"Gustav Stresemann - ein deutscher Politiker"
Internationales Kolloquium der Universitaet Kiel und derFriedrich-Naumann-Stiftung in Gummersbach (23.-25.3.2001)
Haben die gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland sowie der Wechsel in der europa- und weltpolitischen Konstellation seit 1990 Auswirkungen auf das Bild von Gustav Stresemann in der heutigen Fachwissenschaft und der Oeffentlichkeit? Dies war eine der Leitfragen fuer ein internationales Symposion, das das "Archiv des Deutschen Liberalismus" zusammen mit der Universitaet Kiel und mit Unterstuetzung der Fritz-Thyssen-Stiftung in der Gummersbacher "Theodor-Heuss-Akademie" veranstaltete. Der Termin lag damit fast auf den Tag genau 100 Jahre nach der Uebersiedlung Stresemanns nach Sachsen (23.3.1901) und mitten zwischen den jeweiligen 75. Jahrestagen des Vertrages von Locarno vom Oktober 1925 und der Verleihung des Friedensnobelpreises an den langjaehrigen deutschen Aussenminister im Dezember 1926.
Ausgangspunkt der Tagung war das Projekt einer neuen Stresemann-Biographie, das Karl Heinrich Pohl (Kiel) nach der Begruessung durch das Kuratoriumsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung, Bundesministerin a. D. Irmgard Schwaetzer, vorstellte. Trotz langjaehriger Forschungen gaebe es einerseits noch eine Reihe von unbekannten Seiten an Stresemann, etwa zum Beginn seiner (partei-)politischen Karriere in Sachsen nach der Jahrhundertwende. Andererseits muesse die Stresemann-Forschung staerker mit der Buergertums-Forschung verbunden und danach gefragt werden, inwieweit Stresemann ein Prototyp des wilhelminischen Buergertums gewesen sei und welche Erkenntnisse aus seinem Wirken in der Weimarer Republik fuer die bis dato weitgehend unbekannte Geschichte des deutschen Buergertums nach 1914/18 zu gewinnen seien. Schliesslich werden wohl auch die Enwicklungen seit der "Wende" von 1989/90 mit dem Ende der bipolaren Weltpolitik und die Infragestellung der - relativen - bundesrepublikanischen Stabilitaet nicht ohne Einfluss auf die Bewertung der Aussen- und Innenpolitik Stresemanns sein.
Das erste Podium unter der Leitung von Simone Laessig (Dresden) befasste sich dann konsequenterweise mit Stresemanns Wirken vor dem Ersten Weltkrieg. Holger Starke (Dresden) ging dessen Einbindung in die Dresdner Stadtpolitik und Gesellschaft waehrend seines Wirkungszeit als Syndikus beim Verband Saechsischer Industrieller nach und kam dabei zu einem etwas widerspruechlichen Bild: Auf der einen Seite gewann Stresemann schnell Einfluss bei den Wirtschaftsverbaenden und den ihnen nahestehenden Nationalliberalen, deren kommunal- und landespolitische Position er mit grossem Geschick binnen kurzem erheblich ausbauen konnte. Zur Dresdner Oberschicht entwickelte er dagegen nur sehr spaerliche Kontakte; allerdings wurde sein Engagement in Sachsen seit 1907 zunehmend durch die Taetigkeit als Reichstagsabgeordneter ueberlagert. Ueberaus erstaunliche Faehigkeiten an Organisations- und Durchsetzungsvermoegen konnte auch Michael Prinz (Muenster/Bielefeld) nachweisen, der Stresemanns Rolle bei der Errichtung der speziellen Sozialversicherung fuer Angestellte 1911 untersuchte: Letztlich war es vor allem Stresemann, damals gerade 32 Jahre alt, der durch geschicktes Taktieren und eine kluge Regiefuehrung die divergierenden Kraefte buendelte und dem entsprechenden Gesetz in der Oeffentlichkeit und im Reichstag gegen vielfaeltigen Widerstand den Weg ebnete, weil er die zunehmende Bedeutung dieser Bevoelkerungsgruppe erkannte hatte. Ohne ihn haette es moeglicherweise die fundamentale und langwirkende Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten in der deutschen Sozialpolitik nie gegeben, so Prinz.
Der weitaus bekanntere Stresemann der Weimarer Republik stand im Mittelpunkt des zweiten Podiums mit Henry A. Turner (New Haven, Conn.) als Moderator. Peter Krueger (Marburg) und Gottfried Niedhart (Mannheim) stellten aus unterschiedlicher Perspektive sein aussenpolitisches Wirken dar. Krueger zog vor allem Parallelen zur Politik des britischen Aussenministers Castlereagh nach dem Wiener Kongress und seinen Bemuehungen, den damaligen Kriegsverlierer Frankreich wieder in das Konzert der Europaeischen Maechte zu integrieren. Stresemann waren die wissenschaftlichen Veroeffentlichungen darueber, die Mitte der 1920er Jahre etwa von Charles Webster vorgelegt wurden, durchaus vertraut und wurden von ihm mit seinen eigenen Erkenntnissen aus dem Weltkrieg ueber den Zusammenhang von innerer und aeusserer Politik in Verbindung gebracht. Krueger sah dementsprechend auch einen eindeutigen Paradigmenwechsel in der deutschen Aussenpolitik unter Stresemann, der prinzipiell von der Moeglichkeit der VerstAendigung und des Ausgleichs zwischen parlamentarisch regierten Nationalstaaten ausging. Ansatzweise liessen sich bereits mit dem Dawes-Plan, dem Vertrag von Locarno und dem Voelkerbundeintritt die Fundamente einer neue europaeischen Ordnung erkennen. Kruegers Ansichten wurden von Niedhart unterstuetzt, der fuenf Komponenten des aussenpolitischen Denkens Stresemanns ausmachte. Unter diesen hob er die "stilbildende" Verbindung von Friedenssicherung und nationaler Interessenwahrung und die Annahme eines Zusammenhangs von Wirtschaftsmacht und Machtpotential hervor. Unuebersehbar sei aber auch, dass Stresemann erstmals versuchte, auf ganz pragmatische Weise liberale Prinzipien auf die Aussenpolitik zu uebertragen. Allerdings handle es sich alles in allem bei seiner Aussenpolitik zunaechst einmal um "gelungene innovative Ansaetze", deren operative Umsetzung aber nicht konsequent genug erfolgte bzw. erfolgen konnte. Erstmals systematisch untersucht worden sind von Thomas Krueger (Kiel) Stresemanns 118 Reichstagsreden. Er legte zunaechst die methodischen Schwierigkeiten dar, die dieser Quellengattung zu Eigen sind, und warf dann die Frage auf, ob und ggf. wann sich das beruehmte "Damaskuserlebnis" Stresemanns, naemlich seine Wandlung vom wilhelminischen Monarchisten zum Weimarer "Vernunftrepublikaner", hieran nachweisen lasse. Obwohl sich zwischen 1917 und 1923 ein allmaehlicher Wechsel in den Anschauungen zumindest auf der rhetorischen Ebene konstatieren liesse, wollte Krueger doch mehr von einem "Methodenwechsel" als von einer "echten Wandlung" in der Politik Stresemanns sprechen.
Am Beispiel des Stresemann-Films aus dem Jahre 1957 stellte Andreas Koerber (Hamburg) in einem Abendvortrag seine Forschungen zur Stresemann-Rezeption in der bundesrepublikansischen Oeffentlichkeit vor. Fuer die politische Konstellation der 50er Jahre und die damals vorherrschende Betonung des Europaeertums kam der "Weimarer" Stresemann gerade recht; insofern war es nicht verwunderlich, dass das Filmprojekt, das bei derselben Filmfirma wie der Bismarck-Film von 1940 realisiert wurde, regierungsamtlich stark gefoerdert wurde. Allerdings erwies sich der Film als kein Zuschauermagnet, sondern verschwand rasch in den Depots der Schulfilme.
Die eingangs von Karl Heinrich Pohl eingebrachten Fragen nahm das dritte, von Eberhard Kolb (Koeln/Bad Kreuznach) geleitete Podium wieder auf, das der Diskussion um eine zeitgemaesse Lebensbeschreibung gewidmet war. Jonathan Wright (Oxford), der unmittelbar vor dem Abschluss einer eigenen Stresemann-Biographie steht, legte dabei eine "britische" Sichtweise dar, die sich stark auf die Persoenlichkeit Stresemanns konzentriert. Er regte einen Vergleich an zwischen Stresemann und anderen deutschen und britischen Politikern wie Erzberger, Rathenau, Lloyd George oder Churchill, deren Leben Aehnlichkeiten und Parallelen aufweisen wuerde. Ein wichtiges Moment zum VerstAendnis all dieser Persoenlichkeiten sei ihr sozial oder familiaer bedingtes Aussenseitertum, das haeufig durch einen ausgepraegten "Hunger nach Macht" kompensiert worden waere. Es muesse auch im Fall Stresemann noch mehr untersucht werden, welchen Einfluss persoenliche Gefuehlslagen auf seine Politik, etwa im Verhaeltnis zu seiner Partei, genommen haetten. Von Wolfgang Michalka (Freiburg) wurden dagegen mehr die Kontroversen um Stresemann in den Mittelpunkt gestellt, die schon bei den Zeitgenossen erkennbar seien, etwa in der Abneigung von Theodor Heuss einerseits und der Wertschaetzung Lord D'Abernons anderseits. Die Widersprueche im Stresemann-Bild seien zwar inzwischen ziemlich eingeebnet worden, aber trotz zahlreicher Detailstudien sei wohl auf absehbare Zeit keine voellig neue Stresemann-Interpretation zu erwarten. Jedoch koenne man jetzt anhand seiner politischen Biographie den historischen Ort der Weimarer Republik besser bestimmen. In einem Kommentar schlug Henry A. Turner vor, ein moderner Biograph solle auch danach fragen, was geschehen waere, wenn Stresemann nicht vorzeitig der Tod ereilt haette. Als Bereiche, in denen es aus seiner Sicht noch Forschungsluecken gaebe, nannte Turner die Problemkreise Wiederaufruestung, Ostgrenzen und Antisemitismus sowie das Spannungsverhaeltnis zwischen Stresemanns Liberalismus und seiner Einstellung zur Demokratie.
Zu allen drei Podien und zum Einfuehrungsvortrag gab es ausfuehrliche, zum Teil auch kontroverse Debatten. Sie drehten sich vor allem um die Fragen: Erstens, welchen Stellenwert haben die saechsischen Erfahrungen fuer Stresemanns politisches Wirken gehabt, kommt ihnen ein grundlegender oder nur episodenhafter Charakter zu? Zweitens, ob man wirklich von einem liberalen Modell der Aussenpolitik bei ihm sprechen koenne, das auch von anderen politischen KrAeften wie der Sozialdemokratie unterstuetzt wurde? Drittens, war Stresemann ein von liberalen Werthaltungen und Prinzipien geleiteter Politiker oder entsprang seine beruehmte Flexibilitaet einem eher opportunistischen Charakter? Schliesslich, inwieweit entsprach Stresemann dem Liberalismus und anderen liberalen Politikern der Zwischenkriegszeit und inwieweit war er dabei modern und zukunftsweisend? Allgemein herrschte trotz unterschiedlicher Auffassungen im Detail die Meinung vor, dass eine neue Biographie des "ganzen" Stresemann unter Einbeziehung seiner Jugend und seiner Umwelt sehr wuenschwert sei. Als ersten Schritt dorthin sollen noch vor Jahresende die Referate dieser Tagung im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht publiziert werden. Juergen Froelich Archiv des Deutschen Liberalismus Theodor-Heuss-Str. 26 51645 Gummersbach juergen.froelich@fnst.org
Dr. Juergen Froelich
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