Re.: Besier über Beier / Diskussion über Archivwuerdigkeit

Es ist schon einigermassen erstaunlich, wenn Belege über Zahlungen der staatlichen Organe einer Diktatur (in diesem Fall der Raete für Inneres, Abteilungen für Kirchenfragen) an die einzige unabhaengige und potentiell oppositionelle Institution, die unter dem Regime existiert (in diesem Fall die Kirche) als nicht archivwuerdig eingestuft und kassiert werden. Unbenommen materieller, raeumlicher etc. Probleme, die zur Kassation zwingen, fehlt hier nach meiner Erfahrung oft die Sensibilitaet dafuer, dass das, was in einem demokratischen System als nicht archivierungswuerdiger Verwaltungsakt erscheinen mag, in einer Diktatur eine ganz andere und - wie in diesem konkreten Fall - hochpolitische Dimension haben kann. Es kann hier nicht nach Schema F aus dem Archivars-Handbuch vorgegangen werden, sondern es muss unter dem Aspekt der Aussagefaehigkeit hinsichtich der Funktionsmechanismen der Dikatur bewertet werden.

Auch in anderer Hinsicht ist die archivarische Aufarbeitung der DDR-Gechichte in vielerlei Hinsicht sehr problematisch. Die auf die preussische Archivtradition zurückgehende, weitgehende Fixierung auf Verwaltungsueberlieferungen führt dazu, dass die Partei- und Staatsakten (z. B. MfS) in wohlgeordneten und gutausgestatteten Archiven (Bundesrachiv, Parteienarchive, Gauck-Behoerde) liegen, w=E4hrend die politikgeschichtlich und demokratiegeschichlich ungeheuer bedeutsamen Selbstzeugnisse aus Widerstand und Opposition gegen die Diktatur von den traditionellen Archiven nicht gesammelt werden. Diese wertvollen Quellen liegen zu grossen Teilen noch in den Kellern der damaligen Akteure und werden wohl irgendwann in das Altpapier wandern. Es gibt nur eine Handvoll von chronisch unterfinanzierten Privatarchiven (die beiden bekanntesten duerften das Matthias-

Domaschk-Archiv in Berlin und das Archiv Buergerbewegung e. V. Leipzig sein), die versuchen zu retten, was zu retten ist, jedoch nicht die Mittel haben, um gefaehrdete Bestaende wie Kohledurchschlaege und Ormic-Abzuege zu sichern oder gar zu restaurieren Diese Archivierungspolitik hat natuerlich Folgen: Weil es nicht nur unendlich viel mehr staatliches Quellenmaterial aus der Dikatur gibt (allein 180 Kilometer MfS-Akten), sondern dieses im Gegensatz zu oppositionellen Selbstzeugnissen auch noch leicht zugaenglich ist, gibt es (a) einen quantitativen Bias, d. h. es wird schon allein deshalb mehr über das Regime als über die Opposition geforscht weil mehr Material da ist (hier wirkt sozusagen das Saye'sche Gesetz der historiographischen Produktion) und (b) einen qualitativen Bias, weil gerade die Geschichte der Opposition zu grossen Teilen aus den oft problematischen Staats- (insbesondere MfS- ) Akten geschrieben wird. Waehrend die Historikerzunft also einerseits Krokodilstraenen darueber vergiesst, dass sie die Geschichte der Inquisition nur als Herrschaftsgeschichte aus deren Akten schreiben kann, weil es keine Selbstzeugnisse der Opfer gibt, passiert voellig ohne Not etwas aehnliches mit der Geschichte von Widerstand und Opposition in der DDR.

HANS MICHAEL KLOTH


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Hans Michael Kloth <samisdat@compuserve.com>
Subject: Re: REZ: Besier ueber Beier
Date: 25.10.1997 08:34 Uhr


       

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