Diskussion: "Historiker im Nationalsozialismus"

Kommentar von Prof. Dr. Jürgen Kocka in der
Sektion "Deutsche Historiker im Nationalsozialismus"
42. Deutscher Historikertag, Frankfurt/Main, 10. Sept. 1998

Vorbemerkung

An der von Otto Gerhard Oexle und Winfried Schulze geleiteten Sektion nahmen Peter Schöttler, Pierre Racine, Götz Aly, Michael Fahlbusch und Mathias Beer mit Referaten teil, an die sich mein "Kommentar" anschloß. Die Beiträge werden zur Veröffentlichung im Fischer Verlag vorbereitet. Nachdem über meinen Kommentar nicht immer korrekt berichtet worden ist, und die Diskussion über das Thema anhält, möchte ich die Schriftfassung meines "Kommentars" vorweg zur Diskussion stellen. Er konnte in Frankfurt aufgrund des Zeitmangels nur gekürzt und zusammengefaßt vorgetragen werden. Die Anmerkungen des folgenden Textes wurden nachträglich angefügt. Stellungnahmen sind willkommen. 15.10.98, J.K.

I.

So deprimierend die Befunde der fünf vorangegangenen Vorträge sind, so sehr ist zu begrüßen, daß sie erarbeitet wurden und das Forum des Historikertags erreicht haben. Es war höchste Zeit.(1)

Die hier vorgestellten Arbeiten und andere Forschungen, die in letzter Zeit abgeschlossen wurden oder demnächst beendet werden, verändern mit ihren Ergebnissen das vorherrschende Bild vom Verhältnis der Historiker zum Nationalsozialismus. Sie werfen grundsätzliche Fragen zur Kontinuität zwischen Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik auf. Sie geben darüber hinaus Anlaß, Grundprobleme der Geschichtswissenschaft neu zu bedenken.

Viel besser als noch vor wenigen Jahren ist jetzt die aktive Nähe bzw. die Zugehörigkeit zahlreicher deutscher Historiker zum Nationalsozialismus und ihr entschiedenes Engagement für seine Politik, vor allem in der Kriegszeit, zu erkennen. Das liegt an der Öffnung von Archiven und Nachlässen, die früher nicht oder schwer zugänglich waren. Es liegt auch daran, daß sich die Forschung verstärkt der Tätigkeit außeruniversitärer Forschungsgemeinschaften, Arbeitsstellen und Unternehmungen (Expertisen, Denkschriften, Ausstellungen) zugewandt hat,(2) in denen Historiker sehr politiknah tätig waren. Sie arbeiteten insbesondere der nationalsozialistischen Bevölkerungs-, Siedlungs- und Deportationspolitik in den an Deutschland angrenzenden und nunmehr von Deutschland eroberten Gebieten zu - einer Politik, die völkischen Zielen folgte, rassistisch bestimmt war und seit 1941 teilweise in die Politik der Vernichtung von Juden, Slawen und anderen Opfern mündete.

Zugegeben, auch vor der Welle der jüngsten Forschungen wußte man, daß nur wenige deutsche Historiker in effektiver, klar demonstrierter Distanz zum Nationalsozialismus standen (soweit sie nicht vertrieben worden waren oder in anderer Weise verfolgt wurden). Spätestens seit den 1960er Jahren hatte sich die Sichtweise durchgesetzt, daß die meisten deutschen Historiker zwar nicht direkt Nazis waren, aber doch die Geschichte so national, konservativ oder in anderer Weise rechtsorientiert lehrten und schrieben, daß sie die Nazis nicht gleichschalten mußten: ein auch bisher schon sehr ernüchternder und durchaus beschämender Befund. Diese Sichtweise ist auch weiterhin nicht falsch.

Aber nun sieht man viel schärfer, daß viele - wie viele? - zumeist jüngere, eher der damals modernen "Volksgeschichte" als der herkömmlichen Politikgeschichte verbundene Historiker in ihrer Kooperation und Identifikation mit dem nationalsozialistischen System weitergingen und als freiwillige, engagierte und einfallsreiche Helfershelfer den Behörden und militärischen Stellen des nationalsozialistischen Staates dienten, mit deren Unterstützung arbeiteten, teilweise unter deren Leitung und in bezug auf Politikfelder, in denen die Inhumanität der nationalsozialistischen Diktatur voll in Erscheinung trat.

Diese bedrückenden Informationen erhalten dadurch zusätzliche Brisanz, daß Historiker, die später in der Bundesrepublik zu den Großen ihres Faches gehörten, offensichtlich tiefer und aktiver involviert waren, als man es früher wußte. Das Hauptinteresse richtet sich derzeit weniger auf den Verwicklungszusammenhang zwischen Geschichtswissenschaft und Nationalsozialismus insgesamt als vielmehr auf die Belastung, das Versagen, die Schuld einzelner Historiker. In den vorangehenden Vorträgen ging es u. a. um Hermann Heimpel, Otto Brunner, Franz Petri, Karl Dietrich Erdmann, Werner Conze und Theodor Schieder. Jeder Fall stellt sich, trotz unübersehbarer Gemeinsamkeiten, anders dar.

Über Petris tief reichendes Engagement besteht spätestens seit Karl Ditts grundlegenden Forschungen kein Zweifel.(3) Peter Schöttlers Beitrag zu dieser Sektion hat den Befund bestätigt, eindringlich ergänzt und als Teil einer breiten, nach Westen gerichteten, landesgeschichtlichen Bewegung im Dienst nationalsozialistischer Volkstumspolitik gezeigt. (4) Pierre Racine hat ein überzeugendes Referat über Hermann Heimpels wissenschaftlich-politisches Engagement in Straßburg gehalten. Heimpel gehörte zu den wenigen Historikern, die nach 1945 öffentlich über ihre Verstrickung reflektierten, jedoch eben doch nur zum Teil. Winfried Schulze erwähnte zu Anfang Karl Dietrich Erdmann. Nach der Lektüre der sehr genauen Dokumentation von Martin Kröger und Roland Thimme bleibt mein Eindruck sehr ambivalent. (5) Von Werner Conze waren seit den 1960er Jahren böse Zitate aus der NS-Zeit bekannt. Weitere hat Götz Aly bekannt gemacht, bedrückende Sätze in menschenverachtender Sprache, beispielsweise zur anstehenden "Entjudung" der übervölkerten Städte und Landstriche Osteuropas.(6) Das belastet Conze erheblich. Gleichzeitig ist als bemerkenswert festzuhalten, daß diese völkisch und antisemitisch getönten Anschauungen, die Conze in aktuell bezogenen publizistischen Beiträgen äußerte, auf seine wissenschaftlichen Hauptwerke nicht durchschlugen. Seine Dissertation über "Hirschenhof. Die Geschichte einer deutschen Sprachinsel in Livland" (1934) und seine Habilitation über die Agrarverfassung und die Bevölkerungsgeschichte des Großfürstentums Litauen (1940) genießen auch heute noch hohe fachwissenschaftliche Wertschätzung.(7)

Otto Brunner ist dagegen auch fachlich umstritten. Sein erstmals 1939 veröffentlichtes Hauptwerk "Land und Herrschaft" wurde von ihm für die Nachkriegsausgaben von belastenden Äußerungen gereinigt und retuschiert. Brunners ausgeprägtes nationalsozialistisches Engagement ist seit langem bekannt. Andere haben gezeigt, wie sehr die Nähe zum nationalsozialistischen Rechtsdenken Brunners Begriffswahl und die Architektur seiner Gedanken geprägt hat, mit starker Nachwirkung in der Nachkriegszeit.(8)

Am meisten hat sich seit 1993 mein Bild von Theodor Schieder geändert. Selbst wenn ihm die belastende "Polendenkschrift" vom 7. Oktober 1939 nicht voll zuzurechnen sein sollte (er fungierte als Protokollant und Formulierer der Ergebnisse eines von mehreren prominenten älteren Historikern geführten Gesprächs), zeigen die neu erschlossenen Quellen doch unerwartet viel Anbiederung und intellektuelle Unterstützung für die nationalsozialistische Bevölkerungs-, Expansions- und Deportationspolitik im Osten. Ihn als "Vordenker der Vernichtung" zu klassifizieren, geht gleichwohl zu weit.(9)

Das letzte Wort über diese Personen ist noch nicht gesprochen. Weiteres wird aus den Archiven bekannt werden. Wünschenswert wären ausführliche Biographien, die zeigen, welchen Stellenwert die pro-nationalsozialistischen Äußerungen und Engagements für Arbeit und Leben der betreffenden Historiker hatten. Dabei sollte es darum gehen, den Zusammenhang von Leben, Werk und Politik zu erforschen und die Bedeutung des politisch-ideologischen Engagements für das wissenschaftliche Werk zu erkunden und umgekehrt.

Das wissenschaftliche Werk rückt für die Referenten dieser Sektion (außer für M. Beer) leider ganz an den Rand. Es ist ein unbestreitbares Verdienst und uneingeschränkt zu begrüßen, daß Götz Aly lange unbekannte Äußerungen der Betreffenden aus den Akten zutage gefördert hat. Allerdings reicht es nicht aus, die belastenden Zitate collage-artig zusammenzustellen. (10) Als Historiker kann man nicht darauf verzichten, die einzelnen Äußerungen in ihren Zusammenhängen zu verstehen und die Akteure in ihrer Zeit zu behandeln, auch im Vergleich zu anderen und im Vergleich zu dem, was sprachlich damals gängig war. Manche der jetzt außerhalb des biographischen und semantischen Zusammenhangs mitgeteilten Äußerungen und Handlungen könnten dann andere oder doch zusätzliche Bedeutung gewinnen.(11)

II.

Wie und warum kam es zu dieser offenbar freiwilligen und eifrigen Kollaboration von Historikern mit dem nationalsozialistischen Projekt? Darüber sagen die hier vorgetragenen Referate wenig. Sicher spielten Opportunismus, Karrieredenken und eitler Genuß der Nähe zur Macht eine große Rolle. Vor allem bei den Älteren dürften weit verbreitete national-konservative Überzeugungen eine große Rolle gespielt haben, illiberale und antidemokratische Prägungen, die vor 1933 zur Ablehnung der Weimarer Republik und nach 1933 zur Unterstützung von großen Teilen des nationalsozialistischen Programms führten - in der Tradition eines Nationsverständnisses, das seit Jahrzehnten seine Hauptbasis auf der Rechten gefunden hatte und das den Werten der Freiheit und Pluralität fern stand. Besonders seit dem Ersten Weltkrieg war der Antisemitismus auch im Bürgertum weit verbreitet und trug dazu bei, zivilisatorische Sperren gegen die intellektuelle Vorbereitung gewaltsamer Exklusion zu schwächen. Vor allem für die Jüngeren galt überdies, daß sie von den radikalen Erneuerungsversprechen des Nationalsozialismus fasziniert wurden, von seinem Versprechen rücksichtsloser Modernität - sowohl in bezug auf die radikale und gewaltsame Neugestaltung der ethnischen Landkarte wie auch in bezug auf wissenschaftliche Neuerungen, wie sie sich z. B. in der "Volksgeschichte" der 20er, 30er und 40er Jahre abzeichneten.(12) Man diente dem nationalsozialistischen Projekt nicht nur aus anpasserischem Kalkül, sondern auch aus Überzeugung - auch wenn man nicht jedes Element der nationalsozialistischen Rhetorik und Praxis bejahte.

Von größter Bedeutung war dabei, das zeigen alle hier untersuchten Fälle, die prägende Erinnerung an das weithin als ungerecht empfundene "System von Versailles", das aus dem nicht akzeptierten Verlust des Ersten Weltkriegs und dem Diktat der Sieger hervorgegangen war und zu großen Gebietsabtretungen geführt hatte, in deren Folge zahlreiche "Volksdeutsche" außerhalb der deutschen Staatsgrenzen lebten. Als intellektuelle Verarbeitung dieser Enttäuschung - die Staaten (Österreich-Ungarn und Deutschland) zerbrachen als Kontinuitätsgaranten, nur "das Volk" schien den Historikern noch Kontinuität zu gewährleisten - und als historiographischer Protest dagegen war in den 1920er Jahren die "Volksgeschichte" entstanden, deren meist jüngere Vertreter die Geschichte von Migrationen, Siedlungsmustern, Bevölkerungsweisen, Lebensverhältnissen und Alltagskultur unter ethnischen Gesichtspunkten untersuchten und für viel wesentlicher hielten als die überkommene Staatengeschichte oder auch als die als esoterisch empfundene Geistesgeschichte Meineckes. Im Protest gegen die in den Pariser Vorortverträgen kodifizierten Folgen des Ersten Weltkrieges - dieser "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (G. F. Kennan) - wurzelte ein erheblicher Teil der verbreiteten Unterstützung für die nationalsozialistische Revisions- und Eroberungspolitik, obwohl diese immer auf sehr viel mehr zielte als auf die Revision von Versailles. Das galt auch und gerade für viele deutsche Historiker, die kräftig daran mitarbeiteten, daß das Erbe des Ersten Weltkriegs weiterwirkte und den Boden für den Zweiten Weltkrieg präparierte.

Es bestand eine tiefe Affinität zwischen großen Teilen des deutschen Bildungsbürgertums und dem Nationalsozialismus. Die Geschichte des deutschen Bürgertums und die Geschichte des Nationalsozialismus durchdrangen einander. An der Historiker-Kollaboration mit der nationalsozialistischen Volkstums- und Besatzungspolitik läßt sich das im einzelnen studieren.

Auch sollte nach kurz-, mittel- und langfristigen Folgen gefragt werden. Wie groß war die unmittelbare Wirkung der Historiker-Memoranden, -Gutachten und -Denkschriften auf die tatsächliche Politik der SS, der militärischen Stäbe und der Besatzungsbehörden? Wäre ohne sie die Eroberungs-, Zwangsumsiedlungs- und Ausrottungspolitik anders verlaufen? Ich vermute: kaum, doch ist dies eine offene Frage an die Referenten, als kontrafaktische schwer zu beantworten. Von der unmittelbaren Auswirkung her gewichtiger werden dagegen die zahlreichen Propagandareden, - schriften und -aktionen gewesen sein, die Historiker zur inneren Mobilisierung und Legitimierung des nationalsozialistischen Systems bis zum bitteren Ende beitrugen. Auch dazu enthalten die hier vorgetragenen Referate viel neue Information. Am wichtigsten aber dürfte unter den "Leistungen" der Historiker für den Nationalsozialismus gewesen sein, daß viele von ihnen in den Jahren zuvor durch ihre Lehre, mit ihren öffentlichen Äußerungen und in ihren persönlichen Verkehrskreisen eine intellektuelle Grundstimmung förderten, die die dafür empfänglichen jungen Bildungsbürger und Bildungsbürgerinnen in Distanz zu liberalen Prinzipien sozialisierte, sie Grundsätzen der Humanität entfremdete und auf jenen teils utopischen, teils nihilistischen Machbarkeitswahn vorbereitete, der für die nationalsozialistische Eroberungs-, Deportations- und Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg kennzeichnend war. (13) Davon handeln die hier zu kommentierenden Referate allerdings nicht.

III.

Eindringlich arbeiten sie dagegen die erdrückende Kontinuität heraus, die das nationalsozialistische Deutschland und die Bundesrepublik verbanden. Im Grundsatz ist zwar seit langem bekannt und wird vielfach kritisiert, daß es auch in der westdeutschen Geschichtswissenschaft keinen klaren Trennungsstrich zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegsentwicklung gegeben hat, jedenfalls nicht personell. Darin gleichen sich die Geschichte der Disziplin und die Geschichte der Bundesrepublik. Doch die neuen Forschungsergebnisse, insbesondere die aufschlußreiche Fallstudie Mathias Beers über die von Theodor Schieder geleitete "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa" zeigt diese Kontinuität in konkreter Anschaulichkeit und mir bisher unbekannten Details.  (14) Damit stellen sich Fragen, die der genaueren Diskussion bedürfen.

Zum einen: Pro-nationalsozialistische Äußerungen und Engagements von Aktivisten wie Petri, Heimpel und Schieder müssen nach 1945 unter Kollegen und anderen Zeitgenossen bekannt gewesen sein, von denen zumindest einige weder Nazis noch NS-Sympathisanten gewesen waren. Warum konnte es dennoch zu so langen Phasen des Beschweigens und gegenseitiger Rücksichtnahme kommen, in denen frühere Loyalitäten ziemlich ungebrochen weiterwirkten? Dies sollte als Teil der Geschichte der frühen Bundesrepublik diskutiert werden, für die dieses Beschweigen persönlicher Verwicklung und Schuld ja insgesamt typisch war, bei gleichzeitiger Abgrenzung von nationalsozialistischen Inhalten in Öffentlichkeit und Politik sowie bei gleichzeitiger Entfernung der nationalsozialistischen Führungselite im engeren Sinn (zusammen mit den nationalsozialistischen Institutionen). Welche Belastungen ergaben sich aus dieser Kontinuität für die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik? Wer und welche Strömungen wurden dadurch an den Rand gedrängt oder ausgeschlossen?

Zum anderen: Wie kam es, daß Historiker wie Conze und Schieder trotz - oder auch wegen? - ihrer belastenden, nie eingestandenen Geschichte im Nationalsozialismus in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu bedeutenden, aufbaustarken, innovativen Gestalten werden konnten, die viele traditionskritische, auch "linke" Historiker ausbildeten, die wissenschaftspolitische Weichen relativ liberal und vernünftig stellten und die durch gewichtige Veröffentlichungen bahnbrechend wirkten? Lag es etwa daran, daß ihre wissenschaftlichen Impulse und ihre intellektuelle Energie, ohne sich allzu stark zu verändern, unter neuen, jetzt liberal-demokratischen Rahmenbedingungen ganz andere Wirkungen zeitigten? (15) Ein irritierender Gedanke, in dessen Konsequenz die Verhältnisse als mächtig und die Wirkungsautonomie der Historiker als gering einzuschätzen wären. Oder änderten diese bei Kriegsende noch relativ jungen Historiker ihre wissenschaftliche, intellektuelle und politische Haltung, sei es aus Anpassung, sei es weil sie aus ihrer früheren Verwicklung in den braunen Ungeist und indirekt in die daraus folgenden Untaten produktive Konsequenzen zu ziehen vermochten - in vielen Lern-, Anpassungs- und Gestaltungsschritten, über die Jahre hinweg? Wenn ja, was befähigte sie dazu, welche Bedingungen erwiesen sich als förderlich für erfolgreiche Lernprozesse?

Diese Frage, die nach 1989/90 in Deutschland besonderes Interesse verdient, läßt sich vermutlich am ehesten biographisch studieren. Doch sie hat etwas Paradigmatisches an sich. Denn was hier in bezug auf Teile der westdeutschen Historiographie vor und nach 1945 kritisch-selbstkritisch zu diskutieren ist, gilt mutatis mutandis für die Bundesrepublik insgesamt. Denn sie hatte ja auch ihre braune Unterseite, sie hatte eine ihrer Wurzeln in der vorangehenden Diktatur. Zu ihrer Gründergeneration gehörten viele Personen, die durch braunes Engagement vor 1945 belastet waren, aber nach 1945 Entscheidungen mittrugen und durchsetzten, die mithalfen, aus der Bundesrepublik langfristig ein einigermaßen erfolgreiches Gemeinwesen westlicher Prägung in grundsätzlicher Differenz zur nationalsozialistischen Vergangenheit werden zu lassen. Wie kam es dazu? Wie konnte dies, trotz allem, gelingen? Das ist weiterhin ein großes Thema für die Geschichtswissenschaft und unser Selbstverständnis in der Bundesrepublik.

Auf diesem Hintergrund sollte man den Wandel genau studieren, der trotz aller offensichtlichen Kontinuität zustandekam, zum Teil allerdings erst viel später, in den sechziger Jahren. Am Beispiel der Sozialgeschichte: Es ist richtig, daß Anstöße aus der "Volksgeschichte" der dreißiger und vierziger Jahre in die Sozialgeschichte der fünfziger Jahre hineinreichten. Einige Praktiker jener "Volksgeschichte" - bei weitem nicht alle - hatten weiterführende methodische Ansätze entwickelt, wenn auch begrenzt und oftmals verzerrt von der völkischen Brille, durch die sie blickten. Antitraditionalistisch und weiterführend waren: (a) die interdisziplinäre Kooperation der Volkshistoriker mit Soziologen und Demographen (aber nur mit pointiert "deutschen" Vertretern dieser Fächer wie Freyer und Ipsen); (b) die Öffnung des Blicks auf Wirklichkeitsbereiche und Themen jenseits von Staat und Politik, die bis dahin in der akademischen Neuzeit-Historie kaum ernst genommen worden waren (allerdings meist völkisch verkürzt, auf ländliches Leben beschränkt, unter Betonung von Wanderungen, "Volkstumskämpfen", Siedlungsräumen und Volkskultur); und (c) gewisse Methoden, z. B. Statistik und Kartographie (die aber auch für Zwecke der Diskriminierung und vorauseilenden Selektion von Minderheiten benutzt werden konnten). Auch die später vor allem von Reinhart Koselleck erfolgreich weiterentwickelte Begriffsgeschichte hatte bei volkshistorisch geprägten Wissenschaftlern wie Otto Brunner bereits einen Platz. (16) Über einzelne Personen, wie Werner Conze und andere Mitglieder des von ihm in den fünfziger Jahren gegründeten Bad Emser, später Heidelberger "Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte", wirkten solche Anstöße auf die Sozialgeschichte der frühen Bundesrepublik ein.(17)

Trotzdem dominierten Wandel und Diskontinuität. Denn einerseits änderten sich die Beteiligten. Conze z. B. erarbeitete sich neue Themen und Methoden, neue Sichtweisen und neue Wertungen, rückte von Früherem ab. Der Wechsel von der Volksgeschichte der Nazizeit zur Struktur- und dann zur Sozialgeschichte der fünfziger Jahre war sehr viel mehr als ein opportunistischer Etikettentausch.(18)

Andererseits und vor allem: Was in den sechziger Jahren als Sozialgeschichte zur einflußreichen Minderheitsströmung wurde, sich als kritische Alternative zum herkömmlichen historistischen Paradigma verstand, Anfang der siebziger Jahre an der Universität Bielefeld unter dem Stichwort "Historische Sozialwissenschaft" eine Art Mittelpunkt fand und in den folgenden Jahren vielfältig weiterentwickelt, verbreitet und neu geprägt wurde, war nur zum kleinsten Teil durch jene Traditionslinien bestimmt, die von den jungen Völkischen der zwanziger Jahre über Conze und Brunner bis in den Heidelberger Arbeitskreis von 1957 reichten. Viel wichtiger für die kritische Sozialgeschichte der sechziger, siebziger und achtziger Jahre waren dagegen Vorläufer, Vorbilder, Einflüsse und prägende Gestalten, die in ganz anderen Traditionen und politischen Zusammenhängen standen als die Volksgeschichte, nämlich: Karl Marx, Max Weber und Otto Hintze, zurückkehrende oder zurückwirkende Emigranten wie Hans Rosenberg, Felix Gilbert und Francis Carsten, die kritische Philosophie und Soziologie der Frankfurter Schule. Die damals jungen Sozialhistoriker kamen übrigens nur zum Teil von Theodor Schieder (den wir nicht als Sozialhistoriker zählten) und Werner Conze; zum großen Teil hatten sie bei Gerhard A. Ritter studiert, der mit der Tradition der Volksgeschichte so viel zu tun hatte wie diese mit den klassischen Traditionen gesellschaftskritischen Geschichtsdenkens: nämlich nichts.

Absolut zentral für die sich herausbildende Sozialgeschichte war seit den 60er Jahren die kritische Auseinandersetzung mit jenem Teil der deutschen Geschichte, zu dem die Volksgeschichte gehörte, nämlich mit der Katastrophe des Nationalsozialismus. Aber wir führten diese Auseinandersetzung kaum als Kritik an einzelnen Personen und ihrem Versagen im Nationalsozialismus, vielmehr als Kritik an Paradigmen, Deutungen und Methoden. Die sozialgeschichtliche Kritik am "deutschen Sonderweg" war dabei sehr wichtig. Eine neue Geschichtswissenschaft war das Ziel, und als Produkt von harten Konflikten (übrigens zum Teil auch gegen Conze) entstand die Sozialgeschichte als Historische Sozialwissenschaft.(19)

Es gab in der Geschichtswissenschaft - und auch in der Sozialgeschichte - keine Stunde Null. Das Erbe von vor 1945 wirkte weiter, belastend zumeist. Doch bisweilen gelang es, einiges davon an neue Bedürfnisse und Bedingungen anzuverwandeln. Seit den 60er Jahren vor allem wurde Altes zunehmend beiseite gedrängt, ersetzt oder doch gründlich umgestaltet - durch Neues, das andere Traditionslinien besaß oder sich schaffte. Die kritische Erinnerung an die alten Belastungen konnte als mächtiger Antrieb für die Bemühung um Neues wirken, auch und gerade dann, wenn die Auseinandersetzung nicht ad personas geführt wurde. Das gilt für die Geschichte der Bundesrepublik wie ihrer Geschichtswissenschaft. Erst aus dem größeren zeitlichen Abstand von heute erkennt man die ganze Ambivalenz.

IV.

Die Unterstützung des Nationalsozialismus durch hervorragende deutsche Historiker wirft grundsätzliche moralische und erkenntnistheoretische Fragen auf, die abschließend nur noch angedeutet werden können. Unter den "Volkshistorikern" war kein Heidegger und auch kein Carl Schmitt. Trotzdem läßt sich an der Volksgeschichte eine nicht seltene Dialektik von ideologischer Verblendung und intellektueller Produktivität beobachten. Die methodisch-paradigmatischen Neuerungen der Volksgeschichte und die völkischen Verblendungen ihrer Vertreter hingen eng zusammen. Politische Vernunft und wissenschaftlicher Fortschritt, Moral und Erkenntnis scheinen nicht zwingend aufeinander verwiesen. Auf der anderen Seite ergibt die genaue Analyse eben doch, daß völkische, rassistische bzw. nationalsozialistische Orientierungen im wissenschaftlichen Werk der betreffenden Historiker zu Blindstellen, Verzerrungen und anderen Defiziten führten, (20) während umgekehrt meiner Überzeugung nach die konsequente Anwendung historischer Blickweisen in unüberbrückbarem Gegensatz etwa zu rassistischer Geschichtsdeutung steht. Gute, professionell einwandfreie Geschichtswissenschaft ließe sich also nicht mit jeder praktisch-politischen Orientierung vereinbaren, Geschichtswissenschaft nähme also Schaden, wenn sie unter politischen Prämissen betrieben wird, die ihrer inneren Rationalität gravierend widersprechen. Fragen dieser Art drängen sich für die Angehörigen eines Faches auf, das sich bisweilen seiner angeblich unverzichtbaren Leistungen für die politische Kultur des Landes rühmt und beansprucht, daß historische Bildung gegen Unvernunft und Unmenschlichkeit politischer Praxis ein Stück weit schützt.

Trotz des Abstandes von fünfzig Jahren ist die hier verhandelte Problematik noch sehr die unsere. Die Kollaborationsberichte bedrücken und verstören. Auch wenn kein Schüler-Lehrer-Verhältnis und keine persönliche Verbindung zu den kritisierten Personen besteht (wie im Fall der allermeisten heute), ist man betroffen: als moralisches Wesen, als Deutscher, aber auch als Historiker, weil es Historiker waren, die - als Historiker - einer letztlich mörderischen und unmenschlichen Sache dienten.

Prof. Dr. Jürgen Kocka
Fachbereich Geschichtswissenschaften
Freie Universität Berlin
Koserstr. 20
D-14195 Berlin
Fax: 0049-30-8 38 35 40

e-mail: prokocka@zedat.fu-berlin.de


Endnoten:

(1) Die Problematik wurde, meines Wissens erstmals im größeren Kreis, auf einer Veranstaltung der von Hannes Siegrist und mir geleiteten "Arbeitsstelle für vergleichende Gesellschaftsgeschichte" an der FU Berlin am 9.6.1997 diskutiert. Die Veranstaltung trug den Titel "Die Volksgeschichte der NS-Zeit: Vorläuferin der Sozialgeschichte der Bundesrepublik? Werner Conze und Theodor Schieder in der Diskussion". Götz Aly, Willi Oberkrome und Peter Schöttler hielten Einleitungsreferate, daneben diskutierten Christoph Dipper und Ingo Haar, die Diskussionsleitung lag bei mir. Über die Veranstaltung wurde in der Presse berichtet, u. a. von Bodo Mrozek im "Tagesspiegel" vom 17.6.1997, u. d. T. "Hitlers willige Historiker? Streit um die Rolle der Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus". Danach schlug ich dem Verband der Historiker Deutschlands vor, die Thematik zum Gegenstand einer Veranstaltung auf dem nächsten Historikertag zu machen. Einen entsprechenden Vorschlag machte Hans-Ulrich Wehler.

(2) Dazu vor allem der sehr substantielle und auch empirisch neue Beitrag von Michael Fahlbusch zu dieser Sektion; sowie demn. ders., Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die "Volkdsdeutschen Forschungsgemeinschaften" von 1931-1945, Baden-Baden 1998.

(3) Vgl. Karl Ditt, Die Kulturraumforschung zwischen Wissenschaft und Politik.Das Beispiel Franz Petri (1903-1993), in: Westfälische Forschungen 46, 1996, S. 73-176.

(4) Siehe dazu bereits Peter Schöttler, Die historische "Westforschung" zwischen Abwehrkampf und territorialer Offensive, in: ders. (Hg)., Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt/Main 1997, S. 204-61.

(5)   Martin Kröger u. Roland Thimme, Die Geschichtsbilder des Historikers Karl Dietrich Erdmann. Vom Dritten Reich zur Bundesrepublik, München 1996.

(6) Vgl. Götz Alys Beitrag zu dieser Sektion; sowie ders., Macht, Geist, Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens, Berlin 1997, S. 153-183 (zu Conze bes. S. 161-169).

(7) Vgl. das Urteil Klaus Zernacks in seinem Nachwort zu Werner Conze, Ostmitteleuropa. Von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, München 1992, S. 238-248, bes. 240f, 243f.

(8) Vgl. Gadi Algazi, Otto Brunner - "Konkrete Ordnung" und Sprache der Zeit, in: Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft (wie vorn Anm. 4), S. 166-203; Valentin Groebner, Außer Haus. Otto Brunner und die "alteuropäische Ökonomik", in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46, 1995, S. 69-80.

(9) Entscheidend war die auf neuen Quellenfunden beruhende Veröffentlichung: Vorläufer des "Generalplans Ost". Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939. Eingeleitet und kommentiert von Angelika Ebbinghaus u. Karl Heinz Roth, in: 1999. Zeitschrift f. Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 1, 1992, S. 62-94. Ergänzend und zuspitzend: Götz Aly, "Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt/Main 1995, S. 16ff.; ders., Macht (wie oben Anm. 6), bes. S. 169-183. Die mir nicht bekannte, noch nicht veröffentlichte Dissertation von Ingo Haar (Halle) dürfte weitere einschlägige Informationen enthalten. - "Vordenker der Vernichtung" geht m. E. zu weit, weil zwischen Überlegungen zur Massendeportation und Überlegungen zum Massenmord wichtige Unterschiede bestehen. Schieder ist das erste nachzuweisen, das zweite nicht. Wie verbreitet Pläne und Praktiken der Massendeportation zwischen den frühen 20er Jahren und den späten 40er Jahren des 20. Jahrhunderts in Europa waren, hat Götz Aly selber erforscht, und zwar innerhalb eines von der Volkswagen-Stiftung von 1994-1996 unterstützten Arbeitsvorhabens in der "Arbeitsstelle für vergleichende Gesellschaftsgeschichte" (FU Berlin), das ich auf Vorschlag Alys beantragte und dann beraten habe. Es trug den Titel: Zwangsumsiedlung und "ethnische Säuberung" in Europa zwischen 1922 und 1950. Unter bes. Berücksichtigung der nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik. Vgl. den unveröffentlichten, von Aly vorbereiteten Abschlußbericht an die Stiftung vom März 1997. Es ist zu hoffen, daß die in Aussicht gestellte Veröffentlichung der Projektergebnisse noch zustande kommt. Inzwischen vgl. Aly, "Endlösung". Auch wenn man den Massenmord an den Juden so pointiert aus dem Scheitern der Zwangsumsiedlungen und den sich daraus ergebenden Zwangslagen ableitet, wie Aly das tut (und es bleibt umstritten), ist daran festzuhalten, daß die Planung von Massenumsiedlungen einerseits, die Planung und Durchführung des Holocaust andererseits nicht dasselbe und auch unter dem Kriterium der historisch-moralischen Schuld unterschiedlich zu gewichten sind.

(10) Als collage-artig habe ich Alys Verfahren kritisiert, einschlägige Zitate, die aus unterschiedlichen Zusammenhängen stammen, daraus zu lösen und ineinander zu blenden. Ich habe dies konkretisiert in Auseinandersetzung mit einem Stück seines (mir schriftlich weder damals noch heute vorliegenden) Vortrags, das sich aber in etwa auch in Aly, Macht (wie vorn in Anm. 6), S. 160f. u. 167 findet, wo Conzes Position umstandslos mit den Worten Ipsens expliziert wird, was unakzeptabel ist, weil zwischen beiden in bezug auf die rassistischen Denkansätze deutliche Unterschiede bestanden haben.

(11) Solche Kontextualisierung entspricht den Regeln geschichtswissenschaftlichen Arbeitens wie den Grundsätzen historischer Gerechtigkeit. Dagegen führt Kontextualisierung nicht zur Entschuldigung oder Verharmlosung. Sie macht den Befund in diesem Fall eher noch bedrückender, da sie voraussichtlich die weite Verbreitung von völkischen, antisemitischen und auch rassistischen Haltungen zeigt, wie auch die damit verbundene latente Bereitschaft zu gewaltsamen Eingriffen in die ethnische Struktur, die sozialen Verhältnisse und die politische Landkarte zum Zweck "ethnischer Flurbereinigung", nationalistischer Volkstumspolitik und imperialistischer Expansion. Die Kontextualisierung würde allerdings auch zeigen, daß es ausgeprägte Abstufungen und Unterschiede in der Unterstützung der nationalsozialistischen Ideologie und Politik gab, daß alternative Orientierungsmöglichkeiten bestanden und wer jenem Ungeist - in unterschiedlichen Graden - verfiel bzw. wer nicht.

(12) Dazu weiterhin am besten Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993.

(13) Dazu generell, wenn auch an anderen Beispielen: Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1930-1989, Bonn 1996.

(14) Vgl. den Beitrag zu dieser Sektion sowie auch bereits: Mathias Beer, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa", in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46, 1998, S. 345-389.

(15) Beers Ergebnisse lassen sich teilweise so lesen.

(16) Noch einmal sei auf Oberkrome verwiesen (wie vorn Anm. 12), eine Mitte der achtziger Jahre begonnene und Anfang der 90er Jahre beendete Bielefelder Dissertation, die dieses Gemisch von politisch-weltanschaulicher Verirrung und methodischer Innovationsfähigkeit als erste ausführlich analysiert hat. Vgl. auch J. Kocka, Ideological Regression and Methodological Innovation: Historiography and the Social Sciences in the 1930s and 1940s, in: History & Memory 2, 1990, S. 130-138. - Unbegründet ist die forsche Zurückweisung des von Oberkrome sorgfältig und mit vielen Differenzierungen erarbeiteten Ergebnisses durch Peter Schöttler in der Einleitung zu dem von ihm hg. Band "Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945" (wie vorn Anm. 4), S. 18f. Was die Analyse des inneren Zusammenhangs zwischen ideologischer Verblendung und methodischer Modernität mit "Entsorgung der deutschen Historiographie-Geschichte" (so K. H. Roth) zu tun hat, ist unerfindlich. Wer so simplifiziert, übersieht, daß eben dieser Zusammenhang, der auch in anderen Lebensbereichen auftrat, das nationalsozialistische Projekt nur um so attraktiver und gefährlicher machte.

(17) Vgl. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, S. 254-265, 281-301.

(18) Conze hatte sich vor 1945 fast ausschließlich mit der ländlichen Sozialgeschichte beschäftigt, seit den 50er Jahren bearbeitete er die "Strukturgeschichte des industriellen Zeitalters", bald die Geschichte des Proletariats und - als einer der ersten - die Geschichte der liberalen wie der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Die Beziehungen zwischen Klassen und Schichten wurden für ihn nun wichtiger als die Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen. Er setzte sich mit Braudels Ansatz und anderen westlichen Einflüssen auseinander. Einiges zu den Veränderungen von Conzes Ansatz (trotz aller Kontinuität) findet sich bei Wolfgang Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte. Das wissenschaftliche Lebenswerk Werner Conzes, in: GG 13, 1987, S. 244-266, bes. 250-256.

(19) Kenntnisreich und fair: Georg G. Iggers, The German Historians and the Burden of the Nazi Past, in: Dimensions. A Journal of Holocaust Studies 12, 1998, Nr. 1, S. 21-28, hier 25-28. Weiterhin die beste Darstellung der Entwicklung der Sozialgeschichte in der Bundesrepublik bis ca. 1975: ders., Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft, München 1978, S. 97-156. Dagegen ist die journalistische Berichterstattung zum Thema oft durch Unkenntnis getrübt. Beispielsweise macht die Stuttgarter Zeitung mich zum Schüler Theodor Schieders (am 15.9.98, S. 6) und "Der Spiegel" (39, 1998, S. 107) Werner Conze zu meinem "einstigen Mentor". Beides ist falsch.

(20) In bezug auf verschiedene Produkte der Volksgeschichte zeigt das Oberkrome (wie vorn Anm. 12), S. 159-166, pass. Ausführlich wurde dies an Otto Brunner gezeigt; vgl. vorn Anm. 8 sowie mit unterschiedlichen Folgerungen: Otto Gerhard Oexle, Sozialgeschichte - Begriffsgeschichte - Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners, in: VSWG 71, 1984, S. 305-341; Claudia Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des "ganzen Hauses", in: GG 20, 1994, S. 88-98; sowie demn. umfassend und die Wandlungen Brunners nach 1945 betonend: Reinhard Blänkner, Von der "Staatsbildung" zur "Volkswerdung". Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Alteuropa oder Frühe Moderne? Deutungsmuster aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik für das 16.-18. Jahrhundert in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Berlin 1999.


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: prokocka@zedat.fu-berlin.de
Subject: Diskussion: "Historiker im Nationalsozialismus"
Date: 13.10.1998


       

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