Artikel: Nachpruefung in Geschichte (zum XVI. Poln. Historikertag)

Artikel aus der Rzeczpospolita vom 25./26. September 1999

Janusz A. Majcherek

Nachpruefung in Geschichte

Vom 15. - 18. September 1999 fand in Wroclaw der XVI. Allgemeine Polnische Historikertag statt. Eines seiner Hauptziele war, wie die Vorankuendigung vermeldete, der Versuch einer Bewertung des historischen Weges, den Polen im zu Ende gehenden Jahrtausend zurueckgelegt hat, sowie das Aufzeigen der wichtigsten Umbrueche in der polnischen Geschichte inklusive der Gruende und der damit verbundenen Konsequenzen. Diskutiert wurde ueber die Herausforderungen, vor denen heute die polnische Geschichtswissenschaft steht, frei von ideologischen und politischen Vorgaben. Besonderes Augenmerk wurde der schlesischen Geschichte gewidmet. Nachfolgend publizieren wir die Reflexionen von Janusz A. Majcherek, der den bisherigen und den neuen Blick auf unsere Geschichte thematisiert.

"Eine falsche Geschichtsschreibung ist die Meisterin einer falschen Politik" stellte vor ueber 120 Jahren Jozef Szujski, einer der Begruender der Krakauer historischen Schule, fest und diese Feststellung ist auch heute eine wichtige Warnung, die man beachten muss, wenn man auf die III. Republik [Bezeichnung fuer den polnischen Staat nach dem Umbruch 1989, Anm. d. Uebers.] im historischen Kontext schaut. Die populaere, aber auch offizielle, polnische Geschichtsschreibung in den Schulbuechern verbreitet dagegen immer noch zahlreiche Stereotypen und Muster, die sich in den Zeiten der Teilungen "zur Staerkung der Herzen" [Motto des Schriftstellers Henryk Sienkiewicz fuer seine Historienromane, Anm. d. Uebers.] sowie waehrend der kommunistischen Propaganda herausgebildet haben - als Ersatzlegitimation der damaligen Machthaber und ihrer Unterordnung unter die Interessen des Kreml. Das historische Bewusstsein der modernen Polen ist von diesen Schemata stark gepraegt.

Die polnische populaere Historiographie und die allgemeine Sicht der heimischen Geschichte ist generell heroisch-martyrologisch: sie bauscht die Errungenschaften der Polen auf und verherrlicht sie, besonders ihre Kriegstugenden, waehrend sie die Ursachen fuer Niederlagen und Misserfolge in der Einmischung oder Aggression aeusserer Kraefte und Faktoren erblickt, und so aus unseren Vorfahren Opfer fremder Intrigen und Ausbeutung macht. Die nationale Historiographie ist haeufig eine nationale Hagiographie. Auf diese Weise schreiben, ja kultivieren schwache und komplexbehaftete Gesellschaften ihre Geschichtssicht, um so Trost und Kompensation fuer Misserfolge in der laufenden realen Politik zu finden. Seit 10 Jahren brauchen die Polen solche Prothesen nicht mehr. Die Erfolge der in dieser Zeit durchgefuehrten Transformation und des Staatsumbaus deaktualisieren die Notwendigkeit, sich auf vergangenen Ruhm zur Unterstuetzung des kollektiven Selbstwertgefuehls zu berufen. Es ist daher wohl am besten, die abgenuetzten und nutzlosen Prothesen wegzuwerfen, bevor wir anfangen, darueber zu stolpern und hinzufallen.

Beginnen wir mit der Fruehgeschichte

Neuere historisch-archaeologische Untersuchungen, aber auch sprachwissenschaftliche, ethnographische und andere haben die Theorie der Autochtonie der Slawen im Flussgebiet zwischen Weichsel und Oder zunehmend in Frage gestellt. Andersherum ausgedrueckt finden sich staendig mehr Argumente, die die Hypothese staerken, dass die Slawen hier gemeinsam mit einer weiteren Welle der Voelkerwanderung ungefaehr zur Haelfte des ersten Jahrtausends angekommen sind. Das gegenwaertige polnische Staatsgebiet war in den Jahrhunderten vor der Staatsgruendung von unterschiedlichen Wanderungsgruppen oder teilweise niedergelassenen Skythen, Kelten, Goten und schliesslich Slawen bewohnt. Die archaeologischen Grabungen erlauben bei der Mehrzahl der auf dem polnischen Gebiet gemachten Funde der materiellen Kultur keine Zuordnung, auch nicht bei denen aus der sogenannten Lausitzer Zeit, die genealogisch als "vorslawisch", also "vorpolnisch" gilt. Aus diesen Entdeckungen resultieren mindestens zwei Ergebnisse, die wesentlich fuer die Identitaet der modernen Polen sind: man kann die Einwohner der fruehen piastischen Monarchie, und damit auch deren Nachfahren, nicht beschreiben, indem man sie nach eindeutigen Kriterien der ethnischen, autochtonen sowie kulturellen Identitaet ordnet. Alle sind auf dem heutigen polnischen Gebiet Ankoemmlinge, die Vorfahren der einen haben sich hier lediglich frueher niedergelassen, die anderen etwas spaeter, um sich anschliessend zu mischen und gegenseitig zu beeinfussen. Jegliche Unterscheidung "eigenes - fremdes" ist, im Lichte historischer Kriterien, zumindestens zweifelhaft und die Erforschung der Geschichte Polens vom nationalen Standpunkt aus zumindestens begruendungsbeduerftig. Der erste Historiker Polens war im Uebrigen ebenfalls ein Neuankoemmling, wahrscheinlich aus Gallien, die Familie des groessten polnischen Gelehrten kam vermutlich aus Deutschland, der Vater des groessten polnischen Komponisten aus dem Elsass, die Vorfahren des groessten polnischen Natianalgeschichtsmalers aus Tschechien und der groesste polnische Dichter stammt aus einer weissrussisch-litauischen Familie - die vielleicht teilweise juedisch war. Die ethnisch-nationale Herkunft oder Zugehoerigkeit der verdienten Gestalten ist fuer die Geschichte Polens und seine kulturelle Identitaet ohne groessere Bedeutung. Dies sollte auch Einfluss auf die Behandlung alter und neuer Einwanderer durch die gegenwaertigen Einwohner Polens haben.

Eintritt in die Zivilisation

Polen hat sich der westlichen Zivilisation als eines der letzten europaeischen Laender angeschlossen, nicht nur spaeter als alle romanischen und die Mehrzahl der germanischen, aber auch spaeter als viele slawische Laender. Der Eintritt in diese Zivilisation erfolgte ohne Eigenbeitrag im Bereich der kulturellen und geistigen Kultur; fast alles in diesem Bereich wurde von aussen angenommen. Die von Pawel Jasienica (Pseudonym des 1970 verstorbenen bekannten polnischen Historikers, Schriftstellers und Publizisten Leon Lech Beynar, der zur antikommunistischen Opposition in Polen gehoerte, Anmerkung des Uebersetzers) gemachten Ausfuehrungen ueber den reichen praeslawischen oder fruehpiastischen "Untergrund" sind ebenso ohne Grundlage, wie die von Wincent Kadlubek (gestorben 1223, Chronist und Bischof von Krakau, Anmerkung des Uebersetzers) geschaffenen Legenden. Ja sogar die ziemlich primitive Ansiedlung bei Biskupin war keineswegs slawisch. Die heutige Forschung spricht sogar ueber die "polanische Revolution", in deren Verlauf die fruehpiastischen Herrscher (hauptsaechlich Mieszko I.) den nacheinander geschlagenen Staemmen neue Muster und Lebensregeln aufgezwungen haben, die gemeinsam mit dem Christentum eingefuehrt und angenommen wurden. Im 11. Jahrhundert rief das eine gewaltsame heidnische Reaktion ("Konterrevolution") hervor, die den Charakter eines Volksaufstandes hatte. Die neuen weltlichen und kirchlichen Administratoren und Verwalter waren, ausser dem Herrscher selbst, Auslaender und verbreiteten die westlichen Muster auf reichlich unfruchtbarem Boden unter reichlichem Widerstand der oertlichen Bevoelkerung. Wenn also mit Emphase versichert wird, dass "Polen schon immer zur westlichen christlichen Zivilisation gehoert hat", dann ist dies nur in dem Sinne wahr, dass Polen eine andere nicht geschaffen hat und nicht kannte, solange es sich diese nicht angeeignet hatte, haeufig unter Gewaltanwendung. Polen stellte dagegen keinen integralen Bestandteil dieser Zivilisation dar, denn sie hat sich ohne polnische Beteiligung herausgebildet und mit Erfolg ueber Jahrhunderte funktioniert. Das letzte halbe Jahrhundert hat gezeigt, dass dies weiterhin moeglich ist. Dies deutet an, wer der groesste Nutzniesser der gegenwaertigen europaeischen Integration sein kann, obwohl es diesmal ohne Gewalt seitens der Machthaber abgeht und der Eintritt in diese Zivilisation voellig freiwillig ist. Wer sich dagegen ausspricht oder diesen Eintritt zu vereiteln versucht, der befindet sich in der Rolle der heidnischen Aufstaendischen am Anfang des polnischen Staatswesens, unabhaengig davon, mit welchem Enthusiasmus er sich auf christliche Beweggruende beruft.

Die Kreuzritter in einem anderen Licht

Fast die Haelfte der polnischen Geschichte gilt als Periode der Rezeption und Adaption kultureller Muster und Zivilisationsstandards, vor allem aus dem Westen und zum Teil aus dem hoeher entwickelten Sueden (Tschechien, Ungarn). Diese Feststellung erfordert eine neue Bewertung der polnischen mittelalterlichen Geschichte, darunter des Schluesselproblem der damaligen auswaertigen Beziehungen, also des Konflikts mit dem Kreuzritterorden. Dies ist eine der in der polnischen Ikonographie am meisten mystifizierten und propagandistisch ausgebeuteten Perioden. Den Film "Die Kreuzritter" und das Gemaelde "Die Schlacht bei Tannenberg" kennen nicht nur alle Polen, sie gehoeren auch zu den am staerksten eingepraegten Mustern ihres kollektiven historischen Selbstverstaendnisses. Man muss daher endlich zugeben, dass Sienkiewiczs Buch und Matejkos Gemaelde rein propangadistische Werke sind und der Film von Alexander Ford ein Beispiel fuer ein in heroisch- martyrologischem Ton gehaltenes nationalistisches Kino, das zu kommunistischen Zeiten in allen Laendern dieses Systems propagiert wurde, beginnend mit in der Sowjetunion entstanden offen oder kryptostalinistischen Filmen wie "Alexander Newski" (ueber den Bezwinger der Kreuzritter!) ueber den rumaenischen Film "Tapfer gegen die roemischen Legionen" (ueber die heroisch-martyriologische Geschichte der praerumaenischen Daker) bis hin zu den serbischen Filmen ueber das Amselfeld.

Die Kreuzritter waren im Mittelalter Emissaere jener westlichen und christlichen Zivilisation, als deren uralten Bestandteil wir uns bezeichnen. Sie haben nicht nur eine bedeutende Anzahl von Staedten und Ansiedlungen auf dem heutigen polnischen Territorium begruendet und organisiert, wobei sie Burgen, Schloesser und eine entwickelte Infrastruktur hinterliessen, sondern u. a. auch die aeltesten Normen des polnischen Gewohnheitsrechts niederschrieben in einer Zeit, als die Polen dazu selbst noch nicht in der Lage waren. Die Gewalt, derer sie sich bedienten, gehoerte zu den damaligen Methoden der Evangelisierung (Kreuzzuege!) und passte voellig zu den Sitten und politischen Standards der Epoche, von den auch die Piastenherrscher in keiner Weise abwichen.

Ohne Verstaendnis fuer die kulturbildende Rolle und ohne Beruecksichtigung der hohen zivilisatorischen Standards, die die Kreuzritter verbreiteten, ergibt sich z. B. auch kein Erklaerungsansatz fuer die Frage, warum ihre ueber hundertjaehrige Herrschaft in Danzig und dem koeniglichen Preussen dort eine dauernde Dominaz des Deutschen hinterlassen hat, obwohl anschliessend eine ueber dreihundertjaehrige Zugehoerigkeit zu Polen folgte. Zur Erklaerung aehnlicher Phaenomene fuehrt man den angeblich ewigen deutschen "Drang nach Osten" an, der von deutschen Propangadisten des 19. Jahrhunderst erfunden wurde. Der Konflikt zwischen Polen und den Kreuzrittern war einer der zahlreichen Antagonismen zwischen weltlichen und kirchlichen Feudalorganisationen. Die Schweden haben mit ihrem Einfall im 17. Jahrhundert Polen unvergleichlich groessere Zerstoerungen und Schaeden zugefuegt, aber niemand macht dies ihren heutigen Nachfahren zum Vorwurf. Die Brueder des Ordens von der Allerheiligsten Jungfrau Maria, die im Zoelibat lebten, haben dagegen nicht einmal Nachkommen hinterlassen.

Unterschiedliche Zeitraeume

Im 10. Jahrhundert, als Polen seine Aspirationen auf Zugehoerigkeit zur westlichen Zivilisation verkuendete, hatte das Land einen ueber tausendjaehrigen Rueckstand aufzuholen, dessen Aufarbeitung ein halbes Jahrtausend beanspruchte. Nach einem halben Jahrhundert kommunistischer Isolation haben wir die Chance, den Abstand in einem Vierteljahrhundert aufzuholen, also im Zeitraum einer Generation. Man muss nur mutig aus den Errungenschaften anderer schoepfen wollen, statt sich zu isolieren und vorzutaeuschen, dass wir alles selbst erfinden werden und die aus dem Westen kommenden Muster als Bedrohung einer, angeblich unschaetzbaren, eigenen Leistung zu verwerfen haben. Seit den mittelalterlichen Zeiten existiert und vertieft sich die zivilsatorische Distanz zwischen den westlichen und oestlichen polnischen Provinzen. Dies zeigt, woher im letzten Jahrtausend die belebenden Tendenzen gekommnen sind und gebietet, diese so zu staerken, dass sie in der Lage sind, an die oestliche Grenze vorzudringen, ja sie sogar zu ueberschreiten.

Gegensaetzliche Entwicklungen

Fuer das groesste und gleichzeitig lobenswerteste Element der polnischen Errungenschaften, das unseren wertvollsten Beitrag zur westlichen Zivilisation bildet, wird in Polen haeufig die Tradition der hiesigen Toleranz genannt. Problematisch nur, dass die Welt nicht nur nichts davon weiss, sondern mit den modernen Polen viele andere Eigenschaften verbindet, nur eben nicht diese. Die Republik vor den Teilungen war ein multiethnischer und multikultureller Staat, in dem die Herrscher sich gerne zu Beschuetzern verschiedener Minderheiten machten, die durch die Dominanz des katholischen Adels gefaehrdet waren. In der Renaissance- und Reformationszeit verbreitete sich diese Einstellung derart, dass sie im Effekt zum beruehmten Toleranzedikt der Warschauer Konfoederation von 1573 fuehrte. Dies wird fuer gewoehnlich (berechtigt!) der fast gleichzeitig stattfindenden Bartholomaeusnacht sowie dem spaeteren 30-jaehrigen Krieg gegenuebergestellt, in dem die Europaeer sich auf Grund religioeser Unterschiede (damals wesentlich wichtiger als ethnische Unterschiede) gegenseitig niedermetzelten.

Problematisch wird es hierzulande, als nach dem westfaelischen Frieden die religioesen Verfolgungen schrittweise zurueckgehen, und wenig spaeter ("Brief ueber die Toleranz" von John Locke 1689) ein schneller Anstieg der Toleranz und der Gewaehrung von Buergerrechten in den westlichen Gesellschaften zu verzeichnen ist.

In Polen setzt eine genau gegenteilige Entwicklung ein: 1596 - die katholische Kirche verweigert den unierten Bischoefen die Gleichberechtigung (u. a. den Einzug in den Senat); 1658 - es kommt zur Vertreibung der Polnischen und Tschechischen Brueder; 1668 - administratives Verbot des Abfalls von der katholischen Religion; 1673 - Entzug des Rechts auf Nobilitation und Staatbuergerschaft fuer Nichtkatholiken; 1717 - Verbot des Baus und der Erneuerung protestantischer Kirchen; 1718 - der letzte kalvinistische Abgeordnete wird vom Sejm ausgeschlossen.; 1733 - Nichtkatholiken werden der Mehrzahl der buergerlichen Rechte beraubt ... Die Unterschiede zu den westlichen Laendern vertieften sich also doppelt, denn in Polen liefen genau die gegenteiligen Prozesse ab. Die Teilungsgrossmaechte benutzten die bedrohten Rechte religioeser Minderheiten als Vorwand fuer ihre brutale Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens. Diese Vorwaende mussten sie sich jedoch leider nicht aus den Fingern saugen. Dagegen werfen viele Polen heute Juden, Ukrainern, Unierten oder Orthodoxen ihre angebliche Undankbarkeit fuer unsere damalige Toleranz vor und machen daraus einen weiteren Vorwand fuer die gegenwaertige Intoleranz.

Die Fallen des Nationalismus

Die Geschichte der Teilungszeit wird in der polnischen Historiographie im Allgemeinen dargestellt im breiten Kontext des Prozesses der nationalen Wiedergeburt, also des Erwachens eines Bewusstseins von nationaler Identitaet bei den Bewohnern der alten Republik, definiert nach ethnischen Kriterien. Diese Prozesse werden als "nationenbildend" vorgestellt und daher, vom Gesichtspunkt des polnischen Interesses betrachtet, als positiv und vorteilhaft.

Tatsaechlich haben sie jedoch, als Teil einer breiteren Tendenz zur Erweckung der Nationalismen, viele Bedrohungen fuer die polnischen Interessen mit sich gebracht. Zum Ersten haben sie die Wiedergeburt der Republik in ihren Grenzen vor den Teilungen verhindert, da ein bedeutender Teil des ehemaligen Territoriums von einer ethnisch "fremden" Bevoelkerung bewohnt war. Zum Zweiten haben die nationalen Partikularismen auf Konflikte mit fast allen Nachbarnationen hingewirkt, bei denen sich ebenfalls nationale Aspirationen und Bestrebungen herausbildeten, die in Konkurrenz zu den polnischen standen. Zum Dritten haben die damals erweckten Nationalsmen im Ergebnis zu blutigen Kriegen, massiven Vertreibungen und ethnischen Saeuberungen gefuehrt. Man kann dies alles nicht ignorieren und die heimische Geschichte weiterhin in Kategorien des Wachstums oder der Schwaechung des "nationalen Geistes" sehen und dabei die anderen Aspekte des kollektiven Zusammenlebens umgehen oder verharmlosen.

Es stimmt, dass die Polen den Nationalismus nicht erfunden haben, aber sie haben ihn freudig angenommen. Die Verbreitung der nationalistischen Ideologie hat den Polen mehr Schaden und Tragoedien eingetragen als Erfolge und Wohlergehen, aber trotzdem gibt es noch viele, die der heimischen Ausgabe angehangen haben und immer noch starrsinnig anhaengen. Im Namen dieser Ideologie haben sie anderen viel Leid zugefuegt, aber sie wollen sich nicht dazu bekennen und daraus die Konsequenzen ziehen, sondern sie geben einfach den anderen die Schuld.

Die Irrwege des Polozentrismus

Einfluss darauf hat die Art und Weise der Betrachtung und Interpretation der Umstaende, von denen die Wiedererlangung der polnischen Unabhaengigkeit nach dem 1. Weltkrieg begleitet wurde und die bis heute verdaechtige Emotionen wecken.

Dazu gehoeren die bewaffneten Kaempfe mit den Ukrainern in Ostgalizien und den Deutschen in Schlesien. Vielen Polen faellt es bis heute schwer zu verstehen, dass die schlesischen Aufstaendischen, die einen Anschluss dieser Provinz an Polen anstrebten, die Verteidiger der Zugehoerigkeit Schlesiens zu Deutschland als Gegner hatten. In Lemberg kaempften die Befuerworter einer zu Polen gehoerigen Stadt mit den Bewuerwortern einer ukrainischen Variante. Das amphitheatralische Denkmal des Schlesischen Aufstands auf dem Annaberg wurde nach dem 2. Weltkrieg an Stelle eines aehnlichen, vorher gesprengten, Monuments errichtet, das dort von den Deutschen als Erinnerung an ihre Herrschaft ueber dieses Stueck Erde errichtet worden war. Die Polen fordern von den Ukrainern ihr Einverstaendnis fuer die Rekonstruktion des triumphalistischen Friedhofs (die dominierenden architektonischen Elemente sind Triumphboegen) fuer die polnischen Opfer der Kaempfe um Lemberg. Weiter fordern sie die Anbringung einer Gedenktafel, die suggeriert, dass diese Opfer im Kampf um die Unabhaengigkeit Polens gefallen sind, was sich nicht mit der Wahrheit deckt (in den Kaempfen um Lemberg ging es um die Zugehoerigkeit dieser Stadt zu Polen und nicht um die polnische Unabhaengigkeit). Es wird also probiert, den Ukrainern eine Version der Geschichte aufzuzwingen, die sie mit den Bolschewiki gleichsetzen wuerde, die 1920 auf Warschau vorrueckten. Ist es so schwierig zu verstehen, dass in Lemberg polnische und ukrainische Patrioten gegeneinander kaempften, was eine grosse Tragoedie fuer sie war und ihren Nachfahren als Warnung dienen sollte?

Aus einer kompletten Fehlinterpretation der Fakten und historischen Begriffe waechst daher die Ueberzeugung, dass Lemberg und Breslau, Wilna und Danzig gleich und von je her polnisch sind.

Die Ueberhoehung der Nationalstaatsidee fuehrte nach dem 2. Weltkrieg zur Glorifizierung der monoethnischen Gesellschaft sowie zu der befuerwortenden Feststellung, dass in der Volksrepublik Polen keine bedeutenden Minderheiten mehr vorhanden sind und somit auch nicht die mit ihnen verbundenen Probleme. Derartige Ansichten vertraten bis vor kurzem auch noch einige Vertreter der antikommunistischen Opposition. Dies ist, vorsichtig ausgedrueckt, beschaemend, wenn man nachvollzieht, wie diese Minderheiten aus der polnischen Gesellschaft eliminiert wurden (Holocaust, Abtrennung der polnischen Ostgebiete, Vertreibung der Bevoelkerung aus den angegliederten Gebieten im Westen und Norden). Der heutige Staat und die heutige polnische Gesellschaft haben sich in Prozessen herausgebildet, die denjenigen aehneln, die heute allgemein verurteilt werden, wenn sie sich, etwa auf dem Balkan, ereignen. Diese Prozesse wurden nicht von den Polen verschuldet (die Juden wurden von den Nazis umgebracht, die polnischen Ostgebiete wurden von den Sowjets eingenommen, ueber die Verschiebung der Grenzen und die Aussiedlungen haben die Allierten entschieden), aber sie hatten Anteil an ihrer Durchfuehrung oder den entsprechenden Resultaten.

Das martyrologisch-heroische Bild der eigenen Geschichte verdeckt den Polen fast vollstaendig den Blick fuer die traurigen Fakten aus der Vergangenheit, er vertieft die Antagonismen gegenueber den Nachbarn und erschwert das Ablegen der Opferrolle sowie das Spielen einer aktiven und konstruktiven Rolle im Prozess der europaeischen Einigung und Identitaetsfindung.

Übersetzt von Matthias Barelkowski

Den Originalartikel in polnischer Sprache finden Sie unter: http://www.rzeczpospolita.pl/Pl-iso/dodatki/plus_minus_990925/plus_minus_a_2.html


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Matthias Barelkowski" <h0444zo4@student.hu-berlin.de>
Subject: Artikel aus der Rzeczpospolita vom 25./26. September 1999
Date: 22.11.1999