Nazi War Crimes Disclosure Act

In den National Archives in Washington, D. C., sind am vergangenen Montag mit einigem Medienrummel 600 Kisten (ca. 400.000 Seiten) Aktenmaterial des Office of Strategic Services (OSS), der Vorlaeuferorganisation des CIA, freigegeben worden. Die Aktenfreigabe ist prima facie das Ergebnis des im Oktober 1998 erlassenen "Nazi War Crimes Disclosure Act". Dieses Gesetz verpflichtet alle US-Regierungsstellen, noch zurueckgehaltene Akten zu deklassifizieren, die waehrend und seit dem Zweiten Weltkrieg angefallen sind, wann immer sich eine US-Behoerde mit NS-Taetern befasste: bei der Entnazifizierung, in Kriegsverbrecherprozessen, bei der Rekrutierung von Geheimdienst-Agenten, bei der Einreise deutscher Wissenschaftler im Projekt "Paperclip" etc.. Das starke Interesse der letzten Jahre am Verbleib von Raubgold, Beutekunst, juedischem Versicherungs- und Bankvermoegen sowie an der Behandlung von Zwangsarbeitern legte es nahe, diese Bereiche gleich mit in das Gesetz einzubeziehen. Der folgende Bericht will den Hintergrund des Deklassifizierungsgesetzes eroertern und erklaeren, was von ihm zu erwarten ist, sowie HistorikerInnen in Deutschland auf die juengste sowie anstehende Aktenfreigaben hinweisen.

Entstehung des Nazi War Crime Disclosure Act *

Umsetzung des Nazi War Crime Disclosure Act *

Die Pressekonferenz vom 26. Juni *

Freigabe von OSS-Akten am 26. Juni 2000 *

Funksprueche des SD zwischen Berlin und Rom, 1943 *
Fritz Kolbe alias Gordon Wood *
Abhoerprotokolle deutscher Kriegsgefangener *
Varia *

Entstehung des Nazi War Crime Disclosure Act

Auf die National Archives in College Park, Maryland, gingen seit Mitte der 1990er Jahre mehrere Wogen hektischer Rechercheaktivitaeten hernieder: Am Anfang stand 1995 die Frage nach dem Verbleib von Raubgold und juedischem Bankvermoegen auf schweizer Konten. Es folgten 1997 Nachforschungen zu Beutekunst und Versicherungsvermoegen, die ein Jahr spaeter ergaenzt wurden durch das Thema Zwangsarbeit. Professionelle Forscher, Regierungshistoriker, Vertreter von Anwaltskanzleien und Journalisten gaben sich in den Archives die Klinke in die Hand.(1) Erstes Ergebnis dieser Betriebsamkeit war der sogenannte Eizenstat Report (2), weitere Folgen waren international die Gruendung diverser Expertenkommissionen sowie Kongressanhoerungen und Konferenzen.(3) Die National Archives versuchten dem Ansturm u. a. dadurch Herr zu werden, dass sie ein spezielles Findbuch zu den derzeit nachgefragten Themen erstellten.(4) Das Gesetz wurzelt allerdings weniger im verstaerkten Interesses an holocaustbezogenen Fragestellungen der 1990er Jahre als vielmehr in Problemen bei der Verfolgung von NS-Straftaetern seit der Gruendung des Office of Special Investigation (OSI) im US Justizministerium im Jahre 1979. Auf verschlungenen Wegen geht der Act zurueck auf den Skandal um Kurt Waldheim 1986, als die Geruechte nicht abrissen, dass Waldheim nach dem Krieg fuer den CIA gearbeitet habe und die Agency deshalb keine Dokumentation beisteuern wolle. 1993 (5) brachte die Abgeordnete Rep. Carolyn B. Maloney (D-NY) erstmals einen Antrag fuer ein Deklassifizierungsgesetz ein, aber noch reichte der Druck auf die Geheimdienstkomittees in beiden Haeusern des Kongress nicht aus, um tatsaechlich etwas zu bewegen. Das allgemeine Klima seit 1995 jedoch, in dem auch die amtlichen Nachforschungen immer wieder an die Grenzen der Dokumentierbarkeit komplizierter Transaktionsvorgaenge der Kriegszeit stiessen, machte die Zeit reif fuer den Erlass des Gesetzes, das bis dahin im Kongress noch keine Mehrheiten gefunden hatte: den Nazi War Crimes Disclosure Act von 1998 (6).

Umsetzung des Nazi War Crime Disclosure Act

Im Januar 1999 berief Praesident Clinton eine Arbeitsgruppe zur Umsetzung des Gesetzes. Die Aufgabe der Interagency Working Group (IWG) ist es, regierungsweit entsprechende Akten zu identifizieren, zu verzeichnen und zur Freigabe zu empfehlen. Als Hilfestellung fuer die verschiedenen Behoerden hat das OSI eine Namensliste von SS-Offizieren aus den Personalunterlagen des Berlin Document Center zusammengestellt, die ergaenzt wurde durch die UN War Criminal List. Etwa 70.000 Namen kamen so zusammen. Mit dem Gesetz des Kongress und der praesidentiellen Verordnung ist die Washingtoner Buerokratie von hoechster Stelle in die Pflicht genommen, ihre "Giftschraenke" zu durchforsten und die Dokumentation der eigenen, nicht immer ruehmlichen Begegnungen mit NS-Taetern offenzulegen.(7)

Bis zum Sommer 1999 identifizierte die IWG nicht weniger als 600 Millionen (!) Seiten, die eventuell von dem Gesetz betroffen sein koennten. Damit ist Material gemeint, das naeher untersucht werden muss, aber noch nicht zwangslaeufig unter den Disclosure Act faellt. Nach IWG-Schaetzung wuerde eine solche Untersuchung – die auf eine Durchsicht jeder einzelnen Seite hinauslaeuft, weil sich vor allem der CIA gegen eine sogenannte "bulk declassification" wehrt –

$38 Millionen kosten und 600 Mitarbeiterjahre dauern. Bis zum Januar 2002 soll die IWG jedoch bereits im Kongress ihren Abschlussbericht vorlegen, waehrend sich im Idealfalle zeitgleich Historiker im Nationalarchiv schon begeistert durch das neu freigegebenen Material graben.

Die Arbeit der IWG ist allerdings kein Idealfall; sie bewegt sich in einem Minenfeld politisch aufgeladener Interessen, in dem diese schwindelerregenden Zahlen eher das geringere Problem sind. Kein Praesident vor Clinton hat sich so umfassend der Sache der Holocaust-Opfer angenommen. In seine Amtszeit faellt unter anderem die Erforschung der Rolle schweizerischer Banken waehrend des Zweiten Weltkrieges, die Verhandlungen um Entschaedigungen fuer NS-Zwangsarbeiter und die Berufung einer Forschungskommission, die zur Zeit den Umgang der USA mit juedischen Vermoegenswerten waehrend und nach dem Krieg untersucht. Der Kongress will bei dem publikumswirksamen Thema "Holocaust" natuerlich nicht nachstehen. Der Nazi War Crime Disclosure Act geht auf eine Kongress-Initiative zurueck, auch der zeitliche Rahmen ist vom Kongress gesetzt. Die Abgeordneten druecken aufs Tempo und wollen aufsehenserregende Zahlen vermelden koennen – je hoeher, desto besser. Etwa 1,5 Millionen Seiten wurden seit Anfang 1999 bereits freigegeben, am Montag kamen 400.000 hinzu. Wie die Arbeitsgruppe in kuerzester Zeit die Aktenmassen bewaeltigen soll, ist ihr ueberlassen. Ein eigenes Budget zur Umsetzung des Gesetzes hat der Kongress vorerst nicht bewilligt.(8)

Der IWG bleibt angesichts des Drucks nichts anderes uebrig, als die nur langsam hereintropefelnden Ergebnisse, die sie bisher vorweisen kann, wenigstens mit Aufsehen zu verkaufen. In der auf der Internetseite der IWG angepriesenen, vor einiger Zeit freigegebenen "Himmler-Sammlung" befindet sich beispielsweise kein einziges Dokument von Heinrich Himmler, lediglich der Titel ist "heischend". Natuerlich kann man die IWG nicht dafuer verantwortlich machen, was in den deklassifizierten Akten zu finden ist, allerdings darf der Beobachter durchaus ueber die Art der Praesentation nachdenken. Wichtiger noch: Der Termin der Freigabe der OSS-Akten am Montag war absolut kein Zufall, denn am folgenden Tag musste die Arbeitsgruppe in einer Kongressanhoerung ueber ihre Fortschritte rapportieren und um ein Budget verhandeln. IWG, CIA, die anwesenden Historiker: alle zogen nun am gleichen Strang, denn was fuer den folgenden Tag gebraucht wurde, waren internationale Schlagzeilen.

Die Pressekonferenz vom 26. Juni

Der Medienauftrieb im Basement der National Archives konnte sich sehen lassen. Durch gezielte Indiskretion mit den Schluesselworten "Geheimdienst" und "Holocaust" wussten einige Pressevertreter bereits im Vorfeld, dass dieser Termin besser nicht der Konkurrrenz allein ueberlassen werden sollte. Michael J. Kurtz, Leiter der IWG, nannte die Freigabe "the most significant release to date", der Vertreter des CIA, Kenneth Levit (Special Counsel, Office of the Executive Director), betonte nicht nur die gesetzliche, sondern vor allem die "moral obligation" des CIA, die Akten zum Zweiten Weltkrieg zugaenglich zu machen. Er kuendigte eine weitere Freigabe von 3000 Seiten noch in diesem Sommer an. Eli M. Rosenbaum, dessen Institution (OSI) wie keine andere auf die Freigabe von Unterlagen zu Kriegsverbrechen angewiesen ist, beklagte, dass "too much has been secret for too long". Mit dem Holocaust-Historiker Richard Breitman (American University) und dem Geheimdienstspezialisten Timothy Naftali (University of Virginia) war es der IWG gelungen, zwei ausgewiesene Experten zu gewinnen, die der versammelten Presse eine erste, natuerlich nur vorlaeufige Einschaetzung des Materials geben konnten (siehe unten, Abschnitt "Freigabe"). Breitman bemerkte: "I still find it amazing that the Allied governments gathered material on Nazi Germany that still tells us something new. I find it disheartening that the material was not used more at the time. And I find it frustrating that it took so long to make it available to the public." Entsprechend vergass keiner der Redner, den Sinn des Nazi War Crimes Disclosure Acts zu betonen.

Wenn da nicht dieser Schoenheitsfehler waere: Die Freigabe der OSS/CIA Akten vom Montag, die die IWG fuer sich in Anspruch nimmt, geht genaugenommen gar nicht auf den Nazi War Crime Disclosure Act zurueck, sondern auf eine Executive Order von Praesident Clinton vom April 1995. Diese Verordnung fordert "automatic declassification […] within five years from the date of this order [for] all classified information contained in records that […] are more than 25 years old [and] have permanent historical value." Die Akten "shall be automatically declassified whether or not the records have been reviewed." (9) Damit stellte Clinton das bisherige Deklassifizierungs-Procedere vollstaendig auf den Kopf: Bis 1995 hat man Akten durchgesehen, um zu entscheiden, welche davon eventuell freigegeben werden. Nun muessen sie bearbeitet werden, um zu rechtfertigen, welche zurueckgehalten werden; andernfalls werden sie automatisch deklassifiziert – Schlaraffia fuer Historiker, Albtraum der Geheimdienste.

Solche Details sind fuer die Journalisten auf die Schnelle aber kaum zu recherchieren, vor allem nicht, wenn der Beitrag am Abend abgeliefert sein muss. Die Presse-Resonanz am naechsten Tag ueberstieg wahrscheinlich die Erwartungen der IWG: Entschluesselte Funksprueche des SD zwischen Rom und Berlin hatten weltweit Schlagzeilen gemacht. Besonders zufrieden zeigte man sich darueber, dass die Story es in der Washington Post auf Seite eins geschafft hatte: "Allies Knew of Plan for Italy’s Jews".(10) Bei der Anhoerung im Kongress am Dienstag (11) wurde die gute Presse mehr als einmal herangezogen, um dem Vorsitzenden, Rep. Stephen Horn (R-CA), die Notwendigkeit eines Budgets von fuenf Millionen Dollar und einer Mandatsverlaengerung deutlich zu machen, zumal die Aufgaben der IWG nun auch auf die Dokumentation japanischer Kriegsverbrechen ausgeweitet werden sollen.(12) "We have operated on the thinnest, narrowest shoestring you have ever seen", beklagte Elisabeth Holtzmann, externes Mitglied ("public member") der IWG. "And we cannot do it anymore on a shoestring." Das Subcommittee vergibt zwar keine Gelder, aber der Vorsitzende hat seine Mittel und Wege, Haushaltswuensche im Kongress durchzusetzen. Und es sah so aus, als haetten die deportierten Juden von Rom ihn ueberzeugt.

Waehrend in der Kongressanhoerung der CIA-Verteter Levit das Ende der Geheimniskraemerei beschwor, weitere Freigaben ankuendigte und darauf verwies, dass unter den freigegebenen Bestaenden vom Montag nur wenige Dokumente weiterhin zurueckgehalten seien (sog. "reductions" bzw. "sanitzed documents"), war im Lesesaal der National Archives in College Park gelinde gesagt die Hoelle los. Die Findmittel fuer das neue Material – in dreifacher Ausfuehrung bereitgestellt – blieben die ganze Woche ueber umlagert. Lange Gesichter aber bei denen, die die begehrten Boxen auf den Tisch bekamen: Sie waren voller Papier, oft jedoch nur Platzhalter (sog. "withdrawal notices"). Die Platzhalter verweisen darauf, dass Dokument X aus Gruenden der nationalen Sicherheit auch 55 Jahre nach dem Krieg noch verschlossen bleiben muss. Ein Researcher bezeichnete das, was er bisher zu sehen bekam, ungeduldig als "junk" und zeigte angesichts des nun zugaenglichen Materials Unverstaendnis, warum es ueberhaupt je verschlossen worden war.(13) Natuerlich kann so umfangreiches Material wie die 600 Kisten vom vergangenen Montag nicht durch diese Stichproben eingeschaetzt werden, und stets gilt der Grundsatz: One person’s trash is another person’s treasure. Der eigentliche Wert des neuen Materials wird sich erst im Laufe der Zeit erweisen und eben nicht durch eine kalkulierte Pressekonferenz.

Wahrscheinlich sollten HistorikerInnen sich ueber jedwede Aktenfreigabe freuen und nicht zuviele Fragen stellen. Aber es lohnt sich, bei der "largest search, declassification and disclosure operation in history" (14) einmal naeher hinzuschaun, denn der Holocaust ist schon lange eine feste Groesse in der amerikanischen Innenpolitik, bei der es in der Regel um anderes geht als um neue wissenschaftliche Erkenntnisse.

Freigabe von OSS-Akten am 26. Juni 2000

Zum Abschluss moechte ich noch einen kurzen Ueberblick ueber das neu freigegebenen Material geben. Die entsprechenden Findmittel stehen leider (noch?) nicht im Netz, Informationen sind aber sicherlich von der IWG zu bekommen.

Funksprueche des SD zwischen Berlin und Rom, 1943

Die Dokumente, die nach der Pressekonferenz in den National Archives weltweit die Schlagzeilen bestimmten, sind die Entschluesselungen des SD-Funkverkehrs ("decrypts") in Italien von 1943 durch den britischen Geheimdienst, vornehmlich jene Funksprueche zwischen Berlin und Rom. Das Material ergaenzt in einigen Details die bereits bekannte Chronologie der Vorbeitung zur ersten Verhaftung von Juden in Rom am 16. Oktober 1943 und der anschliessenden Deportation nach Auschwitz zwei Tage spaeter. (15) Es macht noch einmal deutlich, in welchem Ausmass die Gestapo den Widerstand der Roemer bei deutschem Vorgehen gegen die Juden befuerchtete, aber auch einkalkulierte.  (16) Peter Black, Senior Historian am Holocaust Museum, findet die neuen Quellen faszinierend: "[The material] offers not necessarily a new outline of the picture but it sharpens it. The fact that [the documents] are radio transmissions gives them immediacy." (17) Ein im deutschen Original nicht existentes, nur hier ueberliefertes Schluesseldokument ist der Befehl Kaltenbrunners an den Gestapo-Vertreter an der deutschen Botschaft in Rom, Herbert Kappler, vom 11. Oktober, die bereits am 6. Oktober angeordnete "Judenaktion" trotz eines Interventionsversuches der deutschen Botschaft in Rom umzusetzen: (18)

"It is precisely the immediate and thorough eradication of the Jews in ITALY which is the special interest of the present internal political situation and the general security in ITALY. To postpone the expulsion of the Jews until the CARABINIERI and the Italian army officers have been removed can no more be considered than the idea mentioned of calling up the Jews in ITALY for what would probably be very improductive labour under responsible direction by Italian authorities. The longer the delay, the more the Jews who are doubtless reckoning on evacuation measures have an opportunity by moving to the houses of pro-Jewish Italians of disappearing completely [18 corrupt] ITALY [has been] instructed in executing RFSS orders to proceed with the evacuation of the Jews without further delay." (19)

Nach Einschaetzung des Historikers Richard Breitman erlaubt das Material auch eine Neubewertung der Rolle von SS-Obergruppenfuehrer Karl Wolff (oberster SS-Fuehrer und Polizeichef in Italien, HSSPF). (20) Die "decrypts" legen nahe, dass seine Beteiligung an der Vorbereitung der Deportation (bis hin zur Erwirkung eines Befehl Hitlers wahrend eines Aufenthalts im Fuehrerhauptquartier am 6. Oktober) ueber das bisher Bekannte hinausgeht. Breitman bedauert, dass das Material nicht nach dem Krieg zur Verfolgung von Kriegsverbrechern, Wolff insbesondere, eingesetzt wurde.

Erste Presse-Reaktionen auf die SD-"decrypts" betonen die seit laengerem kontrovers diskutierte Frage, was die Westalliierten wann ueber einzelne Deportationen und Morde wussten. "The fact that we knew that the Germans intended to round up the Jews of Rome – we, that is, the Allied Governments – [and] had a few days warning and did nothing with this information, raises some difficult moral questions", meint Geheimdienstexperte Timothy Naftali. Er sieht einen Spielraum von vier bis fuenf Tagen. "A statement by Churchill or Roosevelt [that would have adequately concealed the source of information] might well have led the Jews of Rome to take the rumours about imminent deportation seriously." Naftali warnt jedoch vor voreiligen Schluessen. Es bleibe unuebersehbar, dass das Interesse der Geheimdienstler, die beim SD mitlasen, nicht dem Schicksal der Juden galt. Sie waren vielmehr daran interessiert, die Quartiere der deutschen Polizeieinheiten in Rom zu lokalisieren, um sie beim alliierten Einmarsch in die Stadt umgehend festsetzen zu koennen.

Die freigegebenen Mitschriften setzen am 3. September ein und enden am 29. Oktober 1943, allerdings ist bekannt, dass die Briten diesen Code im August knackten und bis zum Februar 1944 abhoerten – es steht also nach wie vor Material aus. Nicht uebersehen werden darf bei der Aktenfreigabe vom vergangenen Montag, dass hier mit britischer Zustimmung Geheimdienstmaterial freigegeben wurde, das vom CIA bisher mit Hinweis auf die sogenannte "foreign government information"-Klausel zurueckgehalten wurde.

Fritz Kolbe alias Gordon Wood

Zu dem interessanteren Material der juengsten Aktenfreigabe gehoeren auch 1200 OSS-Berichte, die auf dem von Fritz Kolbe alias Gordon Wood gelieferten Material basieren. Kolbe war Mitarbeiter des Auswaertigen Amtes und hatte sich den Auftrag, als offizieller Kurier zwischen Berlin und der deutschen Legation in Bern zu fungieren, gesichert. Von den Briten als unzuverlaessig eingestuft, knuepfte er im August 1943 Kontakte zum OSS in Bern und wurde zu Allen Dulles’, dem dortigen OSS-Chef, wichtigster Geheimdienstquelle. Die erste Lieferung umfasste 186 geheime Dokumente aus dem Amt, insgesamt sollten es etwa 1800 werden. Allen Dulles leitete sie unter den Codenamen "KAPPA" mit einem auswertenden Anschreiben nach Washington weiter. Es war das Kolbe-Material, das Dulles Zugang zu den Kreisen des Weissen Hauses verschaffte und damit nicht unwesentlich seine Karriere befoerderte.  (21) Spaetestens als die Lieferungen aus dem Auswaertigen Amt dazu beitrugen, einen Spion in der britischen Botschaft in Ankara zu enttarnen (Codename CICERO), bedauerten die Briten, sich diese Quelle nicht selbst gesichert zu haben und bezeichneten Kolbe als "the prize intelligence source of the war." (22)

Mit der Aufloesung des OSS im Herbst 1945 gingen die Akten der Research & Analysis Branch an das State Department, alle anderen wurden von der Strategic Services Unit (SSU) uebernommen, die 1947 im dann gegruendeten CIA aufging. Die OSS-Akten des State Department sind seit Mitte der 1970er Jahre verfuegbar. Der CIA gab seit 1980 sukzessive OSS-Material an die National Archives ab, wo sie seit 1990 in der Record Group 226 zugaenglich sind und umgehend zur Grundlage wichtiger Studien und Editionen wurden. (23)  In den National Archives wertete man diesen Bestand als "acquisition of unprecedented significance", denn "never before has a national intelligence agency released its records for research." (24) In diesem ersten Schwung von OSS-Akten fanden sich verstreut bereits Quellen zu Fritz Kolbes Informantentaetigkeit. Das zugaengliche KAPPA-Material umfasste sowohl Dulles’ Schreiben nach Washington als auch von Kolbe/Wood gelieferten deutschen Dokumente. Die auf dem Kolbe-Quellen basierenden, vom OSS in Washington erstellten Berichte und Analysen, die sogenannte Boston Series, waren allerdings nur zum Teil verfuegbar. Zurueckgehalten wurden all jene Berichte, zu denen nicht nur der OSS, sondern auch andere Geheimdienste, vornehmlich britische, Informationen beisteuerten (also die bereits erwaehnte "foreign government information"-Klausel). Die 1200 am Montag freigegebenen Berichte fallen in diese Kategorie. Damit liegen nun zwei vollstaendige Boston Series vor, die die Bearbeitung des Themas erleichtern werden. Daneben wurde auch die Befragung Kolbes durch die DeWitt C. Poole Kommission des State Department von September 1945 komplett freigegeben; sie war bisher nur in Auszuegen zugaenglich und enthaelt neue Hinweise auf die Vernetzung Kolbes mit anderen Widerstaendlern..(25)

Abhoerprotokolle deutscher Kriegsgefangener

Erwaehnenswert sind zudem britische Abhoerprotokolle deutscher Kriegsgefangener, von Landsern bis Generaelen. In einem Transkript vom Februar 1945 liefert ein Marineangehoeriger eine detaillierte Beschreibung der Erschiessungen von lettischen Juden in Lipaja/Libau im Dezember 1941.(26) Ein anderes Gespraech von Ende 1944 dokumentiert eine Diskussion ueber Euthanasieverbrechen. (27) Wieder andere bringen verschiedene Ansichten zu Hitler, dem Kriegsverlauf und Verbrechen in den besetzten Ostgebieten. Die heterogenen Meinungen und Reaktionen, wie sie in den Abhoerprotokollen zum Ausdruck kommen, "are going to make it more difficult for any scholar to simply say there was one German view toward the Jews – that all Germans were willing executioners", kommentiert Richard Breitman.

Varia

Schliesslich finden sich in dem Material eine groessere Anzahl an Berichte des Safehaven Programms, die aber eventuell Duplikate der Safehaven-Unterlagen im Bestand des State Department sind (RG 59). Neu dagegen sind fuenf Kisten (ca. 4000 Seiten) von der OSS Insurance Intelligence Unit, die das Versicherungswesen in Deutschland, vor allem Rueckversicherungsgeschaefte, analysierte. Ausserdem enthaelt das Material diverse Verhoere von SS- und SD-Offizieren, zum Beispiel ein britisches Verhoer von Constantin Canaris, Polizeichef im besetzten Belgien und Neffe des Abwehr-Generals, der sich ueber die Verbindung seines Onkels zu Reinhard Heydrich aeussert. Allgemein duerften die Akten Ergaenzungen ueber die Zusammenarbeit des OSS mit den Briten im Schattenkrieg gegen Hitler bieten.

Astrid M. Eckert

John F. Kennedy-Institut fuer Nordamerikastudien, FU Berlin
z. Zt. Deutsches Historisches Institut, Washington, D. C.

Fussnoten:

(1) Da die meisten professionellen Researcher an aehnlichen Bestaenden interessiert waren, dabei unter enormen Zeitdruck standen und um Nachfolgeauftraege konkurrierten, ging es im Archiv nicht immer kollegial zu. Einen ersten Einblick in die Lage bietet Desson Howe, A Wealth of New Information on Holocaust, in: Washington Post (18. XI. 1998). Die kommerzielle Nutzung von Archiven durch professionelle Forscherteams steht m. E. in Deutschland erst am Anfang, ist aber bereits erkennbar. Vgl. Hans Michael Kloth, Alte Akten, neue Fakten, in: Spiegel Nr. 16 (17. IV. 2000).

(2)US and Allied Efforts to Recover and Restore Gold and Other Assets Stolen or Hidden by the Germans During World War II. Preliminary Study. Coordinated by Stuart E. Eizenstat […]. Prepared by William Z. Slany, The Historian, Dept. of State. Dept. of State Publication 10557, May 1997. Dieser erste Bericht wurde ergaenzt durch einen zweiten Eizenstat Report: US and Allied Wartime and Postwar Relations and Negotiations With Argentina, Portugal, Spain, Sweden, and Turkey on Looted gold and German External Assets and US Concerns About the Fate of the Wartime Ustasha Treasury. [by Eizenstat/Slany], Dept. of State Publication 10557, June 1998.

(3) Einen Ueberblick ueber die Vielzahl der derzeitigen Kommissionen bietet die Website des United States Holocaust Memorial Museum: Governmental and Private Attempts to Trace Holocaust Assets, by country: www.ushmm.org/assets/index.html

Eine der Konferenzen zum Thema fand im Herbst 1998 in Washington statt. Vgl. Proceedings. Washington Conference on Holocaust Era Assets. Nov. 30 – Dec. 3, 1998. Ed. by J. D. Bindenagel. Washington, D. C.: GPO 1999.

(4) Ein erstes Findbuch erschien als Anhang zum Eizenstat Report I: Appendix. Finding Aid to Records at the National Archives at College Park. Prepared by Dr. Greg Bradsher, May 1997. Es ist mittlerweile ueberholt von Greg’s 1170 Seiten starkem, unerlaesslichen opus magnum: Holocaust-Era Assets. A Finding Aid to Records at the National Archives at College Park, MD, compiled by Greg Bradsher, Washington, D. C.: GPO 1999. Das Findbuch ist zugaenglich auf der Website des United States Holocaust Memorial Museum: www.ushmm.org/assets/index.html

(5) Die Vergangenheit Waldheims wurde 1986 vom World Jewish Congress (WJC)  offengelegt. Vgl. ausfuehrlich Eli M. Rosenbaum, Betrayal. The Untold Story of the Kurt Waldheim Investigation and Cover-Up (New York: St. Martin’s Press 1993). Rosenbaum, heute Direktor des OSI, war 1985/86 als Justitiar des WJC mit dem Fall Waldheim befasst.

(6) Public Law 105-246, signed into law 8. X. 1998.

(7) Der beste Weg, sich ueber die Arbeit der IWG zu informieren und Aktenfreigaben zu verfolgen ist ihre Webpage unter: www.nara.gov/iwg/ Hier auch die Executive Order 13110 vom 11. I. 1999, mit der Clinton die IWG einsetzte und ihre Aufgaben definierte.

(8) Die IWG speist sich bisher aus den regulaeren Etats der National Archives und erhielt einen Zuschuss des Office of Special Investigation,  also des Department of Justice.

(9) Executive Order 12958 vom 17. IV. 1995: Classified National Security Information. Die Zitate stammen aus Part 3, Declassification and Downgrading, Section 3.4., Automatic Declassification. Der von EO 12958 geforderte Zeitrahmen von fuenf Jahren ist mittlerweile auf sechseinhalb verlaengert worden. Die Verordnung ist ueber die Webpage des Weissen Hauses zugaenglich unter: www.pub.whitehouse.gov

(10) Presse zur Aktenfreigabe vom 26. Juni in Auswahl: Michael Dobbs, Allies Knew of Plan for Italy’s Jews, in: Washington Post (27. VI. 2000), 1, 18; Astrid M. Eckert, Amerikanische Regierung gibt Geheimdienst-Akten frei, in: Die WELT (30. VI. 2000); Ben McIntyre, Churchill ‘could have saved Roman Jews from death’, in: The [London] Times (27. VI. 2000). Darueberhinaus berichteten CNN, die einschlaegigen Agenturen, BBC World Service, Radio NPR, The Guardian, Corriere della Sera u.a. Selbstkritisch muss ich natuerlich anmerken, dass ich mit meiner Berichterstattung ein Teil des in diesem Berichts beschriebenen Kreislaufs bin.

(11) Congress of the United States. House of Representatives. Committee on Government Reform. Subcommittee on Government Management, Information, and Technology. Hearing on ”Government Compliance on the Nazi War Crimes Disclosure Act” (27. VI. 2000).

(12) Die Relevanz ergibt sich unter anderen aus ersten amerikanischen Sammelklagen (sog. ”class action suits”) gegen japanische Unternehmen, die kuerzlich in Kalifornien erhoben wurden. Ein dortiges Gesetz hat die Verjaehrung fuer Entschaedigungsklagen aufgehoben. Ein Research-Team der Anklage sitzt natuerlich bereits in den National Archives. Vgl.: Klagen der USA gegen japanische Firmen wegen Zwangsarbeit. Forderungen ehemaliger amerikanischer Kriegsgefangener, in: Neue Zuercher Zeitung (20. VI. 2000).

(13) Man darf m. E. an Fragen der Sekretierung nicht mit Konspirationstheorien herangehen. Eine naehere Untersuchung entzaubert selbst die Welt der Geheimdienste zu einem gewissen Grad, denn oftmals wird/wurde die Klassifizierung von niederen Chargen vorgenommen, die eher einen ”Geheim”-Stempel zuviel als einen zu wenig aufdruecken. Eine spaetere Deklassifzierung ist dann oftmals eine Frage des verfuegbaren Personals.

(14) Interview mit Eli M. Rosenbaum, 21. VI. 2000.

(15) Zur Deportations der Juden Italiens vgl. Leni Yahil, The Holocaust, The Fate of European Jewry (Oxford: Oxford UP 1990), 404-456; Meir Michaelis, The Holocaust in Italy. Areas of Inquiry. In: Berenbaum/Peck (Hgg.), The Holocaust and History. The Known, the Unknown, the Disputed, and the Reexamined (Bloomington, IN: Indiana UP 1998), 439-462; Liliana Picciotto Fargion, Italien. In: Wolfgang Benz (Hg.), Dimension des Voelkermords. Die Zahl der juedischen Opfer des Nationalsozialismus (Muenchen: Oldenbourg 1991), 199-227. Ein kompakter Ueberblick ueber die europaweite Umsetzung des Judenmords im Jahre 1943 und damit eine Einordnung der italienischen Situation bei Gerhard L. Weinberg, The ‘Final  Solution’ and the war in 1943. In: ders. (Hg.), Germany, Hitler and World War II (Cambridge: Cambridge UP 1995), 217-244.

(16) Herbert Kappler, Gestapo-Vertreter an der deutschen Botschaft in Rom, beklagt sich in RSS 27/25/9/43 vom 24. IX. 1943 an Berlin darueber, dass der Vatikan Visa fuer Spanien, Argentinien, Portugal und Mexiko an Juden verkauft (!) habe. In RSS 42/29/9/43 vom 29. IX. 1943 beschreibt er eine wachsende Feindseligkeit gegenueber den deutschen Besatzern: ”This is increased by measures against the Jews who arouse sympathy.” Am Abend nach der Verhaftung von 1259 Juden, von denen 1002 deportiert werden, teilt er in RSS 305, 306/16/10/43 vom 16. X 1943 mit, dass die ”attitude of the Italian population was unequivocally one of passive resistance, which in a large number of individual cases has developed into active assistance. […] [The population] in individual cases even attempted to keep single policemen back from the Jews, … by the pistol … (rest of message missing).” Diese Dokumente wurde bei der Pressekonferenz in Kopie ausgegeben und geschickterweise nicht mit einer Quellenangabe versehen. Sorry folks!

(17) Alle Zitate in diesem Abschnitt stammen von der Pressekonferenz in den National Archives am 26. VI. 2000 bzw. aus anschliessend gefuehrten Interviews.

(18) Eitel Friedrich von Moellhausens, der Vertreter des deutschen Botschafters in Rom Rudolf Rahn, hatte ohne Wissen Rahns Ribbentrop am 6.Oktober ueber das Deportationsvorhaben der Gestapo informiert und statt dessen die Verwendung der Juden als Zwangsarbeiter vorgeschlagen. Er hatte dabei von der anstehenden ”Liquidation” der Juden gesprochen. Eitel Friedrich von Moellhausen an RAM, Nr. 192, supercitissime [sic] vom 6. X. 1943, zitiert u.a. in: Robert Katz, Black Sabbath. A Journey Through a Crime Against Humanity. (London: Barker 1969), 137. Fritz Kolbe alias Gordon Wood, der Informant aus dem Auswaertigen Amt des Berner OSS-Chefs Allen Dulles, liess dem OSS dieses Telegramm im Dezember 1943 zukommen. Zu Kolbe siehe unten.

(19) Ernst Kaltenbrunner, Berlin, an Herbert Kappler, Rom, RSS 256/11/10/43, 10. X. 1943. Eckige Klammern im Original. RFSS = Reichsfuehrer SS Heinrich Himmler.

(20) Breitman ist durch die Recherche fuer sein Buch: Official Secrets. What the Nazis Planned, What the British and Americans Knew (New York: Hill & Wang 1998) mit Querelen um die Freigabe von Geheimdienstakten bestens vertraut; vgl. den Epilog, 235-246, der durchaus als Vorgeschichte zur jetzigen Aktenfreigabe gelesen werden sollte. Zu diesem konkreten Fall auch vgl. auch Gerhard L. Weinberg, World War II Scholarship, Now and in the Future, in: Journal of Military History 61 (1997), 342f.

(21) Neal H. Petersen (Hg.), From Hitler’s Doorstep. The Wartime Intelligence Reports of Allen Dulles, 1942-1945 (University Park, PA: Pennsylvania State UP 1996), Document 3-91, 267f. Petersen ediert einen Teil der Scheiben von Allen Dulles nach Washington, die auf Kolbe/Wood Informationen beruhen.

(22) Klemens von Klemperer, German Resitstance Against Hitler. The Search for Allies Abroad, 1938-1945 (Oxford: Clarendon 1992), 400, Fn. 52.

(23) Peterson, Hitler’s Doorstep; Juergen Heideking/Christof Mauch (Hgg.), Geheimdienstkrieg gegen Deutschland (Goettingen: V&R 1993); dies. (Hgg.), USA und deutscher Widerstand. Analysen und Operationen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg (Tuebingen: Francke 1993); Christof Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich im Visier der amerikanischen Geheimdienste 1941-1945 (Stuttgart: DVA 1999).

(24) Lawrence H. McDonald, The Office of Strategic Services. America’s First National Intelligence Agency, in: Prologue 23 (1991), 7-24, 7. Dieser Artikel erlaeutert die Ueberlieferungsgeschichte des Materials in RG 226.

(25) Der Breitman/Naftali Bericht nennt die Namen Dumont, Frl. von Heimerdinger und Pohle.

(26) RG 226, Entry 178, Box 4, Document 641.

(27) RG 226, Entry 109, Box 9, Document 1042. Dieses Gespraech fuehrten ein Marineoberstabsrichter Former sowie ein Oberst Wildermuth, Festungskommandant von Le Havre, an anderer Stelle identifiziert als Eberhard Wildermuth und damit wohl identisch mit Adenauers spaeterem Wohnungsbauminister (FDP), einer Schluesselfigur in der Planungsphase der Wiederbewaffnung.


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Astrid M. Eckert <aeckert@zedat.fu-berlin.de>
Subject: Nazi War Crimes Disclosure Act
Date: 30.06.2000

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