Archivische Bewertung

Zunaechst einmal moechte ich mich bei allen entschuldigen, die laengst schon eine Entgegnung von mir erwartet hatten. Leider habe ich nicht die Zeit gehabt, frueher zu antworten. Ich freue mich aber, dass meine kleine Anmerkung dazu gefuehrt hat, dass wir eine Diskussion ueber archivische Bewertungskriterien begonnen haben, denn Klaus Graf hat voellig recht damit, dass die Fachdiskussion der Archivarinnen und Archivare in zu engen Bahnen verlaeuft.

Nun aber zur Frage der Bewertungsgrundsaetze von Massenschriftgut wie Kassenbelegen. Wilfried Witte hat ja die berechtigte Frage gestellt, welche Konzepte eigentlich hinter den Kassations- (d.h. Vernichtungs-) Entscheidungen eines Archivars stehen. Es scheint mir bisweilen der Eindruck vorzuherrschen, dass hier willkuerliche Entscheidungen darueber stattfinden, welche Materialien in kuenftigen Jahrhunderten als Quellen zur Verfuegung stehen und welche direkt in den Reisswolf wandern.

In der Tat ist ein Archivar bzw. eine Archivarin in seiner/ihrer Kassationsentscheidung etwa genauso frei wie ein Lehrer in der Gestaltung seines Unterrichts. D. h. es gibt sehr wohl einen beruflichen Grundkonsenz, der in unserem Berufsstand vornehmlich dadurch gefoerdert wird, dass es fuer leitende Archivbeamte ausserhalb Bayerns nur die eine Ausbildungsstelle an der Archivschule in Marburg gibt, aber es gibt keine verbindlichen Richtlinien ueber Einzelentscheidungen. Natuerlich ist eine so offene Situation nicht foerderlich fuer die Professionalisierung eines Berufsstandes, und daher gibt es auch theoretische Konzepte. Das nach meiner Meinung weltweit am meisten akzeptierte ist das des amerikanischen Nationalarchivars Theodore Schellenberg. In aller verzerrenden Verkuerzung wiedergegeben besagt die Theorie Schellenbergs, dass es bei der Entscheidung fuer die Archivwuerdigkeit von Verwaltungsschriftgut in erster Linie auf den _Evidenzwert_ (evidential value) ankommt. Das bedeutet, dass ein Archivar, der ja immer in seiner Taetigkeit auf eine bestimmte Institution bezogen ist, nur dann Materialien archiviert, wenn in ihnen Verwaltungshandeln dieser Institution sichtbar wird. Der Inhalt der Akten spielt dabei zunaechst einmal keine Rolle, denn es soll ja gerade vermieden werden, dass die subjektive und situativ bedingte Interessenlage des bewertenden Archivars/der Archivarin die Auswahl bestimmt und somit Quellenaussagen, die nicht von dieser Interessenlage abgedeckt werden, vernichtet werden. Inhaltliche Entscheidungen (d.h. eigentlich Entscheidungen, die nicht vom Inhalt der Akte sondern von externen Gesichtspunkten getragen werden) laesst Schellenberg nur als Ausnahme zu. Er spricht dann von _informational value_- Das liegt dann vor, wenn eine Akte unter dem Gesichtspunkt des Evidenzwertes nicht archivwuerdig ist, aber durch Informationen, die in ihr enthalten sind, politische oder gesellschaftliche Sachverhalte (die vielleicht nichts mit der Akte selbst zu tun haben) dokumentiert werden. Schellenberg fordert, dass sichergestellt sein muss, dass die Information nicht anderswo, wo man sie eher vermutet, schon gesichert ist. Das ist ein schwieriger Grenzbereich, denn es setzt voraus, dass die Person, die ueber die Kassation von Unterlagen zu entscheiden hat, ueber die archivischen Prinzipien hinaus einen so profunden Ueberblick ueber gesellschaftliche oder politische Zusammenhaenge hat, dass ihr Dinge auffallen, die aus den Akten selber nicht unmittelbar hervorgehen und auch nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Verwaltungsgeschichte der Institution stehen, aus der die Akten stammen. Wenn diese Materialien aber die einzige Quelle sind, die es ueber bestimmte Sachverhalte gibt, sind sie aufzubewahren (insofern gebe ich Hans Michael Kloth recht und muss meine spontan geschriebene Anmerkung zu Beziers Rezension revidieren: ich haette einem Bestand _Sonderkonten Kirchenfragen_ auch einen hohen Informationswert eingeraeumt. Es waere nun wirklich interessant zu wissen, wie das fragliche Landesarchiv seine Kassation begruendet hat)

Schellenbergs Versuch, die Kassationsentscheidung von der Willkuer zu befreien, ist nicht unumstritten. Gerade in Deutschland, wo die Archivare mir eher theoriefeindlich erscheinen, wird er weitgehend nur von den Juengeren zur Kenntnis genommen. Aber hier existierende Modelle sind aehnlich. So geht das Bundesarchiv nach dem Prinzip der Federfuehrung vor, um die Archivwuerdigkeit festzulegen. Das erscheint mir ein aehnlicher Gedanke wie der Evidenzwert. Auch das PIVOT-Projekt des niederlaendischen Reichsarchivs, das nach Zustaendigkeiten orientiert die Archivierungsschwerpunkte vorab festlegt, scheint mir in diese Richtung zu gehen. Allen Bemuehungen gemeinsam ist die Suche nach Systemen, die fuer alle beliebigen wissenschaftlichen Fragestellungen der Zukunft offen bleiben und nicht das zufaellige Interesse z.B. eines 38-jaehrigen verheirateten rheinischen Universitaetsarchivars zum Massstab machen.

Das eigentliche Problem bei einer Theorie wie der oben sehr verkuerzt wiedergegebenen ist der Umgang mit den sogenannten _massenhaft gleichfoermigen Unterlagen_, kurz _Massenakten_. Dazu gehoeren auch die Kassenbelege, mit denen die Diskussion ihren Ausgang nahm (wobei Gerhard Besier uebrigens von Kassenbuechern sprach, was nicht dasselbe ist). Hier wird der Quellenwert der Akte entweder sehr hoch veranschlagt (Beispiel Personalakte) oder aber sehr niedrig (Beispiel Beihilfeakte). Das wird besonders krass, wenn solche Akten nicht deswegen historisch interessant sind, wofuer sie geschaffen wurden, sondern wenn sie ihre Informationen sozusagen _gegen den Strich_ preisgeben. Holger Kuehnle hat in seiner Kritik an meinem Beitrag auf ein solches Beispiel hingewiesen, die Funde von 500 Jahren alten Kassenbelegen aus Dunhuang. Da ich diese nicht kenne, nehme ich als Beispiel die 500 Jahre alten Kassenbelege aus dem rheinischen Herzogtum Juelich, die als einzige Quelle uns heute Hinweise auf die Anfaenge der Hexenverfolgung in diesem Raum geben. Das heisst: Diese Amtsrechnungen werden heute nicht erforscht, um das Finanzwesen des alten Herzogtums zu untersuchen, sondern um voellig andere Informationen dort zu finden. Warum? Weil es eben an der Wende zum 16. Jahrhundert keine systematische Archivierung von Hexenprozessakten in Juelich gegeben hat, die uns heute diese muehevolle Arbeit ersparen wuerde. Haetten wir sie, kaeme wohl kaum jemand auf die Idee, dieselben Informationen - nur in weit komprimierterer Form - noch einmal aus den Rechnungsbuechern zu erheben. Die Quellenarmut der fruehen Neuzeit macht also etwas wertvoll, was bei geordneter Ueberlieferung anderswo mit weit hoeherem Informationsgehalt aufbewahrt sein muesste. Und heute? Heute stehen wir einer exponentiell steigenden Flut von Massenunterlagen gegenueber, die von ebensovielen aussagekraeftigen Sachakten begleitet werden. Jedes einzelne Blatt dieser Millionen von Massen-Vorgaengen ist saeurehaltig, wird also austrocknen, bruechig werden und irgendwann im naechsten Jahrhundert mit hohem Aufwand alterungsbestaendig gemacht werden muessen oder aber schlicht zerbroeseln. Archivierungsentscheidungen auf Zeit gibt es aber nicht. Jedes Schriftstueck, das einmal als archivwuerdig erklaert worden ist, wird fuer Jahrhunderte mit allem dafuer notwendigen Aufwand aufbewahrt werden muessen. Gemessen an dem Zweck, fuer den sie entstanden sind, sind die Informationen von Massenunterlagen wie Kassenbelegen redundant. Das schliesst nicht aus, dass sich darin Informationen verbergen koennen, die in anderen Zusammenhaengen wie z.B. Biographien wertvoll sein koennten (etwa das Zahlen eines Bussgeldes wegen falschen Parkens durch Helmut Kohl). Wenn aber das zu bewertende Material (naemlich die Bussgeldbescheide) fuer die Dokumentation der Geschichte der aktenproduzierenden Stelle (naemlich der Bussgeldstelle) gar nicht relevant sind, weil deren Geschichte in den Sachakten viel ausfuehrlicher aufgehoben ist, stelle ich mir die Frage nach der Verhaeltnismaessigkeit des Aufwandes angesichts von Millionen dafuer zu archivierender Einzelbelege sehr wohl. Vielleicht wird die Erforschung der Geschichte der Bundesrepubilk Deutschland in 500 Jahren auch ohne dieses Knoellchen auskommen koennen.

Thomas Becker
tombeee@aol.com
Universitaetsarchiv Bonn


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Thomas Becker <TomBeee@aol.com>
Subject: Archivische Bewertung
Date: 05.11.1997 17:31 Uhr


       

Copyright ©1996-2002, H-Soz-u-Kult · Humanities · Sozial- und Kulturgeschichte

Diskussionen