Humboldt-Universitaet zu Berlin
Institut fuer Geschichtswissenschaften
Prof. Dr. Pierangelo Schiera
Dr. Martin Kirsch

Freie Universitaet Berlin
Friedrich-Meinecke-Institut
Anne Kosfeld, M.A.

Konzeption zur Tagung

"Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft - Konstitutionalismus um 1900 im europaeischen Vergleich"

Die vielen im 19. Jahrhundert immer wiederkehrenden, unterschiedliche Laender ergreifenden "Verfassungswellen" (um 1799, um 1815, nach 1830, um 1848, um 1870), die die Geschichte des europaeischen Konstitutionalismus so deutlich praegten, schienen in den 40 Jahren vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs abzuebben. Die Verrechtlichung der politischen Handlungsbedingungen mit Hilfe einer Konstitution hatte sich von wenigen Ausnahmen abgesehen (Bulgarien, Russland) nicht nur in allen Laendern Europas durchgesetzt, sondern war auch in den Staaten mit einer laengeren konstitutionellen Tradition zur Ruhe gekommen. Gleichzeitig setzte die vermehrte Rezeption des Konzepts des Konstitutionalismus im islamisch gepraegten Osmanischen Reich und im fernoestlichen Japan ein. Innerhalb Europas gewann in der Zeit ab etwa 1870 bis 1914 die zuvor nur in Grossbritannien vollkommen durchgesetzte, parlamentarische Ausformung des Konstitutionalismus mehr und mehr an Boden (Frankreich, Norwegen, mit gewissen Einschraenkungen auch Italien und Belgien, spaeter dann Daenemark), ohne dass hierbei der Text der Konstitution eine Aenderung erfuhr, gleichwohl blieb die monarchische Variante des Verfassungsstaates noch die ueberwiegende Form in Europa.

Der Konstitutionalismus sah sich seit 1870 statt dessen verstaerkt den Problemen der Entstehung einer Massengesellschaft ausgesetzt. Die Gesellschaft hatte sich in vielen europaeischen Staaten im Verlaufe des 19. Jahrhunderts aufgrund der einsetzenden oder fortschreitenden Industrialisierung und Agrarreformen stark gewandelt, was mit einer schrittweisen Delegitimierung anfangs der staendischen Besitzstaende, spaeter der auf Besitz und Bildung beruhenden Privilegien einherging. Die damit verbundenen Schwierigkeiten des wechselseitigen Verhaeltnis von Verfassungsstaat und Gesellschaft liessen sich mit dem formalrechtlichen Konzept einer Konstitution allein nicht mehr loesen, vielmehr musste mit weiteren rechtlichen Regeln versucht werden, die politische Struktur einer Gesellschaft zu beeinflussen, aber auch in der umgekehrten Richtung versuchten bestimmte gesellschaftliche Gruppen sich den Verfassungsstaat dafuer nutzbar zu machen, ihre Interessen mit Hilfe des Rechts umzusetzen. Diese wechselseitigen Durchdringung von Verfassungsstaat und Massengesellschaft in den Staaten Europas soll unter drei verschiedenen Gesichtspunkten untersucht werden:

- erstens hinsichtlich der Entstehung eines politischen Massenmarktes im Rahmen des Konstitutionalismus;

- zweitens unter dem Blickwinkel, wie gesellschaftliche Probleme und Entwicklungen, die mit den Instrumentarien allein des Verfassungsrechts nicht greifbar waren, die Suche nach anderen rechtlichen Loesungen verursachten bzw. das Rechtsdenken im allgemeinen beeinflussten;

- drittens schliesslich in der Perspektive des Vergleichs und der Rezeption von Verfassungselementen innerhalb Europas, aber auch durch Rechtskulturen mit deutlich anderen Traditionen; denn in der Geschichte des Konstitutionalismus spielte die nachahmende oder aber auch ablehnende Orientierung an auslaendischen Modellen eine wichtige Rolle.

Der erste Zugang ueber die politische Kultur des Konstitutionalismus bietet sich deswegen an, weil sich durch die immer staerkere Einbeziehung groesserer Bevoelkerungskreise mit Hilfe des Wahlrechts die Handlungsbedingungen der Politik im Rahmen der Verfassung grundlegend wandelten. Es bedurfte einer staerkeren Vermittlung zwischen Waehlermassen und dem weit entfernten Zentrum der politischen Macht mit Hilfe von Parteien, die entsprechend einen bedeutendere Stellung innerhalb des Regierungssystems erlangten. Aber wie kamen hierbei das "moderne" Recht und die "traditionellen" Mechanismen der politischen Kultur (z.B. der Klientelismus) bei den Wahlen miteinander in Einklang? Gleichzeitig meldeten sich auch bislang von der Mitbestimmung ausgeschlossene gesellschaftliche Gruppen und forderten teils mit, teils ohne Erfolg das Recht zur politischen Partizipation ein. Zudem wuchs der nationalen Oeffentlichkeit eine immer groessere Bedeutung zu - entwickelte sie sich allmaehlich zur "vierten Gewalt" im Rahmen der Verfassung? Oder sollte man vielleicht besser sagen zu einer "dritten"? - denn eine politikbestimmende Verfassungsgerichtsbarkeit bildete sich am Ende des 19. Jhs. nur langsam aus.

Formelle, naemlich durch ein prozessuales Verfahren gesteuerte Loesungen von Verfassungskonflikten blieben damit in Europa um 1900 noch die Ausnahme. Eine wichtige Rolle spielten in dieser Zeit der Hochbluete des Nationalismus auch das Nations- und Staatsverstaendnis: Dies laesst sich etwa an dem Umgang multinationaler Reiche mit dem Problem der Einbeziehung breiterer Bevoelkerungskreise in den politischen Willensbildungsprozess ablesen, aber auch die Ausgestaltung der Gleichheitsrechte ist hierfuer ein Gradmesser, denn es hing u.a. auch von der Definition des Staatsbuergers ab, wer in der Gesellschaft ueber Rechte verfuegte und wer davon ausgeschlossen blieb.

Damit bewegt sich die Themenwahl bereits im Bereich der zweiten Herangehensweise, denn diese verschiebt die Perspektive hin zu den rechtlichen Reaktionen des Staates auf gesellschaftliche Entwicklungen und Problemlagen und seiner dabei einhergehenden Veraenderung. Die Ansprueche nach staerkerer sozialer Partizipation von Seiten der Arbeiterschaft wurden je nach Land mit Hilfe des Zivilrechts oder des oeffentlichen Rechts beruecksichtigt oder aber auch abgewehrt. Aber nicht nur die Sozialgesetzgebung, sondern auch die staatliche Regulierung der Wirtschaft waren Teil der anwachsenden Staatsaufgaben, die einerseits zu einer zunehmenden Buerokratisierung, andererseits zur Weiterentwicklung des Verwaltungsrechts fuehrte. Gleichzeitig setzte sich mit dem Positivismus auch im Bereich des Rechts eine neue Form des wissenschaftlichen Denkens durch, die aber die historische Bezugnahme in der Staatsrechtslehre nicht vollkommen verdraengen konnte.

Die dritte Herangehensweise stellt nicht nur methodische Ansaetze in den Vordergrund, sondern auch inhaltliche Probleme stehen hier zu Debatte. So ist etwa zu fragen, ob sich fuer die einzelnen Teilbereiche des Wechselverhaeltnisses von Konstitutionalismus und Massengesellschaft, wie z.B. Wahlrecht, Oeffentlichkeit, Sozialgesetzgebung, gemeineuropaeische Entwicklungsmuster erkennen lassen, oder es hingegen zu spezifischen nationalen "Loesungen" kam, die sich in anderen Staaten nicht wiederfanden. Welche Rolle spielte hierbei die Rezeption als Teil der Transfergeschichte zwischen den einzelnen Staaten Europas? Welche Laender sollen zu Europa gerechnet werden und kam es moeglicherweise zu einer "Angleichung" der "Peripherie" (Russland, Osmanisches Reich) an Mittel- u. Westeuropa oder bildeten sie vornehmlich eigene Rechtskreise aus, die etwa mit der Situation in Japan vergleichbar waren? Lassen sich schliesslich vielleicht auch fuer das generelle Thema der Tagung - der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft - europaeische Strukturen erkennen?

Vorlaeufiges Tagungsprogramm:

"Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft - Konstitutionalismus um 1900 im europaeischen Vergleich"

Ort:

Humboldt-Universitaet Berlin, Hauptgebaeude, Unter den Linden 6, 10099 Berlin

Zeitpunkt:

27.- 29. Januar 2000

Donnerstag, 27. Januar 2000, nachmittags 14.00-18.30 Uhr

Einfuehrung

Prof. P. Schiera, Berlin

I. Konstitutionalismus und politischer Massenmarkt

Prof. W. Siemann, Muenchen
Politischer Massenmarkt und nationale Oeffentlichkeit in Deutschland im transnationalen Vergleich - die Entstehung einer "vierten Gewalt"?
Kommentar: Dr. A. Schmidt-Gernig, Berlin

Dr. B. Bader-Zaar, Wien
Frauenwahlrechtsbewegung und Verfassungsstaat in Grossbritannien, Deutschland und Oesterreich im Vergleich
Kommentar: Prof. B. Mazohl-Wallnig, Innsbruck

PD Dr. Willibald Steinmetz, Bochum (angefragt)
Arbeitsrecht in Deutschland und England um 1900 im Vergleich
Kommentar: Prof. H. Kaelble, Berlin

Freitag, 28. Januar 2000

Vormittags, 9.00-13.00 Uhr

Dr. M. Kirsch, Berlin
Verfassungsrechtlicher Rahmen und politische Praxis - das Parteien- und Regierungssystem Frankreichs im europaeischen Vergleich
Kommentar: Prof. P. Pombeni, Bologna

M. Schacht, M.A., Berlin
Wahlen zwischen Recht und Beeinflussung: Italien und Preussen im Vergleich
Kommentar: Dr. M. S. Piretti, Bologna

Prof. J. Luther, Pisa
Vorstufen einer europaeischen Verfassungsgerichtsbarkeit um 1900 (insbesondere aus deutsch-italienischer Sicht)
Kommentar: Prof. D. Grimm, Berlin

Nachmittags, 14.30-18.30 Uhr

II. Gesellschaftliche Entwicklungen und Verfassungsstaat

Prof. D. Lieven, London
Politische Massen vor der Integration in den Verfassungsstaat - Russland, Oesterreich-Ungarn und Grossbritannien im Vergleich
Kommentar: PD Dr. R. v. Friedeburg, Bielefeld

Prof. O. Dann, Koeln
Gleichheitsrechte und Nation im Zeichen des ethnischen Nationalismus
Kommentar: Dr. D. Gosewinkel, Berlin

Ass.-Prof. M. Grandner, Wien
Aspekte der Gleichbehandlung und der Nationalisierung in der Entwicklung des Arbeitsrechts in Oesterreich und der Schweiz
Kommentar: Dr. M. Ricciardi, Torino

Samstag, 29. Januar 2000

Vormittags, 9.00-13.00 Uhr

Prof. R. Gherardi, Bologna
Fuer eine Disziplinierung der Demokratie. Europaeische Verfassungsmodelle in der "via media" des liberalen Italiens
Kommentar: Dott. M. Cioli, Berlin

Dr. C. Schoenberger, Frankfurt/M.
Rechtspositivistisches Denken und gesellschaftspolitischer Hintergrund - Oesterreich-Ungarn und Deutschland in Gegenueberstellung
Kommentar: Prof. G. Stourzh, Wien

A. Kosfeld, M.A., Berlin
Die historische Reflektion im staatsrechtlichen Denken - Deutschland und Grossbritannien im Vergleich
Kommentar: Prof. H. Boldt, Muellheim

Nachmittags, 14.30-18.30 Uhr

III. Der Blick anderer Rechtskulturen auf Europa

Prof. G. Bozkurt, Ankara
Europaeisierung der Verfassung? Das Osmanische Reich zwischen 1876 und jungtuerkischer Revolution
Kommentar: Prof. P. Heine, Berlin

Dr. P.-C. Schenck, Stuttgart
Die Rezeption europaeischer Verfassungselemente in Japan nach 1868
Kommentar: Prof. B. Martin, Freiburg

IV. Abschlussdiskussion:

Der Konstitutionalismus und die Herausforderung der Massengesellschaft - nationale Sonderwege oder gemeineuropaeische Entwicklungsmuster?

* * *

Mit Unterstuetzung des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici Napoli u. gefoerdert von der Volkswagen-Stiftung

Fuer Nachfragen und Anmeldungen bitte wenden an:

Dr. Martin Kirsch
Humboldt-Universitaet zu Berlin
Philosophische Fakultaet I
Institut f. Geschichtswissenschaften
Unter den Linden 6
D - 10099 Berlin
Tel.: +49-30- 2093 1746 o. 2236 / +49-30- 802 87 30
Fax.: +49-30-2093 2797
E-Mail: kirschm@geschichte.hu-berlin.de

Anne G. Kosfeld, M.A.
Freie Universitaet Berlin
FB Geschichts- u. Kulturwissenschaften
Friedrich-Meinecke-Institut
Koserstr. 20
D - 14195 Berlin
Tel.: +49-30-838 4532/ +49-521-880310
E-Mail: akosfeld@geschichte.uni-bielefeld.de oder akosfeld@zedat.fu-berlin.de


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Martin Kirsch" <kirschm@geschichte.hu-berlin.de>
Subject: Tagung: "Verfassungsstaat um 1900..." / Berlin - 01/2000
Date: 13.01.2000


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