"Identitaeten jenseits der Nation?

Transnationale Oeffentlichkeiten und interkultureller Transfer im 20.

Jahrhundert"




HUMBOLDT UNIVERSITAET ZU BERLIN
PHILOSOPHISCHE FAKULTAET I
INSTITUT FUER GESCHICHTSWISSENSCHAFTEN
DFG-FORSCHERGRUPPE
"Historisch-sozialwissenschaftlicher Gesellschaftsvergleich"
und das
ZENTRUM FUER VERGLEICHENDE GESCHICHTE EUROPAS, an der FU Berlin

Veranstalter:
Prof. Dr. Dr. h.c. Hartmut Kaelble
Dr. Alexander Schmidt-Gernig
Dr. Martin Kirsch

Thema der Tagung:

"Identitaeten jenseits der Nation?
Transnationale Oeffentlichkeiten und interkultureller Transfer im 20.
Jahrhundert"

Konzeption zur Tagung

Seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums zu Beginn der 90er Jahre ist in den Sozialwissenschaften eine intensive Diskussion ueber die Genese einer
"Weltgesellschaft" in Gang gekommen. Hierbei wird nicht selten auf den Beginn eines ganz neuen Zeitalters weltweiter Vernetzungen und transnationaler
"Netzwerke" in oekonomischer, politischer und vor allem auch kultureller Hinsicht verwiesen. Kern dieser These vom "neuen Zeitalter" der
Globalisierung ist die Feststellung einer bisher beispiellosen weltweiten Kommunikationsverdichtung, die sich technisch schon in den 70er Jahren
abzuzeichnen begann, gesellschaftlich wirkungsmaechtig aber erst durch den Fall des Eisernen Vorhangs werden konnte. Diese Globalisierung - so wird in
den verschiedensten Studien zur sich entwickelnden Weltgesellschaft immer wieder betont - setze insbesondere den Nationalstaat massiv unter Druck, denn
sie erzeuge u.a. aufgrund vonTransfer und Verflechtung eine Konfrontation unterschiedlicher kultureller Deutungsmuster zwischen Globalitaet und
Lokalitaet und damit auch einen fundamentalen Wandel kollektiver Identitaeten. Dieser Prozess der weltweiten Kommunikationsverdichtung stellt
insbesondere die lange Zeit dominanten nationalen Strukturen von Oeffentlichkeiten in Frage.

Unklar ist dabei allerdings haeufig, wie dieser Prozess historisch einzuordnen ist: Der Rueckblick auf die Herausbildung starker nationaler
Identitaeten seit dem 19. Jahrhundert macht deutlich, dass die Identifikation mit dem Nationalstaat ihre Dynamik nicht zuletzt daraus gewann, dass der
Nationalstaat fuer die "Agenden" des 19. Jahrhunderts wie z.B. den technischen Fortschritt, die allgemeine Wohlstandsmehrung und die damit
zusammenhaengende "soziale Frage", aber auch hinsichtlich der Kolonialisierung und weltwirtschaftlichen Expanison die meisten Kapazitaeten
zu deren erfolgreicher Loesung bereitzustellen versprach. Im 20. Jahrhundert laesst sich dagegen in wichtigen Politikfeldern eine bemerkenswerte
Verschiebung der Problemlagen auf die transnationale Ebene feststellen. Aussenpolitisch haben dabei vor allem die beiden Weltkriege, die
verschiedenen Krisen im Rahmen des Kalten Kriegs, die verschaerfte Nord-Sued-Problematik und die daraus erwachsenden supranationalen
Zusammenschluesse sowie globale oekologische Krisen die offenkundigen Grenzen des "westfaelischen" Systems der Nationalstaaten auch im Hinblick auf
kollektive Identitaeten deutlich werden lassen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Entstehung der Weltgesellschaft tatsaechlich erst in
den 90er Jahren oder nicht schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit einsetzte. Welche Vorlaeufer lassen sich also in historischer Perspektive
benennen bzw. welche Kontinuitaeten und Brueche? Und welche Gruende bzw. Ursachenbuendel koennen dafuer angegeben werden?

Vor diesem Hintergrund hat die geplante Konferenz das Ziel, eine bisher primaer von Soziologen, Politologen, Ethnologen oder Staatsrechtlern
gefuehrte Debatte mit Fragestellungen und Deutungskonzepten der Geschichtswissenschaft zu konfrontieren und damit zu einem
interdisziplinaeren Dialog zwischen den Sozialwissenschaften beizutragen.

Die Frage nach der historischen Einordnung verlangt angesichts der Vielschichtigkeit von Begriffen wie "kollektive Identitaet",
"Oeffentlichkeit" oder "interkultureller Transfer" nach einer ersten definitorischen Klaerung und historischen Einordnung. Im Anschluss an eine in
den letzten Jahren intensivierte Identitaetsforschung koennen kollektive Identitaeten ganz allgemein als Zugehoerigkeitsvorstellungen im Sinne von
Wir-Gefuehlen und damit einhergehenden Verhaltensmodi beschrieben werden. Entscheidend ist dabei, diese Vorstellungen als historisch kontingent und "konstruiert" zu verstehen, d.h. Identitaeten als kollektive Sinnkonstruktionen mit handlungsleitender Absicht zu begreifen. Wichtig ist dabei, dass sich Identitaeten nicht grundsaetzlich gegenseitig ausschliessen bzw. "ersetzt" werden, sondern gewissermassen "nebeneinander"
(weiter)bestehen und in unterschiedlichen historisch-politischen bzw. lebensweltlichen Zusammenhaengen immer wieder neu "aktualisiert" werden, so
dass der situative Identifikationsbezug entweder in sozialer Hinsicht bei Familie, Geschlecht, berufsspezifischen Milieus oder Generationen oder aber
in "territorial-kultureller" Hinsicht bei der Heimatstadt, der Nation oder dem ganzen Kontinent liegen kann.

Diese "Aktualisierung" erfolgt - und hier liegt der zweite Ansatzpunkt der Tagung - in modernen Gesellschaften in erster Linie ueber Kommunikationsnetze
und Oeffentlichkeiten. Kollektive Identitaeten, so die hier zu pruefende Hypothese, werden angesichts der "Unuebersichtlichkeit" moderner
Gesellschaften vor allem ueber die verschiedenen Kanaele der Oeffentlichkeit(en) manifest und schliesslich (politisch) handlungsleitend
relevant, wobei diese Oeffentlichkeiten von eher informellen face-to-face-Mustern bis hin zu hochgradig institutionalisierten
massenmedialen Strukturen reichen. Das heisst nicht, dass kollektive Identitaeten nicht auch jenseits der Oeffentlichkeit existierten und
lebensweltlich bedeutsam waeren, aber zumindest im Hinblick auf politische Willensbildung beduerfen sie in offenen Gesellschaften der oeffentlichen
Artikulation, wobei im Anschluss an Manuel Castells im Hinblick auf bestehende Machtstrukturen zwischen "legitimatorischen", "widerstaendigen"
und (neue Strukturen) "projektierenden" Identitaeten unterschieden werden koennte. Auch wenn spezifisch transnationale bzw. globale Problemlagen
angesichts der traditionellen Macht nationaler Identitaeten und Oeffentlichkeiten zunaechst vor allem in den nationalen Oeffentlichkeiten
thematisiert und auf die Agenda gesetzt wurden und werden, haben sich seit dem Zweiten Weltkrieg zunehmend spezifisch transnationale Oeffentlichkeiten
herausgebildet, was sich u.a. an der Entwicklung internationaler Nichtregierungsorganisationen zeigt.

An dieser Stelle kommt die Frage des interkulturellen Transfers ins Spiel, d.h. konkret gefragt: Entstehen transnationale Identitaeten aufgrund von
Transferprozessen auf den verschiedenen Ebenen des persoenlichen Austauschs, der "Versammlungsoeffentlichkeiten" oder der massenmedialen bzw. hochgradig institutionalisierten Oeffentlichkeiten - und wenn ja wie? Oder wird die trans- bzw. internationale Ebene eher im Sinne einer primaer nationalen
Agenda funktionalisiert? Was passiert also mit den transferierten Konzepten etwa zu wissenschaftlichen, oekologischen, geschlechtsspezifischen Fragen -
werden sie jeweils "nationalisiert" oder entwickelt sich tatsaechlich ein Diskurs jenseits der Nation? Kommt es dementsprechend nicht nur zu einer
"Internationalisierung" im Sinne einer Vernetzung, sondern darueber hinaus auch zu "Internationalitaet", verstanden als Konstruktion von gemeinsamen
Sinnhorizonten und Zugehoergkeitsgefuehlen?

Ansetzend bei den Akteuren und dem unterschiedlichen Grad der Institutionalisierung von Oeffentlichkeit stellt das Tagungskonzept daher
vier unterschiedliche Ebenen der Analyse in den Mittelpunkt: Nach einer Eroerterung theoretisch-methodologischer Fragen stehen in einem ersten
Abschnitt mit den eher informellen und persoenlichen Transfers auf der Ebene des Eliten-Austauschs bzw. der sozialen Bewegungen im Vordergrund: die
Geschichte des Wissenschaftler-Austauschs, der Studentenbewegung, der Frauenbewegung und der Buergerrechtsbewegung in Ostmitteleuropa. Eine zweite
Sektion soll sich darauf aufbauend den von (trans-) nationalen Expertennetzwerken gefuehrten Debatten zu spezifisch transnationalen
Problemfeldern widmen, so u.a. der Debatte um eine globale Zukunft in den 60er und 70er Jahren, der Frage transnationaler Migration und deren
staatsrechtlicher Regulation sowie der Debatte ueber eine europaeische Identitaet anhand der europaeischen Asien-Rezeption. Der dritte Bereich soll
sich anhand der EU schliesslich der supranationalen Ebene zuwenden, wobei vor allem die oeffentliche Selbstdarstellung der EU bzw. ihre oeffentliche
Rezeption und die Frage der Entstehung einer "europaeischen Oeffentlichkeit" im Hinblick auf die Wechselwirkungen zwischen institutioneller Integration
und der Entwicklung kollektiver Identitaeten im Mittelpunkt stehen soll. Schliesslich soll es in einem vierten Schwerpunkt um die schon staerker
institutionalisierte Form der Nichtregierungsorganisationen und der Herausbildung einer neuen Form transnationaler Oeffentlichkeiten unterhalb
der staatlichen Ebene am Beispiel der besonders prominenten Felder Menschenrechte und Oekologie gehen. Abschliessend lassen sich, daran
anknuepfend, Entstehungsbedingungen und Ansaetze einer "Weltoeffentlichkeit" debattieren.

Auf allen vier Ebenen wird im einzelnen nach den jeweiligen Akteuren und Traegern, den Formen, Foren, Arenen und Adressaten, nach dem Zusammenhang von kollektiver Identitaetsbildung und oeffentlicher Artikulation bzw. Wirkung sowie nach der Bedeutung der transnationalen Transfers zu fragen sein.
Angesichts der historischen Perspektive interessiert im Sinne einer problemkritischen Periodisierung ueberdies die Frage nach spezifischen
Entwicklungseinschnitten. Schliesslich: In welchen Bereichen schaelen sich spezifisch (west-)europaeische Muster von Transnationalitaet heraus und wo
dominieren eher "globale" bzw. diffuse Strukturen? Diese Frage stellt sich nicht zuletzt mit der Absicht, den haeufig etwas unklaren Begriff der
"Globalisierung" im internationalen Vergleich staerker zu differenzieren und auch Zentren bzw. Peripherien dieser transnationalen Oeffentlichkeiten
genauer lokalisieren zu koennen.


Tagungsprogramm (Stand 09/2000)

Donnerstag, 5. Oktober 2000

Nachmittags 14.00-19.00 Uhr:
Einleitung: Prof. Hartmut Kaelble (Berlin)

Einfuehrungsvortrag:
* Prof. Kurt Imhof (Zuerich): Zur Geschichte von Oeffentlichkeiten und
Identitaeten im 20. Jahrhundert

Moderation: Dr. Alexander Schmidt-Gernig (Berlin)

I. Soziale Bewegungen und nichtinstitutionalisierte Transfers

* Prof. Peter Niedermueller (Berlin): Oeffentlichkeit und Transfer in den
Buergerbewegungen in Ostmitteleuropa
Kommentar: Peter Wellach, M.A. (Berlin)

* Dr. Martin Kirsch (Berlin): Wissenschaftler im Ausland zwischen 1930 und
1960 - auf dem Weg zu einer transnationalen Identitaet?
Kommentar: Prof. Alfons Soellner (Chemnitz)

* Prof. Ingrid Gilcher-Holtey (Bielefeld): Der Transfer zwischen den
Studentenbewegun-gen von 1968 und die Entstehung einer transnationalen
Gegenoeffentlichkeit
Kommentar: Prof. Dieter Rucht (Berlin)

Freitag, 6. Oktober 2000

Vormittags, 9.00-13.00 Uhr:
Moderation: Dr. Christoph Conrad (Berlin)

* Prof. Susan Zimmermann (Budapest): Der Transfer feministischen Denkens und
die Entwicklungswege der europaeischen Frauenbewegung(en)
Kommentar: Prof. Karin Hausen (Berlin)


II. (Trans-) Nationale Debatten ueber transnationale Identitaeten

* Prof. Hartmut Kaelble (Berlin): Die Entdeckung des Eigenen im Fremden? Zur
Debatte um eine europaeische Identitaet im 19.und 20.Jahrhundert
Kommentar: Dr. Dominic Sachsenmaier (Berlin)

* Dr. Alexander Schmidt-Gernig (Berlin): Ansichten einer 'Welt-Zukunft' -
Westliche Zukunftsforschung der 60er und 70er Jahre als Beispiel einer
transnationalen Expertenoeffentlichkeit
Kommentar: Prof. Rolf Kreibich (Berlin)


Nachmittags, 14.30-18.30 Uhr:
Moderation: Dr. Philipp Ther (Berlin)

* Dr. Mathias Boes (Heidelberg): Das bedrohte Fundament nationaler
Identitaet? Staatsangehoerigkeit und Migration in Deutschland und Europa
Kommentar: Dr. Rainer Ohliger (Berlin)

III. Supranationale Institutionen: Das Beispiel der EU

* Prof. Martin Kohli (Berlin): Die Entstehung einer europaeischen Identitaet:
Potenziale und Konflikte
Kommentar: Dr. Andreas Ernst (Skopje/Zuerich)

* Prof. Juergen Gerhards (Leipzig): Europaeisierung von Oekonomie und Politik
und die Traegheit der Entstehung einer europaeischen Oeffentlichkeit

* Prof. Bernhard Giesen (Konstanz): Die Entstehung einer europaeischen
Oeffentlichkeit

Samstag, 7. Oktober 2000

Vormittags, 9.00-13.00 Uhr
Moderation: Dr. Martin Kirsch (Berlin)


IV. Internationale Nichtregierungsorganisationen

* Dr. Hans Peter Schmitz (Chicago): NGO's und Weltoeffentlichkeit: Wege zur
Verwirklichung von Menschenrechten?
Kommentar: Prof. Christian Tomuschat (Berlin)

* Prof. Peter-Cornelius Mayer-Tasch (Muenchen): Die Relevanz der
Oeffentlichkeit in der Arbeit von NGO's im Bereich der internationalen
Umweltpolitik
Kommentar: PD Dr. Elfi Bendikat (Berlin)


Abschlussdiskussion

Moderation: Prof. Hartmut Kaelble (Berlin)

* Prof. Rudolf Stichweh (Bielefeld): Die Entstehung einer
Weltoeffentlichkeit?
Kommentar: Prof. Ludolf Herbst (Berlin)


Falls Sie an der Tagung teilnehmen moechten, wenden Sie sich bitte an:

Dr. Martin Kirsch
Humboldt-Universitaet zu Berlin
Philosophische Fakultaet I
Institut f. Geschichtswissenschaften
Unter den Linden 6
D - 10099 Berlin
Tel.: +49-30- 2093 1746 o. 2236 / +49-30- 802 87 30
Fax.: +49-30-2093 2797
E-Mail: kirschm@geschichte.hu-berlin.de

Dr. Alexander Schmidt-Gernig
Humboldt-Universitaet zu Berlin
Philosophische Fakultaet I
Institut f. Geschichtswissenschaften
Unter den Linden 6
D - 10099 Berlin
Tel.: +49-30- 2093 1745 o. 2236
Fax.: +49-30-2093 2797
Email: schmidtgerniga@geschichte.hu-berlin.de

Etwaige Aktualisierungen des Programms sind zu finden unter:
http://www.geschichte.hu-berlin.de/bereiche/sg/programm.html



Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Martin Kirsch" <KirschM@GESCHICHTE.HU-Berlin.de>
Subject: Tagung: Identitaeten jenseits der Nation? - Berlin 10/2000
Date: 07.09.2000



Copyright ©1996-2002, H-Soz-u-Kult · Humanities · Sozial- und Kulturgeschichte

Termine 2000