Liebe Listenmitglieder,
der Arbeitskreis fuer Agrargeschichte, ein Zusammenschluss von mehr als 100 Historikerinnen und Historikern, die sich mit der Geschichte des Dorfes, der Bauern, der laendlichen Gesellschaft o.ae. beschaeftigen, veranstaltet am 18. Juni 1999 im Goettinger Max-Planck-Institut fuer Geschichte seine Sommertagung.
10:00 Uhr Werner Roesener (Historisches Institut der Justus-Liebig- Universitaet Giessen) Begruessung
10:15 Uhr Stefan Brakensiek (Fakultaet fuer Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universitaet Bielefeld) Einfuehrung in die Thematik
10:30 Uhr Jeanette Neeson (Department of History, York University, Toronto) Recent historiography on the effects of English parliamentary enclosure
11:00 Uhr Diskussion des Beitrags zu England
11:30 Uhr Reiner Prass (Max-Planck-Institut fuer Geschichte, Goettingen) Die Reformen im Dorf. Gemeinheitsteilungen im Beziehungsgeflecht doerflicher Gesellschaften
12:00 Uhr Diskussion des Beitrags zu Deutschland
12:30 Uhr Mittagspause
14:00 Uhr Nadine Vivier (Département d´Histoire, Université du Maine, Le Mans) Politische und soziale Hemmnisse gegen die Aufteilung der Gemeinheiten in Frankreich 1750 - 1800
14:30 Uhr Gérard Beaur (Centre de Recherches Historiques, EHESS Paris) Eine verdaechtige Diskussion. Gemeinheitsteilungen, Landmarkt und Agrarmodernisierung in Frankreich 1750 - 1850
15:00 Uhr Diskussion der beiden Beitraege zu Frankreich, Abschlussdiskussion
16:00 Uhr Kaffeepause
16:30 Uhr Mitgliederversammlung des Arbeitskreises Agrargeschichte
Die Sommertagung befasst sich mit einem klassischen Thema der europaeischen Agrargeschichte, den Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen (enclosures / partages des communaux). In den letzten Jahren sind in England, Frankreich und Deutschland Studien erschienen, die unser Bild von der "Durchsetzung des Agrarindividualismus" (Marc Bloch) deutlich veraendert haben. Bislang wurden die neuen Erkenntnisse jedoch vorwiegend innerhalb der jeweiligen nationalen Forschungstradition verortet. Die Tagung soll die aktuellen Ergebnisse einem internationalen Vergleich zufuehren, dadurch die Gemeinsamkeiten und Differenzen hervortreten lassen, und so zu einer Schaerfung der Begriffe und Ueberpruefung der Konzepte beitragen.
Die Privatisierung kollektiver Nutzungen konnte die Form einer von den Staatsbehoerden angeordneten und angeleiteten "Reform von oben" annehmen, auf Initiative der Nutzer in Form eines privatrechtlichen Vertrags vonstatten gehen, aber auch durch gewaltsame Aneignung ehemals gemeinschaftlich genutzten Boden in das Privateigentum eines einzelnen ueberfuehren. Die Privatisierungen betrafen zum einen Aecker, Wiesen, Weiden, Heiden, Waelder, Gewaesser und Moore, die sich im Besitz von Gemeinden oder Genossenschaften befunden hatten, zum anderen kollektive Nutzungsrechte (Stoppelhude und Aehrenlese auf den Feldern, Sammeln von Streumaterial und Brennholz, Schweinemast und Rinderhude in den Forsten, Torf- und Soodenstechen in Mooren und Heiden, Fruehjahrsweide auf den Wiesen u.v.m.), die als Berechtigungen Dritter (Servitute) auf Grundstuecken in Privatbesitz gelastet hatten. Die Verkoppelungen (Separationen, Vereinoedungen, Flurbereinigungen) sollten dafuer sorgen, dass der einzelne Landwirt seinen zuvor in zahlreiche Parzellen auf die ganze Gemarkung verteilten Grundbesitz in wenigen arrondierten Flaechen zugeteilt erhielt, moeglichst in Naehe der Wirtschaftsgebaeude.
Dieser Vorgang der Privatisierung und Individualisierung sorgte fuer eine tiefgreifende Umwaelzung der Wirtschaftsweise auf dem Lande, er zeitigte aber nicht nur oekonomische Folgen, sondern veraenderte auch das Landschaftsbild und griff dadurch in die oekologischen Systeme ein. Er betraf ausserdem die soziale Lage der Landbewohner, konnte die bestehende Ungleichheit mildern oder verschaerfen. Er griff tief in das politische Leben der Doerfer ein und war Ursache und Folgewirkung zugleich fuer den fundamentalen Wandel der Kultur und der Mentalitaet ihrer Bewohner.
Die neueren Arbeiten nehmen meist einen Akteurs-bezogenen Standpunkt ein, d.h. sie versuchen die Privatisierungsvorgaenge in ihre jeweiligen zeitlichen und lokalen Kontexte einzubetten und sie in Beziehung zu setzen zu den materiellen und ideellen Interessen sowie den kulturellen Leitvorstellungen der historischen Subjekte. Der Wandel wird auf das Handeln zahlreicher, miteinander interagierender Akteure zurueckgefuehrt, waehrend die aeltere Forschung entweder maechtige Aussenseiter als Handelnde privilegierte (Gesetzgeber, aufgeklaerte Beamte, Agrarschriftsteller, reformorientierte Gutsbesitzer) oder zu System-Begriffen neigte, d.h. anonyme Maechte (Staat, Markt, Kapitalismus, Modernisierung) wirksam werden liess. Die aufgrund der neuen Herangehensweisen gewonnenen Ergebnisse sollen verglichen werden.
Dr. Stefan Brakensiek
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