; offensichtlich uebertraf die Zahl der Reiter bei weitem diejenige der Fussgaenger. Zudem war der Alkoholgenuss recht hoch. Dagegen wurden Kirchenfeste gar nicht oder nur mit gutem Essen oder besonderen Freizeitaktivitaeten begangen. Ueber die Benutzung der englischen bzw. deutschen Sprache gibt das Tagebuch dagegen wenig Auskunft, weil Johannes Herberg kein Englisch sprach. In der Diskussion wurde daraufhingewiesen, dass bisher nur wenige Tagebuecher untersucht worden sind, obwohl sie einen hohen Quellenwert besitzen.

Die Tagung wurde beschlossen mit dem Vortrag von Dr. Cornelius Neutsch (Siegen), der ueber die Reisebedingungen in die Neue Welt referierte, die er am Beispiel des 1853 erschienenen Auswandererratgeber des Heinrich Georg aus Dillenburg, der im Jahr zuvor nach Milwaukee ausgewandert war, exemplarisch nachzeichnete. Im Zuge der Verkehrsrevolution kam es im Laufe des 19. Jahrhunderts auch zu einer totalen Veraenderung der Reisebedingungen fuer Auswanderer, die ihren staerksten Ausdruck in den Dampfschiffen als Symbole der Massenbefoerderung fand. Die Reise begann mit der Ordnung des Besitzes und dem Einholen verschiedener Papiere. Dann fuehrte sie ueber Koeln per Binnenschiff oder Eisenbahn in einen der grossen Nordseehaefen. Schon hier versuchte jeder am Geschaeft "Auswanderung" zu verdienen. Der naechste Schritt war die Ueberfahrt nach Amerika. Hier wurde der Reisende mit vielen Problemen konfrontiert, vor allem mit der mangelnden Hygiene und ihren Folgen. Hinzu kamen soziale Probleme aufgrund des verschiedenen kulturellen und konfessionellen Hintergrunds. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde per Gesetz sichergestellt, dass ausreichend Verpflegung vorhanden war. Mit dem Aufkommen der Dampfer seit 1860 verkuerzte sich die Reisezeit nicht nur, sondern die Bedingungen der Ueberfahrt wurden auch besser. Dabei waren Reedereien wie die Hapag und der Lloyd Wirtschaftsunternehmen, die vor allem an den Auswanderern und der Postbefoerderung verdienten und zur Stabiliserung des Gewinnes auch Preisabsprachen trafen. Der groesste Zielhafen in den USA war New York vor New Orleans. Dort hatten die Immigranten mit aehnlichen Probleme wie in Europa zu kaempfen, bevor die Reise ins Landesinnere mit Schiff oder Ueberlandtrecks und seit 1869 auch mit der Eisenbahn weitergehen konnte.

Die Tagung zur rheinischen Amerikaauswanderung zeigte, dass es auch in den rheinischen Territorien zu Auswanderungsbewegungen seit dem 17. Jahrhundert kam, die allerdings wesentlich staerker den suedlichen Teil der ehemaligen preussischen Rheinprovinz betrafen. Dafuer gibt es fuer den noerdlichen Teil noch viele offene Forschungsfragen. Die Entscheidung zur Auswanderung beinhaltete fast immer ein Konglomerat an Gruenden, vor allem wirtschaftliche aber auch religioese, politische und soziale, die sich selten auseinander dividieren lassen. Darueberhinaus hatten Emigranten mit einer Vielzahl an organisatorischen Problemen zu kaempfen, die sowohl die Aus- und Einreise wie auch die Reise selbst betrafen. Die Reaktion der Obrigkeit in den rheinischen Territorien war uneinheitlich und reichte von Verboten bis zu gezielter Auswanderungspolitik und Kolonisierungsversuchen in Amerika. In der neuen Welt gab es zwar bevorzugte Siedlungsgebiete der Rheinlaender, die sich am persoenlichen und beruflichen Hintergrund orientierten. Genausowenig wie Rheinlaender sich in der Namensgebung von Gebieten oder Orten durchsetzten, beteiligten sie sich zunaechst an der Arbeit in politischen Gremien auf ueberregionaler Ebene. Vielmehr hatten sie zuvor religioese und soziale Konflikte in der Gemeinde zu loesen, die mit viel Pragmatismus angegangen wurden. Es bleibt zu wuenschen, dass einige der angeregten Forschungsthemen in den naechsten Jahren wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Einen ersten Schritt in diese Richtung werden die Baende der wissenschaftlichen Begleitreihe zur Ausstellung leisten, in dem die Beitraege des Symposiums publiziert werden.

[Dieser Beitrag ist bereits in den Informationen der Arbeitsgemeinschaft ausseruniversitaerer historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland e.V. (AHF), Nr. 33 vom 26.6.2000, erschienen. Er ist auch ueber die Homepage der AHF (http://www.ahf-muenchen.de) abrufbar. Die Veroeffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch die AHF. Peter Helmberger]


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Nicola Antonia Peczynsky" <n.peczynsky@lvr.de>
Subject: Tagungsbericht 'Schoene Neue Welt'
Date: 07.08.2000


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