PROKLA
Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft

Call for Papers fuer ein PROKLA-Heft "Fragen der Gerechtigkeit"

Ueber "Sphaeren der Gerechtigkeit" ist eine Debatte von liberalen Kommunitaristen in den USA ausgeloest worden, deren Geplaetscher auch hierzulande zu verspueren ist. "Fragen der Gerechtigkeit" sind aber auch in anderen Kontexten aufgeworfen worden:

im Zusammenhang der Globalisierung, weil – jeder Jahresbericht des UNDP belegt es – die Ungleichheit der Verteilung von Einkommen, Vermoegen, Lebens- und Entwicklungschancen in der Welt immer groesser geworden ist, so dass eine "globale Gerechtigkeitsluecke" entstanden ist. Die Extreme von Armut und Reichtum haben sich voneinander entfernt. Dies ist einer der Gruende, die Hobsbawm dazu veranlassten, vom 21. Jahrhundert als dem Jahrhundert der Verteilung(sfrage) zu sprechen. innerhalb des neoliberalen Diskurses sind Freiheit und Gleichheit als eine "trade off-Beziehung" konstituiert worden. Bis in die Partei der Gruenen hinein wird gegen Gleichheitsansprueche das Freiheitsprinzip hochgehalten. Doch stehen Gleichheit und Freiheit im Gegensatz zueinander? Ist nicht Freiheit an eine gewisse Gleichheit der Verwirklichungschancen von Individuen gebunden? eine fundierte sozialwissenschaftliche Kritik muesste auch auf die "Dritte-Weg"- und “Neue Mitte” sowie “New Economy”-Rhetorik eingehen. Denn auch bei Giddens, Schroeder/ Blair etc. werden Freiheit und Gleichheit gegeneinander ausgespielt. Welche sozial-demokratischen Traditionsbestaende werden da aufgegeben?

Zur Beantwortung dieser Frage kann es sinnvoll sein, die Geschichte der politischen Theorien und Politischen Oekonomie zu rekapitulieren. Wie sind die Fragen nach der Gerechtigkeit von Smith, Malthus, Marx aufgeworfen und wie sind sie beantwortet worden? Wieviel Utopie steckt in den jeweiligen Antworten? Und wie sind sie von sozialen und politischen Bewegungen oder Parteien aufgegriffen, reformuliert, umgesetzt und pervertiert worden?

Auch wenn die Antworten auf Gerechtigkeitsfragen notwendigerweise an normative Voraussetzungen gebunden sind, die expliziert werden muessen, geht es auch um historische oekonomische und soziale Probleme. Diese koennen thematisch sehr tief gefaechert werden, und daher verstehen sich die folgenden Themen eher als exemplarisch und keinesfalls als enumerativ: im Kontext der Politik der Haushaltskonsolidierung in der BRD ist die Frage der Generationengerechtigkeit ins Zentrum gerueckt worden. Die Staatsverschuldung wird ja durch Einsparungen bei den (Sozial)ausgaben mit dem Argument zu verringern versucht, man koenne die Last der Bedienung der Schulden nicht den kuenftigen Generationen aufbuerden. Dabei geht natuerlich der Kontext der Verwendung von Staatsschulden ebenso verloren wie die nichtmonetaere Dimension der intergenerationellen Gerechtigkeit. Auch verschwinden alternative Formen der Reduzierung des Schuldendienstes (Zinssenkung, Vermoegenssteuer etc.) aus dem Horizont. Welches Gewicht hat also das Argument der Generationsgerechtigkeit in der finanzpolitischen Debatte?

Auch bei der Alterssicherung stellen sich Fragen der Generationengerechtigkeit: Durch welche Methoden wird ein “Gleichgewicht” zwischen Sicherung der nicht mehr aktiven Generation durch Renten, Pensionen etc. und Belastung der jeweils aktiven Erwerbspersonen gewaehrleistet, insbesondere wenn die Verschiebungen der Altersstruktur in Rechnung gestellt werden?

Welche sozialen, oekonomischen, politischen Bedingungen verhindern Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und welche Voraussetzungen sind fuer die “Schliessung der Gerechtigkeitsluecke” zwischen den Geschlechtern zu erfuellen?

Der Zugriff auf die globalen Ressourcen ist extrem ungleich; die Umweltnutzung ist nachgerade “oligarchisch” oder “plutokratisch”. DieFrage der Umweltgerechtigkeit rueckt immer mehr ins Zentrum, zumal nachhaltiger Umgang mit den Ressourcen nur umgesetzt werden kann, wenn Gerechtigkeitskriterien explizit angewendet werden.

Eine ganz wesentliche Frage ist die Gerechtigkeit bei der Privatisierung oeffentlichen Eigentums. Dient die Privatisierung der Herstellung einer gerechte(re)n Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung oder handelt es sich dabei um einen skrupellosen Akt der privaten Aneignung? Hier koennten Fallstudien von Transformationsprozessen hilfreich sein.

Vielleicht sollte im Editorial die Frage nach den Quellen von Reichtum und Armut in Zeiten der Globalisierung aufgegriffen werden. Wenn die Welt in Glaeubiger (Geldvermoegensbesitzer, Kapitaleigner) auf der einen Seite und Schuldner auf der anderen Seite, und nicht nur Kapital und Arbeit gegliedert ist und daraus eine Dynamik wachsender Ungleichheit entsteht – ist dann ueberhaupt “Gerechtigkeit” in der globalisierten Welt moeglich?

Die Beitraege zum PROKLA-Heft zu Fragen der Gerechtigkeit beabsichtigen die Fundierung einer hochgradig normativ besetzten Debatte, deren politische Relevanz ausser Frage steht.

Das Heft wird als PROKLA 121 im Dezember 2000 erscheinen. Redaktionsschluss ist der 15.10.2000

Interessenten moegen Exposés so frueh wie moeglich an die Redaktion Prokla@zedat.fu-berlin.de senden, um eine vernuenftige Heftplanung zu ermoeglichen.

Prof. Dr. Dorothea Schmidt"

<doschmid@fhw-berlin.de>


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: "Prof. Dr. Dorothea Schmidt" <doschmid@fhw-berlin.de>
Subject: Veröffentlichung in der Liste
Date: 18.05.2000


Copyright ©1996-2002, H-Soz-u-Kult · Humanities · Sozial- und Kulturgeschichte

Termine 2000