Hans Michael Kloth hat die Forderung aufgestellt, dass die Archive sich nicht nur um die staatliche Ueberlieferung kuemmern sollen. Darin moechte ich ihn ausdruecklich unterstuetzen. Das Selbstverstaendnis der Archive hat sich aber - zumindest in den alten Bundeslaendern - schon laengst in diese Richtung gewandelt. Das Hauptstaatsarchiv Duesseldorf z.B. hat eine seiner vier Abteilungen ausschliesslich fuer Sammlungsgut, d.h. fuer groesstenteils nichtstaatliche Materialien. Immer schon haben sich Archive fuer Nachlaesse interessiert. Auch anderes Material, das nicht aus Verwaltungen stammt, gehoert laengst fest in den Sammelbereich von Archiven: Bilder, Postkarten, Tagebuecher, Privatbriefe, Flugblaetter, Plakate. Das Problem ist das der personellen Ausstattung: Nichtstaatliches Archivgut ist aeusserst zeitintensiv, denn es gibt keine definierten Aufbewahrungsfristen, keine regelmaessigen Aussonderungen etc. Trotzdem machen sich staatliche, kommunale und universitaere Archive diese Arbeit. Allerdings stehen sie in der scharfen Konkurrenz mit anderen Dienststellen in einer Zeit immer knapper werdender Haushaltsmittel und immer genauerer Taetigkeitskontrollen. Und da muss man einfach sehen, dass die Uebernahme staatlichen Schriftgutes eine gesetzlich verordnete Pflichtaufgabe der Archive ist, fuer die sie Haushaltsmittel und Personal beanspruchen duerfen. Das Sammeln nichtstaatlicher Dokumente ist es nicht. Da darf es nicht verwundern, dass Archive ihre Aktivitaeten lieber in Richtungen lenken, die ihren Dienstherren plausibler erscheinen. Was folgt daraus? Einerseits halte ich es fuer wichtig, Sensibilitaet im politischen Raum zu schaffen, die dazu fuehrt, dass Dokumentationsstellen - mit oder ohne Anbindung an Archive - geschaffen werden. Fuer die NS-Zeit haben wir das ja schon in einigen Staedten erreicht. Darueber hinaus rate ich dazu, die Zusammenarbeit mit Archiven zu suchen, um dezentral mit ehrenamtlichen Kraeften unter Anleitung von ArchivarInnen und mit professionellen Materialien Unterlagen (z. B. oppositioneller Gruppen und Personen) zu sammeln, zu entmetallisieren, zu verzeichnen und saeurefrei zu lagern. Ich selber bemuehe mich an der Uni Bonn um ein solches Modell fuer die Ueberlieferung von studentischen Gruppen, AStA, Instituten oder privaten Sammlungen. Ein Koenigsweg ist das in Hinblick auf die ehemalige DDR nicht, vor allem, weil die Politik so aus ihrer Verantwortung entlassen wird, aber aus taktischen Erwaegungen halte ich das blosse Vorhandensein fertig verzeichneter und verpackter Bestaende ein Druckmittel, das im politischen und staatlichen Bereich etwas bewegen kann, und aus praktischen Erwaegungen scheint mir eine solche von Staatsarchiven mitgetragene Selbsthilfe ein Schutz davor zu sein, dass die Materialien, um die es geht, ueberhaupt noch vorhanden sind, wenn dereinst die politischen Mehrheiten fuer den Aufbau solcher Dokumentationsstellen entstanden sind.

Thomas Becker


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Thomas Becker <TomBeee@aol.com>
Subject: Re: Archivische Bewertung
Date: 07.11.1997 12:09 Uhr


       

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