"Die 60er Jahre -Soziale Kultur und politische Ideen in beiden deutschen Staaten"

Tagungsbericht von Christoph Classen

Vom 5. Bis zum 8. Maerz veranstalteten die Universitaet Kopenhagen und die Forschungsstelle fuer Zeitgeschichte Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Kopenhagen eine Tagung zur Sozialgeschichte der 60er Jahre in der Bundesrepublik und der DDR.

Ziel war es, diesen bisher unter sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektive noch weitgehend unbearbeiteten Zeitraum erstmals wissenschaftlich auszuloten, einige zentrale Untersuchungsbereiche und Probleme zu benennen sowie erste Ergebnisse laufender Untersuchungen vorzustellen.

Axel Schildt (Hamburg) nannte in seinem Eroeffnungsvortrag die pragmatischen Gruende, nun die 60er Jahre in den Blick zu nehmen: Neben dem Ablauf von Akten-Sperrfristen in der Bundesrepublik ist hier vor allem die - zumindest fuer den Westen- inzwischen befriedigende Forschungslage ueber die 50er Jahre zu nennen. Zugleich polemisierte er gegen die Jubilaeumskultur "30 Jahre nach 68", die die gesellschaftliche Entwicklung des Jahrzehnts auf die Ereignisse und Folgen im Umfeld der westlichen Protestbewegung reduziere. Er charakterisierte die 60er Jahre statt dessen uebergreifend als "Transformationsperiode", als Uebergang von einer industriellen zur postindustriellen Gesellschaft. Der bereits in den 50er Jahren begonnene Weg in die "konsumistische Moderne" sei begleitet gewesen von der Suche nach Orientierung und damit verbundenen weltanschaulichen Krisen. In der ersten Sektion stand der Umgang mit dem Nationalsozialismus in beiden deutschen Staaten im Vordergrund. Die Deutungen, die fuer die Bundesrepublik von einem "inflationaeren" Diskurs ueber den Nationalsozialismus als Ueberkompensation auf die fehlende Auseinandersetzung in den 50er Jahren ausgingen (Bernd A. Rusinek, Duesseldorf) bzw. fuer die DDR stark die nach innen gerichtete Funktion der Identitaetsstiftung und Legitimation als Kompensation fuer fehlende Identifikationsmoeglichkeiten mit dem Staat in anderen Bereichen betonten (Christoph Classen, Potsdam), blieben in der Diskussion nicht unwidersprochen. Einigkeit herrschte jedoch darueber, dass den Gegebenheiten des deutsch-deutschen Systemkonflikts fuer die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der BRD wie in der DDR konstitutive Bedeutung zukam.

Die zweite Sektion stand unter dem Obertitel "Reformtrends in Politik und Gesellschaft" und beschaeftigte sich allein mit den Entwicklungen in der Bundesrepublik. Den Erfolg der Volksparteien in diesem Jahrzehnt fuehrte Karsten Rudolph (Bochum) auf ihr Versprechen zurueck, gesellschaftliche Differenzierung und wachsende Komplexitaet zu bewaeltigen und verwies in diesem Zusammenhang auf die politische Rhetorik, in der die Begriffe "Sicherheit" und "Zukunft" dominierten. Eine "nie dagewesene Stabilitaet" kennzeichnete auch die Beziehungen der Sozialpartner, so Wolfgang Schroeder (Frankfurt/M.). Er machte dafuer die Herausbildung zentraler Strukturen, Koordinierung und Verhandlungsfuehrung bei Arbeitgebern und Gewerkschaften verantwortlich, eine Entwicklung, die gegen Ende des Jahrzehnts jedoch vor allem bei letzteren an ihre Grenzen gestoßen sei. Die wichtigsten Reformdiskurse des Jahrzehnts betrafen Justiz und Bildung. In beiden Bereichen gab es laenger waehrende Krisendiskussionen. Die Dynamisierung des Reformdiskurses im Bereich der Justiz skizzierte Joerg Requate (Halle) als Wechselspiel zwischen innerer Legitimationskrise der Rechtsprechung, zunehmender interner und oeffentlicher Kritik an der obrigkeitsstaatlichen Orientierung des Justizapparates und aeusserem Druck wegen der NS-Vergangenheit des Personals. Dabei ging es auch den Reform-Befuerwortern keineswegs allein um Demokratisierung und Modernisierung, sondern konservative Bestrebungen zur Sicherung des gesellschaftlichen Einflusses des Justizapparates spielten eine nicht unerhebliche Rolle.

Einen konservativen Grundzug machte auch Alfons Kenkmann (Muenster) fuer den Bildungsbereich aus. Die zunaechst vorrangig bildungsoekonomisch gefuerte Debatte verweise auf den bekannten deutschen Rueckstandsdiskurs. Insofern ist es durchaus konsequent, dass es zunaechst kaum zu einer Bildungsreform kam, sondern zur quantitativen Ausweitung von Kapazitaeten auf Basis der bestehenden Strukturen. Inhaltliche und methodische Veraenderungen griffen - wenn ueberhaupt - erst in den 70er Jahren und wurden durch die Rezession von 1973/74 unsanft gebremst.

Mit der westdeutschen Deutschlandpolitik zwischen 1960 und 1972 schien ein "klassisches" politikgeschichtliches Thema angeschnitten. Die Deutung von Arnold Sywottek (Hamburg) fuegte sich jedoch insofern nahtlos in das sozial- und kulturgeschichtlich orientierte Programm ein, als Sywottek in der "neuen Ostpolitik" der sozial-liberalen Koalition in erster Linie einen Reflex allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen sah und sie vorrangig als Ausdruck innenpolitischer Motive deutete. Den Interessenverlust an der Wiedervereinigung habe die Politik ebenso nur rezipiert, wie den Trend, materielle Interessen ueber ideologische Postulate zu stellen und bestehende Normen in der Praxis zu unterlaufen.

Die dritte Sektion widmete sich Aspekten von Kultur und Oeffentlichkeit. Klaus-Dieter Krohn (Lueneburg) ging der Frage nach Einfluessen von Emigranten und Remigranten auf die westdeutsche Studentenbewegung nach und charakterisierte den Reimport des aus Deutschland verdraengten juedischen Gedankenguts als einen schleichenden, vielfach gebrochenen, selektiven und teilweise missverstehenden Rezeptionsprozess, der gleichwohl immense Folgen gehabt habe. Einen vergleichenden Ansatz verfolgte Irmgard Wilharm (Hannover) bei ihrer Auseinandersetzung mit der Filmproduktion. In der DDR wie in der Bundesrepublik habe es einen Bruch mit tradierten Werten und Einstellungen gegeben, der eine neue Form von Reflexion ueber die eigene Gesellschaft ermoeglicht habe. Bei der Betrachtung herausragender Produktionen von Alexander Kluge, Frank Beyer und anderen duerfe freilich nicht uebersehen werden, dass der groesste Teil der Filmproduktion im Osten wie im Westen nach wie vor traditionellen Mustern verhaftet blieb.

Die anschliessende Podiumsdiskussion in Louisiana unter Leitung von Uwe Schmelter (Goethe-Institut Kopenhagen) vereinte mit Guenter Amendt, Reinhard Hauff, Wibke Bruhns, Christian Braad Thomsen und Christian Semler ehemalige Protagonisten und Beobachter der Protestbewegung von 1967/68. Die Einigkeit in der Beurteilung der Bewegung reichte unter den Anwesenden nicht sehr weit. Allenfalls konnte man sich noch ueber den heterogenen, romantischen und naiven Charakter der Bewegung verstaendigen, bei der Beurteilung der Wirkungen und ihren Implikationen fuer die Gegenwart hoerten die Gemeinsamkeiten auf. Bei den Zeithistorikern stiess nicht nur die pauschale Diffamierung aller Ergebnisse von 68 auf Ablehnung, sondern auch die kaum weniger summarische Bilanz, man habe trotz allem einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung und Zivilisierung der Bundesrepublik geleistet. Hier sahen einige Historiker den Versuch am Werke, eine sinnstiftende, hegemoniale Geschichtsauffassung zu etablieren und die Ereignisse von 1967/68 als Kernbestandteil einer Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik zu vereinnahmen.

Die letzte Sektion naeherte sich dem Gegenstand aus der Perspektive von Generationen und Geschlechtern. Detlef Siegfried (Kopenhagen) illustrierte den Wandel der Jugendkultur und der verbreiteten Vorstellungen ueber Erziehung von den 50ern bis zum Ende der 60er Jahre. Die Politisierung der populaeren Jugendkultur in den 60er Jahren war demnach nicht zuletzt eine Folge konservativer Sorgen vor den neuen "privatistischen" Auspraegungen der Massenkultur. Der Gefahr einer Verfuehrbarkeit der vermeintlich ahnungslosen, hedonistischen Jugend meinte man das Konzept einer aufklaerenden Politisierung entgegensetzen zu muessen. Dorothee Wierling (Essen/Berlin) skizzierte das Verhaeltnis zwischen der sog. HJ-Generation und der ersten Nachkriegsgeneration in der DDR als stark konflikthaft. Dem ueberhoehten Erwartungsdruck und den Projektionen der Aelteren konnten die Nachwachsenden nicht standhalten. Der Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Engagement der Jugend einerseits und nicht zugestandenen Freiraeumen andererseits brachte das Erziehungsprojekt DDR bereits im Laufe der 60er Jahren innerlich zum scheitern.

Die Betrachtung der Geschlechterverhhaeltnisse durch Ute Frevert (Bielefeld) zeigte, dass fuer die 60er Jahre nicht von einem grundsaetzlichen Wandel ausgegangen werden kann. Zwar gab es zahlreiche Auf- und Umruchsignale in den Bereichen Bildungszugang, Erwerbstaetigkeit und rechtliche Gleichstellung der Frauen, aber die Wirkungen dieser Veraenderungen manifestierten sich ueberwiegend erst in den 1970er und 80er Jahren. Ebenso wie in einigen anderen Bereichen zeigte sich hier, dass es sich weniger um radikale Brueche als um einen langfristigen kulturellen Transformationsprozess handelt, der bereits vor 1960 begann und auf manchen Feldern bis heute kaum abgeschlossen scheint. Dementsprechend war die Periodisierung, die eine spezifisch neue Qualitaet fuer die 60er Jahre postulierte, nicht in allen Bereichen unumstritten. Insgesamt erwies sich der Zugriff eines wechselseitigen Bezuges von sozialer Kultur und politischen Ideen fuer den Zeitraum aber als fruchtbar. Die Reformbestrebungen lassen sich zunaechst als Versuch einer konservativen Konsolidierung auf die Herausforderungen der Transformation von der spaetindustriellen in eine postindustrielle Gesellschaft interpretieren Erst in der zweiten Haelfte des Jahrzehnts hoben die Diskurse ab und wurden utopisch aufgeladen. Insofern stellen die Studentenunruhen zwar einen Kumulationspunkt dar, duerfen aber nicht ueberpointiert und isoliert betrachtet werden.

Bis zu einem gewissen Grade offen blieb auf der Tagung die Einordnung der DDR, in der die Reformbestrebungen bekanntlich keine dauerhafte Chance bekamen und die politische Ideenlandschaft zumindest in der Oeffentlichkeit nachhaltig blockiert war. Zugleich wurde deutlich, dass in der Forschung noch zahlreiche Leerstellen zu besetzen sind. Dies betrifft den wechselseitigen, jedoch asymmetrischen Bezug der beiden deutschen Staaten aufeinander, die Einordnung in den westeuropaeischen Kontext und die Auswirkungen der Veraenderung von Oeffentlichkeit, vor allem in der Folge der flaechendeckenden Durchsetzung des Fernsehens.

Christoph Classen, classen@zzf-pdm.de


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Christoph Classen
Subject: Tagungsbericht "Die 60er Jahre - Soziale Kultur und politische Ideen in den beiden deutschen Staaten"
Date: 16.4.1998


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