Jour Fixe Initiative Berlin - Vortragsreihe: "Geschichte nach Auschwitz"



Veranstaltungsort: Kulturhaus Mitte, Auguststrasse 21, Berlin, S-Bahn: Oranienburger Strasse, U-Bahn: Oranienburger Tor
Jeweils Montags, 19 Uhr 30
Eintritt frei

6.11.2000
Alexander Ruoff und Elfriede Mueller (Berlin): Interpreten des Grauens. Die Begegnung von T.W. Adorno mit Hayden White im franzoesischen
Kriminalroman

4.12.2000
Mark Siemons (Berlin): Berliner Passagen

15.1.2001
Frank Winter (Dresden): Architektur und Geschichtsbewusstsein Versuch ueber den neuen Potsdamer Platz in Berlin

12.2.2001
Helmut Dahmer (Darmstadt): Wie die Psychoanalytische Bewegung zum Stillstand kam

5.3.2001
Zeev Sternhell (Jerusalem): Von den Antiaufklaerern zum Faschismus und Nazismus Reflexionen ueber die europaeische Katastrophe des 20. Jahrhunderts

23.4.2001
Enzo Traverso (Paris): Sozialismus angesichts der Erinnerung an ein barbarisches Jahrhundert

7.5.2001
Michael T. Koltan (Freiburg): Zur Geschichte der Marxschen Geschichtstheorie

11.6.2001
Ute Gerhard (Castrop-Rauxel): Verwerfungen der Geschichte Zur Genealogie der “zerstreuten Masse”



GESCHICHTE NACH AUSCHWITZ

Heute scheint es undenkbar, dass je wieder eine Revolution Geschichte machen koennte. Seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten und der
deutschen Vereinigung scheint der Gedanke, dass es weitere qualitative Umbrueche von Gesellschaftsordnungen geben koennte, obsolet zu sein. Es
gibt nur noch Geschichte und einen Boom der Erinnerung an sie. In Zukunft gibt es keine Ueberraschungen mehr, man hat nichts zu erwarten als die
technizistische Vervollkommnung der Gegenwart. Was heisst das fuer eine Gesellschaftstheorie, die diese Gesellschaft als Ganzes kritisiert, und
deren Hoffnung sich nach wie vor auf eine radikale Umwaelzung richtet, die also hoffnungslos anachronistisch erscheinen muss? Kann kritische
Gesellschaftstheorie noch etwas mit den Begriffen Revolution und Geschichte anfangen, nachdem die Alternative Sozialismus oder Barbarei im
Nationalsozialismus entschieden worden ist? Wenn es darauf ankommt, “eine schon von der Barbarei gezeichnete Gesellschaft zu begreifen” (Enzo
Traverso), also auch der Begriff der Revolution schon durch Auschwitz “angefressen” ist (Adorno), laesst sich dann auf diese Begriffe noch in
emanzipatorischer Absicht rekurrieren?
Schon in Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen sind Fortschrittsglaube und revolutionaere Hoffnung voneinander entkoppelt. Die
Geschichte erscheint als eine Abfolge von Katastrophen, anstatt auf eine bessere Zukunft zu verweisen. Einzig in der Erinnerung an die Niederlagen,
die Tradition der Unterdrueckten, erblickt Benjamin eine gewisse Hoffnung, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen und den Panthersprung zu
vollbringen. Allerdings erscheint es heute, mit dem ganzen Wissen von Auschwitz, zweifelhaft, ob die Engfuehrung von geschichtlicher Erinnerung
und revolutionaerem Impuls noch denkbar sein kann. Nicht nur werden die Toten von den Siegern als Beweis ihrer Laeuterung und Garant ihrer
Identitaet instrumentalisiert, es laesst sich auch aus einem Ereignis, das jeder Sinnhaftigkeit entbehrt und dadurch die Versprechen der Aufklaerung
ad absurdum gefuehrt hat, keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft schoepfen. Wenn die Geschichte in der Katastrophe festzusitzen scheint, ist
zuallererst zu klaeren, ob diese Feststellung zutrifft, wie es dazu kommenkonnte und welche Moeglichkeiten einer kritischen Praxis und Theorie in
dieser Situation noch verbleiben. Symptomatisch ist, dass heutzutage ein bewusstloses switchen zwischen dem Gestus des rien ne va plus und des
anything goes stattfindet. Kritische Gesellschaftstheorie, die sich nicht scheut, auch auf postmoderne Theoriebildung zurueckzugreifen, kann diesem
Problem in zweifacher Hinsicht nachgehen: Zum einen kann sie die Klassiker der Revolutionstheorie kritisch analysieren und auf Arbeiten aufbauen,
fuer die die Revolution ihre utopische Unschuld laengst verloren hat, zum anderen ist sie in der Lage, methodische Reflexionen ueber das Verhaeltnis
des geschichtlichen Ereignisses als Faktum und dem Problem seiner Repraesentierbarkeit in einer Erzaehlung anzustellen. Dies sind die beiden
Fragestellungen, denen in dieser Vortragsreihe nachgegangen werden soll, und zwar, wie schon in den vorherigen Reihen, sowohl aus der Perspektive
der Kritischen Theorie, als auch von den als postmodern rubrizierten Theorierichtungen.
Konnte man Ende des vorigen Jahrhunderts die Revolution noch als die “Lokomotive der Geschichte” verstehen, so aenderte sich dies nach
Auschwitz vollstaendig. Fuer Benjamin stellte sie die Notbremse dar, die Aufeinanderfolge von Katastrophen, als die er die Geschichte verstand, zu
einem Halt zu bringen. Der Kritischen Theorie der Dialektik der Aufklaerung erscheint eine Revolution unmoeglich aufgrund der fehlenden
Vermittlung in der totalen Gesellschaft. Sie sieht Hoffnung alleine noch in der Flaschenpostfunktion der Analyse. Gleichzeitig haelt sie daran
fest, dass die Geschichte einer Logik folgt, die man erkennen und nachvollziehen kann Fuer Guenter Anders war Geschichte in einer Sackgasse
angelangt, als die technische Revolution die Technik als Subjekt der Geschichte setzte und den Menschen als antiquierten Anachronismus
zurueckliess. Verabschiedet sich der Mensch als Subjekt der Geschichte, kommt diese an ein Ende, weil ihr Begriff den Menschen als Subjekt
voraussetzt. Postmoderne Denker wie Jean Baudrillard kennen den Begriff der Revolution nicht mehr. Baudrillard spricht bereits zu einem Publikum,
das sich in der Gleichfoermigkeit des Prozesses eingerichtet hat und unterscheidet zwischen dem Lauf der Katastrophe und der Katastrophe die
diesen Lauf unterbricht: “Es ist aehnlich wie bei der Beschleunigung einer Fluessigkeit: sie produziert Turbulenzen und Anomalien, die ihren Lauf
behindern oder ihn umleiten. (...) So dienen die extremen Phaenomene in ihrer geheimen Unordnung als Prophylaxe per Chaos gegen die extreme
Zunahme der Ordnung und Transparenz. (...) Angesichts der Gefahr einer totalen Schwerelosigkeit … einer Geradlinigkeit der Prozesse, die uns ins
Leere ziehen, sind diese ploetzlichen Wirbel, die wir Katastrophen nennen, auch das, was uns vor der Katastrophe schuetzt.” (Jean Baudrillard:
Transparenz des Boesen, 1992, S. 79). Bezieht man dieses Bild (bei dem die Frage ist, ob es physikalisch ueberhaupt stimmt) auf die Vernichtung der
europaeischen Juden, so stellt sich die zynische Frage, vor welcher wirklichen Katastrophe Auschwitz uns denn bewahrt habe.
Diesem sich veraendernden Verstaendnis von Geschichte und Revolution soll ebenso nachgegangen werden, wie es gilt, die Beschreibung von Revolutionen
und Geschichte kritisch zu analysieren, den Graben auszumessen, der sich zwischen dem Ereignis und seiner Repraesentation auftut. Saul Friedlaender
weist darauf hin, dass selbst die nuechterne Sprache des Historikers eine verschleiernde Wirkung hat, wenn sie von den Ereignissen berichtet. Er
sieht die Sprache als ungenuegend an, um das Ereignis zu beschreiben. “Hinter jedem Satz stehen die gewohnten Strukturen unserer
Vorstellungswelt, draengen sich vor und verschleiern die eigentliche Bedeutung der Worte” (Saul Friedlaender: Kitsch und Tod. 1999, S. 92). Aus
dieser Sprachfalle scheint es kein Entrinnen zu geben: “Die beschriebenen Ereignisse sind es, die ungewoehnlich sind, nicht das Vorgehen des
Historikers. Wir stossen mit unseren sprachlichen Ausdrucksmoeglichkeiten an eine Grenze. Andere haben wir nicht (S. 93).” Wenn die Vergangenheit so
monstroes war, dass die Worte fehlen, um sie zu beschreiben, dann betreibt man Exorzismus, wenn man sie dennoch zu erzaehlen versucht. Dieser
Exorzismus besteht laut Friedlaender darin, “die Vergangenheit auf ertraegliche Dimensionen zurueckzudraengen, sie mit der bekannten und
unbezweifelbaren Entwicklung menschlichen Verhaltens und dem identifizierbaren Lauf der Dinge zu verbinden, sie in die nuechterne
Abfolge normaler Geschichtsereignisse einzufuegen, in die beruhigende Welt der Grundregeln unserer Gesellschaft, kurz gesagt, in den Konformismus und
die Uniformitaet” (S. 109). James E. Young sagt ueber die Aufgabe der alten Schriftgelehrten und Rabbiner, dass es ihnen nicht in erster Linie
um die Ueberlieferung der konkreten historischen Details der Katastrophe ging, als vielmehr darum, “die Erinnerung an die traditionellen Paradigmen
zu bewahren, nach denen die Ereignisse verstanden und interpretiert werden konnten” (James E. Young: Beschreiben des Holocaust. 1997, S. 22).
Geschichte zu erzaehlen heisst nicht nur, das Ereignis in der Erinnerung zu bewahren, sondern auch stillschweigend zu unterstellen, man koenne es
verstehen, weil ihm selbst ein intelligibler Sinn inhaerent sei. Hayden White, dessen Thesen die Geschichtswissenschaft aufgeschreckt haben, sieht
das Vertrauen in die Verstehbarkeit der Geschichte darin begruendet, dass nicht nur der literarischen, sondern auch der historiographischen
Darstellung historischer Ereignisse notwendig Plotstrukturen zugrunde liegen, mit denen die Abfolge der Ereignisse in der Repraesentation
strukturiert werden. Diese Plotstrukturen bestimmen allerdings nicht die Abfolge der historischen Ereignisse selbst, sondern sie strukturieren
lediglich deren nachtraegliche Repraesentation. Somit stellen sie “eine der Moeglichkeiten einer Kultur dar, sowohl der persoenlichen als auch der
oeffentlichen Vergangenheit einen Sinn zu verleihen” (Hayden White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk. In: Ders.: Auch Klio dichtet
oder die Fiktion des Faktischen. S. 106). Das heisst: Erzaehlt man die Geschichte von Auschwitz, kassiert man automatisch die theoretische
Einsicht, das es ein Ereignis war, "das nicht haette stattfinden duerfen (Hannah Arendt).
Muss man somit davon ausgehen, dass Geschichte als ein Impuls der Gesellschaftskritik ausgespielt hat? Wenn die Geschichte eine Abfolge von
Katastrophen ist, die in Auschwitz ihren vorlaeufigen Kulminationspunkt erreicht hat, kann dann aus der Vergangenheit ein Massstab gewonnen
werden, der auf eine bessere Zukunft wiese? Klar ist: ein historischer Entwurf, ein politisches Ziel und ein moralisches Ideal ist aus der
Geschichte nicht zu gewinnen. Auch eine soziale Bewegung, eine Tradition des Klassenkampfes laesst sich nicht teleologisch in die Zukunft
projizieren. Selbst ob die schwache messianische Kraft, die Benjamin aus den fragmentarischen Gluecksmomenten der Vergangenheit und dem Hass auf
die Unterdrueckung entstehen sieht, nach Auschwitz noch ein movens sein kann, ist fraglich.
Die Vortraege und Diskussionen dieser Reihe sollten sich der Konstellation der Geschichte nach Auschwitz bewusst sein und zum anderen nicht
vergessen, dass geschichtliche Ueberlieferung immer schon eine Interpretation bedeutet. Gleichzeitig gilt es im Auge zu behalten, dass geschichtliche Veraenderungen in der Gegenwart tatsaechlich stattfinden.Die Frage ist, ob sie Grund zur Hoffnung geben.


Kontakt: Stefan Vogt, e-mail: svogt@zedat.fu-berlin.de


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Stefan Vogt <svogt@zedat.fu-berlin.de>
Subject: Konferenz: Geschichte nach Auschwitz
Date: 10.10.2000


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