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Quelle - email <H-Soz-u-Kult>
From: Alex Martin (amartin@oglethorpe.edu) |
Liebe Kollegen und Kolleginnen,
ich moechte mich gerne Raimund Lammersdorfs Meinung anschliessen. In der Sprache eines Volkes drueckt sich dessen ganze Gedankenwelt aus, wie mir kuerzlich aus eigener Erfahrung klargeworden ist. Als Amerikaner schreibe normalerweise auf Englisch, aber eine meiner Veroeffentlichungen (ueber die deutsch-russischen Beziehungen waehrend der Heiligen Allianz nach 1815) habe ich auf Deutsch verfasst. Urspruenglich habe ich das nur deshalb unternommen, weil ich die dort behandelte Frage schon so lange auf Englisch bearbeitet hatte, dass ich sie langsam satt hatte. Auf Deutsch zu schreiben versprach daher etwas Abwechslung. Zu meinem Erstaunen aber sah das ganze Thema auf Deutsch irgendwie anders aus als auf Englisch, was ich darauf zurueckfuehre, dass die Ideen der Heiligen Allianz zum grossen Teil aus Deutschland kamen und dass die damalige russische Staats- und Gesellschaftsordnung und die Kultur der russischen Oberschicht der deutschen viel mehr aehnelten als der angelsaechsischen. Daher erschien der Gedanke der Heiligen Allianz auf Deutsch auch plausibler als auf Englisch. Das Vokabular einer Sprache traegt ja den ganzen historischen Ballast der jeweiligen Kultur mit sich herum; so kann sich z.B. der Ausdruck "Nazi" im Englischen sich nur schwer von der Erinnerung an alliierte Kriegspropaganda und zahllose Hollywood-Boesewichte befreien, waehrend der deutsche Begriff "Nationalsozialist" ganz anders, und nuancierter, klingt. Der Historiker ist eben auch Literat, weshalb die weite Verbreitung eines unverstaendlichen Spezialisten-Jargons ja so bedauernswert ist. Wenn Goethe, Moliere und Puschkin grundsaetzlich nur auf Englisch geschrieben haetten, waere der Welt einiges verloren gegangen. Vielleicht sollten wir Historiker aehnlich denken.
Die Frage des gesellschaftlichen Engagements des Historikers ist m.E. auch von grosser Bedeutung. Um einen wertvollen Beitrag zum oeffentlichen Dialog leisten zu koennen, muessen Historiker fuer das breite Publikum auch verstaendlich sein, sonst bilden sie am Ende eine Art isolierte Kaste, etwa wie der lateinsprechende mittelalterliche Klerus.
Die Antwort, aus meiner nordamerikanisch-angelsaechsischen Sicht, ist, dass die Franzosen voellig recht haben, die Rolle ihrer Sprache zu verteidigen. Die Deutschen sollten das Gleiche machen, statt dauernd zu versuchen, alles auf Englisch zu tun. Was sollen wir Auslaender denn auch aus Debatten wie dieser schliessen, wenn nicht, dass nicht einmal die Deutschen selber ihre Sprache fuer lernenswert--und ihre Kultur fuer kenneswert--halten?
Mit besten Gruessen,
Alex Martin
Oglethorpe University
Atlanta, GA, USA
AMartin@Oglethorpe.edu
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