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Internationales Symposium Gedaechtnis und Restitution
Ueber historische Erinnerung und materielle Wiederherstellung in Europa
21. - 23. Juni 2001, Wien
Veranstalter:
Simon-Dubnow-Institut fuer juedische Geschichte und Kultur (Leipzig)
Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften (Wien)
Europa konstruiert sich aus gemeinsam reklamierten Vergangenheiten seiner
Geschichte, nicht zuletzt aus jenem Ereigniszusammenhang, der den Zweiten
Weltkrieg umfasst. Dieses Ereignisgeflecht scheint in der Tat fuer das sich
vereinigende Europa so etwas wie die Bedeutung eines Gruendungsereignisses
einzunehmen. Die fortwaehrende Bedeutung des Weltkrieges fuer ein europaeisches
Gedaechtnis ist weniger verwunderlich, als dies auf den ersten Blick scheinen
mag. Schliesslich entsprang der Gruendungsimpuls der Europaeischen Einigung
der kontinentalen Katastrophenerfahrung von Nationalismus und Krieg.
Diese urspruenglichen Motive des europaeischen Einigungsgedankens sind in
der bald darauf sich einstellenden Zeit des Kalten Krieges in Vergessenheit
geraten. Fuer die weiteren Schritte zur Einigung Europas schien es zu genuegen,
den Ost-West-Gegensatz seine neutralisierende Wirkung auf die
(west-)europaeischen Völker tun zu lassen. Mit dem Ende des ideologisch
und machtpolitisch begruendeten Gegensatzes zwischen Ost und West treten
die Konturen der fruehen Motive wieder staerker zum Vorschein - mit dem
Unterschied freilich, dass sich in der Zwischenzeit eine merkliche Verschiebung
in der Wahrnehmung der katastrophischen europaeischen Geschichte eingestellt
hat. Weniger die Weltkriege - oder genauer - weniger der 2. Weltkrieg als
eine zwischen nationalistisch exaltierten Nationen gefuehrte Feldschlacht
um Hegemonie und Ueberlegenheit steht im Zentrum von Erinnerung und Eingedenken,
sondern der Holocaust.
Die negative europaeische Gemeinsamkeit in den Gedaechtniskulturen ist nicht
gleichlautend. Die jeweiligen Sub-Gedaechtnisse unterscheiden sich der jeweils
in der Zeit des Zweiten Weltkrieges gemachten kollektiven Erfahrung analog.
So unterscheidet sich das Gedaechtnis von mit militaerischer Macht eroberten
Gemeinwesen von solchen, die - ohne vom Krieg ueberzogen worden zu sein -
besetzt worden waren; diese wiederum von solchen, die mit Nazi-Deutschland
kollaborierten oder gar von solchen, die sich von der Furie des Krieges in
ihrer Neutralitaet behuetet glaubten. Jedenfalls bestimmen die jeweiligen
Unterschiede den Gedaechtnisdiskurs der Gegenwart. Und sie weisen heute den
jeweiligen Gemeinwesen vor der Kulisse der Vergangenheit ihren Ort zu.
Der historisch angeleitete Gedaechtnisdiskurs eber Nationalsozialismus und
Holocaust bestimmt nicht nur Bedeutung, Profil und raeumliche Ausdehnung
eines
gesamteuropaeischen Gedaechtnisraumes ebenso wie Teilhabe und Teilnahme an
einer sich herausbildenden europaeischen Wertegemeinschaft menschenrechtlichen
wie antigenozidalen Charakters. Er bestimmt auch den Rhythmus einer nach-holenden
Entwicklung, den Opfern der Vergangenheit materiell
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. So ist offenkundig geworden, wie der
virtuell anmutende Diskurs um Gedaechtnis und Erinnerung zunehmend Realien
nach sich zieht. Zwar sind die Entschaedigungsfragen nicht zuletzt mit der
nach 1989 erfolgten Aufhebung von Sozialisierungen in den ehemaligen
Volksrepubliken verbunden gewesen - doch wird etwa zunehmend deutlich, dass
die Restitution von ehemals sozialisiertem Privateigentum die darunter
liegenden Schichten von Arisierungen und im ethnischen Sinne erfolgten
Nationalisierungen aufs Neue evoziert. Dies bezieht sich nicht allein auf
vormals juedisches Eigentum, sondern bezieht auch solche urspruenglich
privateigentuemlichen Werte mit ein, die in den Prozessen von Vertreibung
und
ethnischer Homogenisierung nationalisiert worden waren.
Insofern soll der gesamte Komplex von Opferschaft waehrend und im Gefolge
des 2. Weltkrieges zum Gegenstand dieser Tagung gemacht werden. Dabei sollen
die jeweils partikularen Gedaechtnisse in "Verhandlung" miteinander treten
und dabei Geschichte und Erinnerung im Diskurs von Anerkennung und Restitution
zur Sprache kommen. Dabei wird es unumgaenglich sein, die jeweiligen Opfer
von Flucht und Vertreibung in den Jahren 1945 bis 1947 vor dem Hintergrund
der Geschehnisse des 2. Weltkrieges durch das Mass des Holocaust hindurch
zu reflektieren.
Diesem Diskurs ueber "Gedaechtnis" und "Restitution" mit allen Folgen fuer
ein gemeinsames europaeisches Gedaechtnis als Grundlage einer europaeischen
Werteverfassung will eine vom Simon-Dubnow-Institut zu Leipzig und vom
Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften zu Wien ausgerichtete
internationale Konferenz nachgehen. Veranstaltungsort ist Wien; Zeitpunkt
ist das Datum der 60-jaehrigen Wiederkehr des nazi-deutschen Angriffs auf
die
Sowjetunion am 22. Juni 1941.
Auf der Konferenz sollen in mehreren Sektionen Historiker, Sozialwissenschaftler,
Kulturwissenschaftler, Philosophen, Rechts- und Politikwissenschaftler dem
Phaenomen von "Gedaechtnis" und "Restitution" im Verhaeltnis zu den Ereignissen
des 2. Weltkrieg und des Holocaust nachgehen. Letztendlich versteht sich
die Veranstaltung auch als Anstoss zu einer europaeischen Debatte um das
Selbstverstaendnis der zusammenwachsenden Union bzw. zu einer europaeischen
Wertedebatte und ihrer gedaechtnisgeleiteten Praeambel. Dies vor allem deshalb,
weil die Osterweiterung der Europaeischen Union Gedaechtnis-kulturen mit
einbezieht, denen eine andere Erfahrungsgeschichte eingeschrieben ist als
den zum vormaligen politischen Westen gehörenden Gemeinwesen. Die
Osterweiterung beruehrt insofern in fundamentaler Weise historische Gedaechtnisse
und Wertehaltungen, als sie eines Ausgleiches beduerfen, um sich institutionell
und gesamteuropaeisch rationalisieren zu koennen.
Sektion "Politische Gedaechtnisraeume": Darin soll den jeweiligen Geschichten
der Beschaeftigung mit dem Gruendungsereignis der neuesten europaeischen
Geschichte nachgegangen und dabei eruiert werden, ob und wie die jeweiligen
Realkonstellationen auf die Gedaechtniswirklichkeiten der Gegenwarten Einfluss
nehmen (Unterschiede zwischen unterworfene, besetzte, kollaborierende und
neutrale Staaten). Zudem gilt es das doppelte oder halbierte Leidensgedaechtnis
solcher Gemeinwesen zu befragen, die sowohl dem deutschen Nationalsozialismus
wie dem stalinschen Kommunismus unterworfen waren.
Sektion "Gedaechtnis und Eigentum": Darin sollen eher theoretisch angeleitete
Fragen von Gedaechtniskulturen und die Geltungsdauer von Anspruchszeiten
behandelt werde. Dabei duerfte vordergruendig die erkenntnisleitende Frage
stehen, welche Vorgaenge von Leid und Traumatisierung zu welchen Formen der
Verarbeitung fuehren. Dabei sollen die jeweils sich konstituierenden
Gedaechtniszeiten und die mit ihnen verbundene Ansprueche komparatistisch
behandelt werden (Unterscheidungen zwischen kriegerischer Gewalt, Genozid
und Massenvernichtung). Auch sollen durchaus solche Erfahrungen und
erarbeitungsformen herangezogen werden, die sowohl andere Zeiten wie andere
historische Raeume zum Gegenstand haben - etwa die Geschichte der Sklaverei
in Amerika oder die Gedaechtniswirkung der irischen Hungersnot im 19. Jahrhundert
England gegenueber.
Sektion "Wie viel Gedaechtnis braucht eine Europaeische Wertegemeinschaft?":
Darin sollen die wertbezogenen Folgen eines derartigen und letztendlich doch
konstitutiven Grossereignisses fuer die gegenwaertigen und zukuenftigen
europaeischen politischen Kulturen behandelt werden. Wieweit tragen die
Grossereignisse der europaeischen Gedaechtniskultur zur Konstitution einer
Wertegemeinschaft bei? In welchen ideellen und materiell verfassten
Institutionen schlagen sie sich nieder? Inwieweit koennen Restitutionen zu
einem notwendigen Ausgleich der partikularen Gedaechtnisse in einem
gemeinsamen europaeischen Gemeinwesen beitragen?
Forscherinnen und Forscher sind hiermit eingeladen, ihre Themenvorschlaege
bis 10. November 2000 in einem Abstrakt zu unterbreiten (max. eine
Seite). Die
Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch.
Senden Sie bitte Abstrakt sowie ein kurzes Curriculum Vitae an:
Prof. Dan Diner
Simon-Dubnow-Institut
Goldschmiedstr. 28
D-04103 Leipzig
Deutschland
Email:dubnow@rz.uni-leipzig.de
und an
Prof. Gotthart Wunberg
Internationales Forschungszentrum
Kulturwissenschaften
Danhausergasse 1
A-1040 Wien
Oesterreich
Email: ifk@ifk.ac.at
IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften
Danhausergasse 1
A-1040 Wien
Tel.: (+43-1) 504 11 26
Fax: (+43-1) 504 11 32
musner@ifk.ac.at
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