Jüdischer Widerstand in Deutschland ist immer noch ein kaum bekanntes
Kapitel der NS-Geschichte
Ausstellung "Juden im Widerstand" in Berlin eröffnet / Erinnerung an
drei Berliner Gruppen
Berlin, 9. November. Widerstand von Juden in Deutschland ist immer noch ein weitgehend unbekanntes Kapitel. Während der Eröffnung der Ausstellung "Juden im Widerstand" am 9. November erinnerte die Historikerin Barbara Schieb an dieses von der Geschichtswissenschaft lange Zeit kaum beachtete Thema. "Gerade in der DDR wurde der jüdische Widerstand verklärt und verfälscht", sagte Schieb am Donnerstag in Berlin. Die von der Informationsstelle "Jugend unterm Hakenkreuz" e.V. konzipierte Ausstellung informiert über drei kaum bekannte Gruppen, in denen Berliner und Brandenburger Juden und Nicht-Juden sich aktiv gegen die Vernichtungspolitik des NS-Regimes stellten und zwischen 1939 und 1945 in und um Berlin im weitesten Sinne Widerstand leisteten. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt die Wanderausstellung derzeit im Sitz der Stiftung am Franz-Mehring-Platz 1.
"Herbert Baum-Gruppe": Jüdische Ursprünge lange Zeit verleugnet
In ihrer Eröffnungsansprache stellte sich Barbara Schieb gegen die
Verklärung und Verdrängung des jüdischen Widerstandes. Besonders
die Gruppen um den jüdischen Widerständler Herbert Baum seien einseitig
als Kommunisten dargestellt worden, ihre jüdisch-zionistischen Wurzeln
habe man verleugnet. "Das Spektrum der Menschen in den Gruppen um Herbert
Baum war sehr viel breiter und vielfältiger als ihr landläufiges
Label 'Kommunistisch-jüdische Gruppe'", so Schieb.
Die Ausstellung "Juden im Widerstand" bricht mit diesem einseitigen Bild und zeigt anhand von Selbstzeugnissen der Gruppe deren Quellen in der jüdischen Jugendbewegung auf. Die als "Baum-Gruppe" bekannten Freundeskreise und politischen Gruppierungen um Herbert Baum hatten antinationalsozialistische Schulungsarbeit geleistet und Flugblätter verfasst. 1942 verübte sie einen Brandanschlag auf eine NS-Propaganda-Ausstellung am Berliner Lustgarten. Wenig später wurden viele ihrer Mitglieder verhaftet und ermordet.
Chug Chaluzi: Einzige religiös-zionistische Widerstandsgruppe in Deutschland
Fast gänzlich unbekannt war bis vor einigen Jahren noch die Gruppe "Chug
Chaluzi" (Kreis der Pioniere). Im Februar 1943, als mit der so genannten
"Fabrikaktion" die letzten noch in Berlin lebenden Juden deportiert werden
sollten, hatte der bereits untergetauchte Lehrer Jizchak Schwersenz unter
diesem Namen Kinder und Jugendliche um sich versammelt. Ziel der Jugendgruppe
war es, Fluchtwege ins Ausland zu suchen oder die Befreiung durch die alliierten
Armeen in der Illegalität zu erwarten. Nach der geglückten Flucht
von Schwersenz in die Schweiz wurde die Gruppe von Gad Beck fortgeführt.
Anhand der Gruppe lässt sich der gebräuchliche, durch die
Historiographie des 20. Juli 1944 geprägte Widerstandbegriff
problematisieren: "Widerstand" hieß hier "widerstehen" im Sinne einer
Überlebensstrategie. Noch im Untergrund vermittelte die Gruppe
religiöse und zionistische Inhalte an ihre jugendlichen Mitglieder.
"Der Chug Chaluzi ist damit die einzige Widerstandsgruppe innerhalb Deutschlands,
die aus jüdisch-religiösen Motiven heraus handelte", sagt Barbara
Schieb. Tatsächlich gelang der überwiegenden Mehrheit der Mitglieder
dieser Gruppe das Überleben durch die Hilfe von Nichtjuden, Einzelne
wurden jedoch auch in dieser Gruppe Opfer der Vernichtung.
Gemeinschaft für Frieden und Aufbau: Verspätete Anerkennung
Wenig bekannt ist auch die Widerstandsgruppe "Gemeinschaft für Frieden
und Aufbau", eine in Luckenwalde operierende Gruppe, deren Mitglieder vorwiegend
aus mittelständischen und kleinbürgerlichen Verhältnissen
stammten. Sie bildete sich im September 1943 und von untergetauchten Juden
aktiv mitgetragen. Werner Scharff war als rassisch Verfolgter aus dem KZ
Theresienstadt entkommen, bevor er die Widerstandsgruppe gründete. Er
und der vormalige Gestapo-Mitarbeiter Hans Winkler versteckten und
unterstützten illegal lebende Juden, beschafften falsche Papiere und
verschickten Kettenbriefen mit dem Aufruf zu "passivem und aktivem Widerstand".
Außerdem nahm die Gruppe Kontakt zu organisierten
Kriegsgefangenen auf. Jüdischen Gestapo-Spitzeln, sogenannten "Greifern" mit der Aufgabe versteckte Juden aufzuspüren, stellten sie fingierte Todesurteile zu, die jedoch nicht ausgeführt wurden. Auch die Gemeinschaft konnte von der Gestapo zerschlagen werden, durch das Kriegsende kam es jedoch nicht mehr zu Verurteilungen. Sechs Mitglieder der "Gemeinschaft" wurden dennoch in Lagern ermordet.
Historiker plädieren gegen Vergessen
"Nach dem Krieg traf auch die 'Gemeinschaft' das Schicksal des völligen
Vergessens", sagte Barbara Schieb. Die bundesrepublikanische Geschichtsschreibung
interessierte sich nicht für diese indifferente Gruppe, die DDR entzog
den Nicht-Kommunisten sogar die Anerkennung als "Verfolgte des Naziregimes".
Dem ehemaligen Widerstandskämpfer Günther Naumann, der 1944 einen
Teil der Flugblätter hergestellt und über einen langen Zeitraum
ein jüdisches Ehepaar beherbergt hatte, schloss man 1953 aus der VVN
("Verein der Verfolgten des Naziregimes") aus, weil er kein SED-Mitglied
werden wollte. "Heute ist er einer der wenigen, der bemerkt und bedauert,
dass der Luckenwalder VVN-Gedenkstein mit Graffitis überzogen, von niemandem
beachtet ein trauriges Dasein führt, sagt Barbara Schieb. In Anwesenheit
von Zeitzeugen plädierte sie für ein Ende des Vergessens und der
Vereinnahmungen: "Wir sollten uns diesem Thema annähern, ohne die damaligen
Akteure zu funktionalisieren. Wir dürfen denen, die noch leben,
zuhören, ihnen Fragen stellen und von ihnen lernen."
Die Ausstellung "Juden im Widerstand" ist bis einschließlich 30. November am Franz-Mehring-Platz 1 zu sehen (4. Etage, Öffnungszeiten: 9-18 Uhr). Die Ausstellung wandert seit 1994 und war bisher in zwölf verschiedenen Städten zu sehen. Sie zeigt Selbstzeugnisse und Dokumente der Täter: Fotos, Briefe, Akten, Flugblätter, Plakate sowie Tonaufnahmen und ein Video.
Zur Ausstellung ist ein Begleitbuch erschienen:
Juden im Widerstand. Drei Gruppen zwischen Überlebenskampf und politischer
Aktion, Berlin 1939-1945. Hrsg. v. Wilfried Löhken und Werner Vathke,
Berlin: Edition Hentrich 1993 (=Reihe Deutsche Vergangenheit 87). 208
Seiten, 22 DM (ISBN 3-89468-068-7).
(Mit Beiträgen von: Karsten Borgmann, Eric Brothers, Simone Erpel, Eike
Geisel, Michael Kreutzer, Bodo Mrozek, Arnold Pauker, Barbara
Schieb, Christine Zahn.)
Die Ausstellung kann bei der "Informationsstelle Jugend unterm Hakenkreuz e.V." ausgeliehen werden. Weitere inhaltliche und technische Informationen bietet die Website: http://userpage.fu-berlin.de/~bodomr/
Für nähere Informationen oder Pressematerial wenden Sie sich bitte direkt an: Bodo Mrozek, Telefon 030-448 63 96, e-mail: BodoMrozek@aol.com
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