BRD und DDR zwischen Nachkrieg und Vorwende
Tagung 2. - 3. Dezember 2000, Berlin
Heinrich Boell Stiftung Netzwerk historisch arbeitender Frauen
Die Suche nach neuen Wertvorstellungen und Regeln im Oeffentlichen wie im Privaten war integraler Bestandteil der Konstituierung von Bundesrepublik und DDR. Dabei wirkte die Ueberlagerung von historischen Leitbildern, politischen Ideen und (staatlichen) Steuerungsanspruechen mit individuellen ebenskonzepten und ihren Gegenentwuerfen praegend auf die Ausgestaltung und Normierung von Koerperlichkeit und Moral. Die jeweiligen Konzepte und Realisierungen von Tradition und Fortschritt, von Anstand und Wohlstand, von Konvention und Rebellion sollen im Rahmen der Tagung fuer die beiden deutschen Staaten aus vergleichender und geschlechterdifferenter Perspektive naeher untersucht werden.
Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR stellten wirtschaftlicher Aufbau, Konsum und Wohlstand zentrale Identifikationsfiguren dar. In beiden Gesellschaften wurden daher Konsum- und Genussgueter als gesellschaftliche Distinktionsmittel genutzt. Die Moralentwuerfe, die das politische und oekonomische System beider Staaten begleiteten, artikulierten sich im familiaeren wie privaten Binnenraum ebenso wie im oeffentlich organisierten und kontrollierten Stadtraum. Unterschiedliche staedtebauliche Konzeptionen lassen sich als Metaphern fuer Herrschaftspraktiken und deren Spiel von Ein- und Ausgrenzung lesen, koennen aber auch fuer verschiedene bis kontraere Aneignungsstrategien und Bewegungskulturen stehen. Der Arbeitsalltag von Frauen, ihre Eigen- und Fremdwahrnehmung sollen ebenso diskutiert werden wie symbolische Traditionen und Deutungen von maennlicher Koerperlichkeit und ihre Einbettung in Moral und Sittlichkeit.
Die Tagung wird mit zwei Hauptvortraegen von Young-Sun Hong (New York) und Barbara Duden (Hannover) eingeleitet.
Die Panels
Panel 1: Anstand und Wohlstand
Die Folgen der wirtschaftlichen Umbrueche, der oekonomischen Modernisierung und sozio-kulturellen Neuorientierungen fuer das Geschlechterverhaeltnis werden anhand von 3 Beispielen dargestellt. In ihrem Beitrag "Die Doppelehe des Bauern W." stellt Dagmar Langenhan die Bauernschaft der DDR im Spannungsfeld des Uebergangs von der einzelbaeuerlichen Familienwirtschaft zur genossenschaftlichen Familienwirtschaft dar. Vor dem Hintergrund des umfassenden Gestaltungsanspruchs der SED und der - fuer Industriegesellschaften untypischen - permanenten gesellschaftlichen Aufwertung des Agrarbereiches, werden sowohl die Praegekraft baeuerlicher Deutungs- und Handlungsmuster als auch die Wirkungsmaechtigkeit der "sozialistischen" Leitbilder in Hinblick auf Veraenderungen der ueberkommenen Geschlechterordnung untersucht. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob und wie es in der DDR gelang, das Wohlstandsversprechen fuer alle, auch auf die Baeuerinnen, auszudehnen und in die Ordnungsvorstellungen des doerflichen Alltags zu integrieren. Lu Seegers stellt in ihrem Beitrag ueber die Rundfunk- und Familienzeitschrift HOER ZU! die mediale Repraesentation von "richtigem Verhalten" in der fruehen Bundesrepublik dar. Dabei werden die besonders auf den Ratgeberseiten ("Fragen Sie Frau Irene") deutlich werdenden Veraenderungen und Modifikationen des Geschlechterverhaeltnisses offensichtlich. Eine neue Generation setzt zudem durch, dass die autoritaeren innerfamiliaeren Umgangsformen durch individualisierte, auf mehr Autonomie gerichtete Verhaltensweisen ersetzt werden. Die Abloesung des militarisierten Maennlichkeitsbildes in den 50er Jahren durch Geschlechterrollen, die mehr Androgynitaet ausdruecken, ist das Thema des dritten Vortrags von Detlef Siegfried, "Gladiatoren unserer Zeit. Junge Maenner, Militaer und Technik in der Bundesrepublik der 60er Jahre". Diese Aufloesung von dualen Geschlechterrollen, einhergehend vor allem mit einem neues Erscheinungsbild von Maennlichkeit bedeutet eine langfristige Tendenz zur Zivilisierung und Ablehnung des Militaerischen. Die explosionsartig zunehmende Versorgung der Gesellschaft mit Konsumguetern ermoeglichte eine private Befriedigung von (maennlichen) Mobilitaets- und Technifizierungsbeduerfnissen, die vor 1945 durch militaerische und paramilitaerische Organisationen befriedigt wurden. So entsteht eine maskuline Expertenkultur, die aus der Privatsphaere in die Oeffentlichkeit diffundiert: die Maennerdiskurse ueber Autos loesten die Maennerdiskurse ueber den Krieg ab.
Panel 2: Raum-Beherrschung
Die Beitraege dieses Panels befassen sich mit oeffentlichen Raeumen als Orte der Ueberwaeltigung und Ueberredung sowie der Artikulation und Kontrolle von Verhaltensnormen. Hildtrud Ebert beschaeftigt sich mit der Metaphorik von Raum- und Zeitbeherrschung in der staedtebaulichen Neukonzipierung des ostberliner Alexanderplatzes Ende der 60er Jahre. DieArchitektur des Platzes, seine bildkuenstlerische Ausstattung und raeumliche Struktur bilden ein widerspruechliches Konstrukt zwischen illusionierter Entgrenzung des Raums und realer Verhinderung von Mobilitaet, das sich als Indiz maennlich konnotierter Be-herrschungspraxis herauskristallisiert. Der Potsdamer Platz als moderne Variante staedtebaulicher Inszenierung hegemonialer Maennlichkeit als kulturelles Ideal und Orientierungsmuster ist Thema von Gabriele Schambach. Sie analysiert anhand der baulich-raeumlichen Gestaltung den Zusammenhang zwischen der Aufrichtung dieses Ideals und den realen Praktiken der Abwertung bzw. Ausgrenzung von Frauen, Homosexuellen und ethnischen Minderheiten. Nina Feltz untersucht unterschiedliche Strategien fuer Aneignung von Raeumen durch Frauen. Im Zentrum der Betrachtung steht der unmittelbare Zusammenhang von Raumaneignung, Koerperlichkeit und Bewegungskultur. Sie fragt danach, welche Rolle staedtische Raeume als Orte der Entfaltung unterschiedlicher Geschlechteridentitaeten bilden. Kerstin Doerhoefer nimmt die Shopping Mall als "Frauenraum" unter die Lupe. Sie befasst sich mit der Funktion standardisierter Baulichkeiten und dem dort gebotenen Entertainment, das Konsumverhalten und die Reproduktionsarbeit der Kundinnen zu steuern und zu stimulieren. Doerhoefer spricht von einer "Utopie im negativen Sinne", insofern Shopping Malls suggerieren, was sie real verhindern: selbstbestimmtes Handeln.
Panel 3: Verwaltete und gestaltete Koerper
Koerperbilder und Koerpererfahrungen in den spezifischen kulturellen Kontexten
der beiden deutschen Gesellschaften werden in diesem Panel untersucht. Claudia
Breger naeher sich dem Thema anhand zweier populaerer Leinwandszenarien der
deutschen Nachkriegszeit, der "Sissi-Trilogie" auf der westdeutschen, der
"Koenigskinder" auf der ostdeutschen Seite. Diese beiden "koenigliche"
Filmphantasien werden im Spannungsfeld zwischen der Verkoerperung
nachahmenswerter moralischer Ideale einerseits und normueberschreitender
Ausserordentlichkeit verortet. Die Vielfaeltigkeit weiblicher Koerpererfahrung
im kulturellen Raum eines DDR-Textilbetriebes ist das Thema von Annegret
Schuele. Auf der Basis von Erinnerungsinterviews mit Arbeiterinnen des VEB
Baumwollspinnerei sowie Akten des Betriebes kann ein sehr differenziertes
Bild der Selbst- und Fremdwahrnehmung dieser Arbeiterinnen zwischen Anstrengung,
Abwertung, Anerkennung, Emanzipation und Genuss gezeichnet werden. Den
symbolischen Traditionen und Deutungen des sozialistischen Bruderkusses als
politischem Kommunikationsinstrument geht Claudia Schimmel nach. Als Symbol
der Gleichheit, Bruederlichkeit und Solidaritaet ist der Bruderkuss fest
in das politische Formenrepertoire sozialistischer Staaten eingegangen.
Ueberlegungen der Militaerfuehrung der NVA ueber die koerperlichen Grenzen
von Frauen im Militaer sind Gegenstand der Ausfuehrungen von Christine Eifler.
Ausgehend von deren Verstaendnis der Geschlechterdifferenz als
einer biologisch-naturhaften Determinante werden die praktischen Massnahmen
charakterisiert, mit denen die "Vorgaenge der Fortpflanzungsbereitschaft
der militaerisch taetigen Frauen" gesichert werden sollten.
Panel 4: Moral und Gesetz
In diesem Teil des Panels stehen Leitbilder fuer normative Setzungen in der
Rechtssprechung der DDR und der Bundesrepublik zur Diskussion. Christine
Siegrot widmet sich der justitiellen Bearbeitung weiblicher Toetungskriminalitaet
in der DDR. Sie analysiert die in der Rechtssprechung zum Ausdruck kommenden
Normalitaetserwartungen" an Frauen und insbesondere an Muetter von Seiten
des Staates und der Gesellschaft sowie die Beduerfnisse nach Sanktionen des
Verstosses gegen spezifische Geschlechterrollenerwartungen. Mit dem Wandel
der Rechtssprechung gegenueber ledigen Muettern und unehelichen Kindern in
der Bundesrepublik beschaeftigt sich Sybille Buske. Sie zeigt, wie die
Subversionen von "Moral" und "Sittlichkeit" am Sexualverhalten gemessen,
als
gesellschaftliche Bedrohungen wahrgenommen und geahndet wurden. Der Ende
der 70er Jahre einsetzende Liberalisierungsprozess in der Rechtssprechung
widerspiegelt die nur zoegerliche Ueberwindung des Misstrauens gegenueber
ledigen Muettern und der Zweifel an ihren charakterlichen Eignungen zur
Erziehung ihrer Kinder. Susanne zur Nieden beschaeftigt sich mit den
Hintergruenden der Kriminalisierung und Ausgrenzung homosexueller Maenner
in der BRD und der DDR. So unterschiedlich sich auch nach dem Ende des
Nationalsozialismus in Ost- und Westdeutschland die Wege der Entschaedigung
von NS- Unrecht entwickelten, aehnelten sie sich doch in diesem Punkt:
diejenigen, die aufgrund von NS- Sondergesetzen als Homosexuelle verfelgt
waren, wurden in beiden Teilen Deutschlands von der "Wiedergutmachung"
ausgeschlossen.
Programm
Sonnabend, 2. Dezember 2000
Eroeffnung
09.30 Uhr
Begruessung
Claudia Neusuess, Vorstand der Heinrich Boell Stiftung
10.00 Uhr
Young-sun Hong (New York): Sex, Cigarettes, and the East German body
politics (Vortrag in deutscher Sprache)
11.00 Uhr
Barbara Duden (Hannover): Zeitgeschichten unter der Haut. Koerperpolitik
in der Bundesrepublik
Moderation: Irene Stoehr (Berlin)
12.30 - 14.00
Mittag
Panel 1: Anstand und Wohlstand
14.00 Uhr
Dagmar Langenhan (Potsdam): "Die Doppelehe des Bauern W." Anstand, Wohlstand
und Geschlecht - die laendliche Gesellschaft der DDR in den 50er
und 60er Jahren zwischen Neukonstituierung und Konsolidierung
Lu Seegers (Hannover): "Fragen Sie Frau Irene". Die Rundfunk- und
Familienzeitschrift HOER ZU! als Ratgeber fuer Ehe- und Familienglueck in
den 50er und fruehen 60er Jahren
Detlef Siegfried (Kopenhagen): Gladiatoren unserer Zeit. Junge Maenner, Militaer
und Technik in der Bundesrepublik der sechziger Jahre
Kommentar: Dorothee Wierling (Berlin) Moderation: Marianne Zepp (Berlin)
16.00 - 16.30 Uhr
Kaffeepause
Panel 2: Raum-Beherrschung
16.30 Uhr
Hildtrud Ebert (Berlin): Virtuelle Reisen am Ostberliner Alexanderplatz:
Vom Versuch, Beduerfnisse zu befriedigen, ohne sie wecken zu duerfen
Gabriele Schambach (Berlin): Der Potsdamer Platz in Berlin: eine Zone
hegemonialer Maennlichkeit Kerstin Doerhoefer (Berlin): Wer eine kennt,
kennt alle - die Shopping-Mall als "Frauenraum"
Nina Feltz (Hamburg): Koerperrealitaeten - Strategien zur Aneignung oeffentlicher (Bewegungs-) Raeume in Identitaetsprozessen von Frauen und Maedchen
Kommentar: Meggi Pieschel (Berlin) Moderation: Jacqueline Koester (Berlin)
ab 19.30 Uhr
Buffet
Sonntag, 3. Dezember 2000
Panel 3: Verwaltete und gestaltete Koerper
10.00 Uhr
Claudia Breger (Berlin): Koenigskinder und Prinze(ssinne)n. Leinwandszenarien
ausser/ordentlicher Geschlechtlichkeit und Moral in
beiden Nachkriegsdeutschlands
Annegret Schuele (Leipzig): "Die Knochenarbeit war Frauenarbeit".
Koerpererfahrungen von Arbeiterinnen im
VEB Baumwollspinnerei
Claudia Schimmel (Berlin): Der Bruderkuss. Zur Verwendung politischer Symbole in sozialistischen Staaten
Christine Eifler (Giessen): "Massnahmen zur Sicherstellung der Hygiene".
Frauen in der NVA
Kommentar: Bozena Choluj (Frankfurt/Oder) Moderation: Janine Nuyken
(Frankfurt/Oder)
12.30 - 13.30 Uhr
Mittag
Panel 4: Moral und Gesetz
13.30 Uhr
Christine Siegrot (Hamburg): Die justitielle Bearbeitung von Frauenkriminalitaet
in DDR
Sybille Buske (Freiburg): "Fraeulein Mutter" und ihr "Bankert": Illegitimitaet in der Bundesrepublik
Susanne zur Nieden (Berlin): "Unwuerdige Opfer". Diskriminierung und Kriminalisierung homosexueller Maenner im geteilten Deutschland
Kommentar: Susanne Baer (Berlin) Moderation: Christine Eifler (Giessen)
15.15 Uhr
Abschlussdiskussion
Tagungsort:
Heinrich-Boell-Stifung, Galerie, 5. Etage, Hackesche Hoefe,
Rosenthaler Str. 40/41, 10178 Berlin
Anmeldung:
bitte schriftlich bei
Heinrich-Boell-Stiftung, Tagungsbuero
Rosenthaler Str. 40/41, 10178 Berlin
per Fax: 030 - 28534 109
per e-mail: Leute@boell.de
oder ueber den Veranstaltungskalender unter www.boell.de
Teilnahmebeitrag fuer Verpflegung und Tagungsunterlagen:
DM: 60,-/ ermaessigt 30,-
Ueberweisung vorab unter dem Stichwort "Anstaendige Leute" auf das Konto
der Heinrich-Boell-Stiftung Bank fuer Sozialwirtschaft Berlin BLZ 100 205
00, Kto.-Nr. 30 767 01
Organisatorische Informationen:
unter www.boell.de
oder telefonisch unter 030 - 28534-213
Presseinformation:
unter 030-285 34-241 oder
stognienko@boell.de
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