Tradition im Spannungsfeld von Herrschaft und Widerstand

Tagungsbericht von Dr. Steffen Krieb, Justus-Liebig-Universitaet Giessen

Kolloquium des Teilprojekts "Adelige und baeuerliche Erinnerungskulturen im Spannungsfeld von Muendlichkeit und Schriftlichkeit" des Sonderforschungsbereich "Erinnerungskulturen" an der Justus-Liebig-Universitaet Giessen am 22./23. Maerz 2001

Eine Tagung zum Thema "Tradition im Spannungsfeld von Herrschaft und Widerstand" veranstaltete das Teilprojekt "Adelige und baeuerliche Erinnerungskulturen im Spannungsfeld von Muendlichkeit und Schriftlichkeit" des Sonderforschungsbereichs "Erinnerungskulturen" unter der Leitung von Prof. Dr. Werner Roesener am 22. und 23. Maerz 2001 an der Justus-Liebig-Universitaet Giessen. In elf Vortraegen wurde das Thema aus historischer, kunsthistorischer und sprachwissenschaftlicher Sicht beleuchtet.

Einfuehrend konstatierte Werner Roesener (Giessen) den ueberraschenden Befund, dass Formen und Inhalte von Tradition in vormodernen Gesellschaften bisher wenig untersucht seien, obwohl gerade dieser Epoche eine besonders starke Orientierung an Herkommen und Gewohnheit zugeschrieben werde. In seinem Referat ueber "Bauernaufstaende, baeuerlichen Widerstand und Tradition" wies Roesener auf die hochmittelalterlichen Grundlagen des goettlichen Rechts hin, wie sie schon im Sachsenspiegel ("Gott ist selber Recht") erkennbar seien. Daher sei die von Guenther Franz im Anschluss an Fritz Kerns These vom "guten, alten Recht" vorgenommen scharfe Unterscheidung baeuerlichen Widerstands im Spaetmittelalter in Kaempfe um das alte Recht und Kaempfe um das goettliche Recht in dieser Schaerfe nicht haltbar. Zum Rechtsverstaendnis des Mittelalters gehoere immer auch der Bezug auf Gott als Quelle des Rechts.

Mit der Bedeutung von Legitimitaetsglauben und zunehmender Schriftlichkeit in den Beziehungen zwischen dem Fuerstabt von Kempten und den Gotteshausleuten im 15. Jahrhundert beschaeftigte sich das Referat von Steffen Krieb (Giessen). Die Zeit bis zum Ende des Bauernkriegs im Allgaeu war von immer wieder aufflammenden Konflikten zwischen dem Stift Kempten und seinen Bauern gepraegt. Der Bezug auf Schriftlichkeit diente in den Auseinandersetzungen beiden Seiten zur Handlungslegitimation. Anhand einer im 12. Jahrhundert gefaelschten Urkunde Karls des Grossen konnte gezeigt werden, dass der Umgang mit schriftlichen Dokumenten jedoch zunaechst nur symbolisch war. Der angebliche Stiftungsbrief des Klosters wurde vor allem fuer die Gotteshausleute zur Projektionsflaeche fuer ihre Vorstellungen vom alten Herkommen. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts gewann Schriftlichkeit in den Herrschaftsbeziehungen jedoch eine neue Qualitaet, die schliesslich zur Fixierung baeuerlicher Pflichten und herrschaftlicher Rechte im Memminger Vertrag von 1526 fuehrte. Die Bedeutung des durch die Aktualisierung und Intensivierung der Hildegardtradition gefoerderten Legitimitaetsglaubens der Herrschaftsunterworfenen konnte durch die freiwillige Uebergabe von Freien in den Status von Zinsleuten aus Verehrung fuer die heilige Hildegard schlaglichtartig beleuchtet werden.

In Auseinandersetzung mit den Thesen Gadi Algazis arbeitete Sigrid Schmitt (Mainz) wesentliche Merkmale der spaetmittelalterlichen Herrschaft ueber Bauern anhand von Weistuemern aus dem mittelrheinischen Raum heraus. Den Thesen Algazis zufolge ist das Schirmverhaeltnis von Herren und Bauern als mafioese Schutzgelderpressung zu verstehen. Zudem werde das Schutzbeduerfnis von den Herren mittels der Fehde selbst produziert, in der sie sich die Fruechte der baeuerlichen Arbeit raubmaessig aneigneten. Sigrid Schmitt kritisierte, dass die an der Auseinandersetzung mit Otto Brunner entwickelten Thesen die Verhaeltnisse der aelteren Grundherrschaft voraussetzten, im Spaetmittelalter aber nicht die Grundherrschaft, sondern Leib-, Gerichts- und Dorfherrschaft dominierten. Zudem handele es sich bei der Beschraenkung der Fehde auf den Adel um eine gelehrte Konstruktion der Rechtsgeschichte. Anhand von Weistuemern, die auch in Algazis Thesenbildung eine wichtige Rolle spielen, konnte Sigrid Schmitt zeigen, dass man, auch ohne ein zu harmonisches Bild zu zeichnen, nicht einfach von einem zeitlosen Verhaeltnis von Unterdrueckung und Gewalt sprechen kann. Die fruehesten Weistumsaufzeichnungen aus dem Mittelrheingebiet definierten nicht einseitig Rechte des Herrn gegenueber den Bauern, sondern dienten zumeist als Instrument in Auseinandersetzungen verschiedener Grundherren, wobei die Bauern zu Verbuendeten des schwaecheren gegen den aggressiveren Herrn werden konnten. Auch die Ueberlieferung vieler Weistuemer in Gerichtsbuechern, die im Dorf aufbewahrt wurden, spreche gegen die einseitig herrschaftliche Dimension dieser Quellen. Die ueberlieferten Gerichtsweistuemer zeigten zudem, dass sich im Spaetmittelalter meist nicht Herren und Bauern, sondern Herren und Dorfgemeinden gegenueberstanden. Letztere entwickelten durchaus eigene Ordnungsvorstellungen, die sich auch in Dorfordnungen niederschlugen. Erst seit dem 16. Jahrhundert draengte der Territorialstaat die doerfliche Satzungskompetenz zu seinen eigenen Gunsten zurueck.

Die Vorstellung von der Fehde als exklusivem Recht des Adels korrigierte Christine Reinle (Mannheim). Zwar seien die Hauptleidtragenden der Fehden meist die Bauern gewesen, doch duerften sie nicht auf ihre Opferrolle reduziert werden. Anhand bayerischer Quellen konnte gezeigt werden, dass offene Selbstverteidigung und heimliche Rache an fehdefuehrenden Adeligen keine Seltenheit waren. In Bayern waren die Bauern zudem in die Nacheile und das Landaufgebot eingebunden. Neben dieser eher defensiven Beteiligung von Bauern an Fehden stand jedoch auch die aktive Fehdefuehrung von Bauern zur Durchsetzung von eigenen Anspruechen und Rechten. Dabei zeigte sich eine strukturelle Uebereinstimmung von baeuerlicher und adeliger Fehdefuehrung. In beiden Faellen wurde die Fehde von Verhandlungen begleitet und Ansprueche des Fehdefuehrers mussten sich vor der "Oeffentlichkeit" von Vermittlern bewaehren. Die Ausloeser baeuerlicher Fehdefuehrung wiesen zudem darauf hin, dass ein staendeuebergreifendes Ehrkonzept existiert habe. Im Unterschied zur Adelsfehde, die endgueltig erst mit dem Ewigen Landfrieden von 1495 kriminalisiert wurde, gelang es den Landesherrn im Fall der Bauernfehde, die Praxis der Rechtswahrung auf eigene Faust bereits frueher zurueckzudraengen. In Bildern und Texten aus dem spaeten Mittelalter erfreute sich die Darstellung der Herrschaft als persoenliche Begegnung zwischen dem Herrn und den Bauern grosser Beliebtheit. Im Stile eines adventus regis im Kleinformat reitet der Herr mit Jagdhund und Falke ins Dorf. Die beiden Tiere muessen von der Gemeinde verkoestigt werden, bevor der Herr Gericht haelt. Dieser wiederum muss nach der Gerichtsversammlung der Gemeinde ein Festmahl ausrichten. Dieses Bild der Herrschaft als Mikrokosmos mit der persoenlichen Begegnung von Herrn und Bauern war Thema des Beitrags Simon Teuscher (Los Angeles/Zuerich). Den Gruenden fuer die Verbreitung dieses Bildes ging Teuscher anhand von Kundschaften aus dem Gebiet des "Gotteshausstaats" des Klosters Interlaken nach. Dabei wurde deutlich, dass die Repraesentation von Herrschaft auch in den Aussagen der Bauern um so einfacher wurde je komplexer die tatsaechlichen Verhaeltnisse waren. Ein weiterer Faktor der die Verwendung des Bildes vom unmittelbaren Kontakt von Herrn und Bauern foerderte, war die Geltung des Gewohnheitsrechts, das Vorstellungen von dauerhaft stabilen sozialen Verhaeltnissen voraussetzte. Zudem liess sich in diesem Bild das Nebeneinander von herrschaftlichen und baeuerlichen Rechten sehr anschaulich darstellen.

Anhand von Beispielen aus dem hessischen Raum setzte sich der Sprachwissenschaftler Hans Ramge (Giessen) mit "Flurnamen als Spiegel baeuerlicher Erinnerungskultur" auseinander. Dabei warnte er vor der voreiligen Uebernahme der Interpretation von Flurnamen, die ihre heutige Form meist erst im Zuge der Katasteraufnahmen des 19. Jahrhunderts erhalten haben. Es gelte historische Wandlungen in der Sinnzuschreibung zu beachten, bildungsbuergerliches Wissen und Umdeutungen abzutragen, um zur baeuerlichen Erinnerung selbst vorzudringen. Erst dann koenne das in den Flurnamen zu Tage tretende Weltwissen und Sprachwissen als kollektiver kommunikativer Akt angemessen gedeutet werden. An einem lokalen Beispiel konnte Ramge zeigen, wie Deutungen des 19. Jahrhunderts heute zu falschen Schuessen verleiten. Wegen einer auffaelligen Basaltformation erhielt eine Erhebung suedlich des Duensbergs bei Giessen waehrend einer Kartierung den Namen "Koenigsstuhl", was bis heute Spekulationen ueber ein fruehmittelalterliches Koenigsgericht an diesem Ort Nahrung gebe. Tatsaechlich hat die Basaltformation aber nichts mit fruehmittelalterlichen Gerichtsplaetzen zu tun, sondern geht auf nur wenige Jahrzehnte vor der Kartierung eingestellte Steinbrucharbeiten zurueck. Dennoch koenne Erfahrung in Flurnamen zu Erinnerung gerinnen. So fand der Name der Herren von Rodenstein im Odenwald starken Niederschlag in Flurnamen, da ein Herr von Rodenstein der Sage nach der Anfuehrer eines wilden Heeres war.

Mit einem klassischen Feld der mediaevistischen Forschung, der liturgischen Memoria, in neuer Perspektive befassten sich Norbert Kersken (Marburg) und Enno Buenz (Jena). Kersken deutete die Memorialstiftungen des nichtfuerstlichen Adels in Mecklenburg und Pommern als frueheste Selbstzeugnisse dieser Gruppe. Im Zeitraum Von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts sind in der Untersuchungsregion 1500 Urkunden adeliger Aussteller ueberliefert, davon 140 Memorialstiftungen. Die 98 Stifterfamilien verteilten ihre Stiftungen auf 70 geistliche Institutionen, wobei das Zisterzienserkloster Doberan am haeufigsten bedacht wurde. Obwohl in der Regel die Stiftungen dem Stifter selber, dem Ehepartner, Kindern und Geschwistern gewidmet waren, liessen sich auch ein Dutzend Beispiele fuer "ritterliche Hausstiftungen" anfuehren. Enno Buenz (Jena) lenkte den Blick weg von der frueh- und hochmittelalterlichen Memoria des Adels, die sich stark auf die Kloester konzentrierte, hin zur Memoria in doerflichen Pfarrkirchen. Anhand von publizierten Seelbuechern konnten eine grosse Zahl von Messstipendien nachgewiesen werden, die meist mit Zinsen und Guelten auf Grundbesitz fundiert waren. Neben diesen Ewigstiftungen sei auch mit Handstipendien zu rechnen, also der Zahlung fuer einzelne Seelenmessen. Als kollektive Formen des Totengedenkens, die vor allem auf mangelnde wirtschaftliche Leistungsfaehigkeit zurueckzufuehren seien, benannten Buenz gemeinsame Stiftungen in Form von Aspersionsprozessionen. Da eine dauerhafte Bindung der Memoria an das Einzel- oder Familiengrab im doerflichen Milieu in der Regel nicht moeglich war, kam dem Beinhaus als Ort der Memoria bis zur Reformation und in katholischen Territorien bis in die Moderne zentrale Bedeutung zu.

Aspekte der adeligen Sachkultur kamen in den Referaten von Gesine Schwarz (Wolfenbuettel) und Carola Fey (Giessen) zur Sprache. Anhand von Testamenten und Inventaren norddeutscher Adelsgeschlechter aus dem 15. und fruehen 16. Jahrhundert konnte Frau Schwarz die Wertschaetzung wertvoller Metallgegenstaende darlegen. Im landgesessenen Adel, aber auch im staedtischen Patriziat, wurde mit Wappen verzierten Gegenstaende als repraesentative Familienerbstuecke besondere Bedeutung zugemessen. Carola Fey zeigte anhand der Begraebnisse der Grafen von Sponheim besitzrechtliche, religioese und raeumliche Aspekte der spaetmittelalterlichen Sepulkralkultur im nichtfuerstlichen Adel auf. Besonderes Augenmerk richtete sie dabei auf die Motive fuer den Wechsel von Begraebnisorten. Die beobachtete Verlagerung der Graeber der Sponheimer Grafen vom traditionellen Kloster Pfaffenschwabenheim in staedtische Siedlungen wie Kreuznach oder Kastellaun stand auch in Verbindung mit dem Aufkommen neuer Orden wie der Karmeliterinnen. Auch besitzrechtliche Ueberlegungen spielten bei der Wahl des Begraebnisortes eine Rolle. So wurde Maria, eine geborene Graefin von Vianden, in Vianden begraben, da dieser Besitz im Falle ihres Todes ohne maennliche Erben an ihre Tochter uebergehen sollte.

Zum Abschluss des Kolloquiums nahm Werner Trossbach (Witzenhausen) mit den Mayas der mexikanischen Halbinsel Yucatán das Verhaeltnis einer aussereuropaeische Kultur zur Tradition in den Blick. Ausgehend von einem Aufstand der Mayas zu Beginn des 19. Jahrhunderts versuchte Trossbach auszuloten, welche Handlungsrelevanz die ueber drei Jahrhunderte tradierte "Erinnerung an die Zukunft" fuer die Aufstandsbewegung hatte. Durch das Nebeneinander von Katholizismus und indigenem Priestertum gelang es den Mayas Buecher mit Prophetien, die das Ende der spanischen Herrschaft voraussagten, auch nach der Eroberung zu bewahren. Im 19. Jahrhundert konnte diese Geschichtsphilosophie dann genutzt werden, um den Aufstand gegen die Fremdherrschaft zu befoerdern.

Steffen Krieb

<Steffen.Krieb@geschichte.uni-giessen.de>


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Steffen Krieb" <Steffen.Krieb@geschichte.uni-giessen.de>
Subject: Tagungsbericht: "Tradition im Spannungsfeld von Herrschaft..."
Date:10.04.2001


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