"Warum erst jetzt?" - Deutsche Historiker in der Diktatur. Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte

von Ilko-Sascha Kowalczuk

Replik von Klaus P.Sommer

Sehr geehrte Damen und Herren,

zum Brief von Herrn Wilfried Lagler vom 2.12.1999 nur Folgendes. Herr Lagler behauptet einiges Selbstverstaendliche und einiges Falsche. Es ist selbstverstaendlich, dass es "ahistorisch" ist, "zu zeigen, dass wir Nachgeborenen es eben doch besser wissen." Darum geht es daher in der Regel auch nicht. Die Methode, mit der man Menschen der Vergangenheit kritisiert, ist daher nicht, wie Herr Lagler polemisch und leider auch ganz wie ueblich unterstellt, sie nur von der Warte unseres heutigen Wissens aus zu  kritisieren. Diese Methode besteht darin, dass man schaut, was Menschen vergleichbaren Hintergrundes zur selben Zeit dachten wie jene Person, um die es einem geht. Findet man Menschen z.B. vergleichbarer Bildung (oder "Sozialisation" etc.), die signifikant anders dachten, den Nationalsozialismus z.B. durchschauten, die Entlassungen der Juden, die Boykotte ihrer Geschaefte verurteilten etc., dann war es offenbar schon damals fuer vergleichbare Menschen moeglich, anders zu denken als alle jene, die fuer ihn schwaermten.

Man braucht doch nur ein wenig in Viktor Klemperers Tagebuechern zu blaettern und stoesst Seite für Seite auf eine ganz andere Sicht der "Machtergreifung", der "Gleichschaltung der Universitaeten", der Laender, der "Plebiszite" etc. als man sie bei sehr vielen anderen Menschen und Wissenschaftlern der damaligen Zeit bedauerlicherweise findet. Und wer behauptete, dies sei doch nur der Fall, weil Klemperer persoenlich betroffen gewesen sei, der stellte den anderen Wissenschaftlern der Zeit ein Armutszeugnis aus. Denn politische Vorgaenge sollte man durchschauen koennen, ob man nun persoenlich betroffen war oder nicht. Und im uebrigen gibt es genug "Unbetroffene", die sich ein klares Urteil wahrten.

Da ich selbst hier in dieser Liste ueber Hermann Heimpel publiziert habe (am 19.02.1999, s.u.), moechte ich nur daran erinnern, dass es in Freiburg 1933 z.B. auch einen Mann wie den Kirchenhistoriker und Praelaten Josef Sauer gab, ein gewiss mit Heimpel vergleichbarer konservativer und gut deutschnationaler Mann, der seinem Tagebuch unzweideutige Urteile anvertraute - und wahrscheinlich auch seiner naeheren Umgebung. Doch wie das "Hoerspiel" vom 1. Advent (den 28.11.1999) im Hessischen Rundfunk, die 16stuendige Orginalton-Collage "Unter dem Gras darueber. Erinnerungen an 100 Jahre Deutschland - Zeitzeugen erzaehlen aus ihrem Leben" von Inge Kurtz und Juergen Geers zeigte, gab es genug Zeitgenossen sowohl vergleichbarer als auch anderer sozialer Herkunft und Bildung, die sich nicht korrumpieren liessen. Es ist das grosse Verdienst der Autoren dieser Sendung, dass sie solche Menschen ausfindig machten und zu Worte kommen liessen. Der Mythos, dass man es nicht habe wissen koennen, dass keiner es durchschaut habe etc., den Herr Lagler wieder aufleben laesst, wird z.B. durch solche Zeugnisse klar widerlegt.

Mit besten Gruessen, Ihr Klaus P. Sommer

Institut fuer Wissenschaftsgeschichte der Universitaet Goettingen
Email: <ksommer1@gwdg.de>


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Klaus P. Sommer" <ksommer1@gwdg.de>
Subject: Re: Artikel: "Warum erst jetzt?" - Deutsche Historiker ...
Date: 3.12.99