Simon-Dubnow-Institut fuer juedische Geschichte und Kultur, Leipzig

Call for Papers: "Die polnische Judenheit 1918-1939. Lebenswelten und politisches Handeln", Leipzig, 12. und 13.12.1999

"Worin besteht heute die Rolle der polnischen Judenheit, was ist ihre Bestimmung? Sowohl qualitativ als auch quantitativ ist es ihre Bestimmung, und wohl bald auch ihre Berufung, der Judenheit der ganzen Welt voranzuschreiten."

Zu diesem Schluss kam Ozjasz Thon als fuehrender Vertreter der gemaessigten Zionisten im Jahre 1932. Vor dem Hintergrund der in der polnischen Judenheit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs weit verbreiteten Befuerchtungen, dass sich ihre Lage als ethnische Minderheit im restituierten polnischen Nationalstaat im Vergleich zum multinationalen russlaendischen Imperium eher verschlechtern werde, belegt das Diktum Thons den Bewusst-seins-wandel, den die juedische Bevoelkerung in einem tief in den Alltag hineinreichenden Prozess der Anpassung an den neuen staatlich-politischen Kontext vollzogen hatte. Ausgehend von der Frage nach dem Stellenwert von Ethnizitaet im Uebergang von den im Weltkrieg untergegangenen Vielvoel-kerreichen zu den neuen Nationalstaaten in (Ost-)Mittel-europa sollen diese Veraenderungen in der Lebenswelt der polnischen Judenheit sowie die verschiedenen Optionen kollektiven und individuellen Handelns in ihr im Mittelpunkt der Tagung stehen.

Ethnische Minderheiten wurden mit der Entstehung neuer Nationalstaaten nach 1917/18 vor grundlegend andere Lebensbedingungen gestellt. Im polnischen Kontext zog der Krieg um die Grenzen des Gemeinwesens im Zuge der Staatsbildung schwerwiegende Folgen fuer die juedische Bevoelkerung nach sich; bei den Versailler Friedensverhandlungen konnte Polen nur durch internationalen Druck gezwungen werden, die vor allem auf juedische Interventionen zurueckgehenden Minderheitenschutzver-traege zu unterzeichnen. In der Folgezeit sollte sich zeigen, dass die hegemonial ausgerichtete Politik der polnischen Machteliten sowohl auf die Kompensation des in der Teilungszeit erlittenen Unrechts, aber auch auf die Revision der Ergebnisse von Versailles ausgerichtet war, was sich an ihrem Umgang mit den Minderheiten ablesen laesst.

Fuer die polnische Judenheit galt es nunmehr, mit dem Widerspruch zwischen einem zunaechst demokratisch verfassten, jedoch minderheitenfeindlichen Nationalstaat und einem kulturellen wie politischen Pluralismus zu leben. Eine Annaeherung an die juedischen Lebenswelten im Zwischenkriegspolen bedarf zudem einer genaueren Analyse der Sozialstruktur und des sozialen Wandels nach 1918. Zu behandeln sind ausserdem die bis dahin ungekannten Moeglichkeiten der politischen Partizipation wie auch der kulturellen Entfaltung, die die Lebenswelt der Zweiten Republik charakterisierten. Das Beziehungsgeflecht von Mehrheits-bevoelkerung und juedischer Minderheit zeichnete sich im Alltag durch ein breites Spektrum von Kooperation, Konflikt und Ausgrenzung aus; eine dominierende Rolle spielte hierbei insbesondere in den 30er Jahren der Antisemitismus.

Des weiteren ist zu fragen, wie die juedische Bevoelkerung ihrerseits auf die veraenderten Lebensbedingungen nach 1918 reagierte, welchen Stellenwert etwa die Alternative "do oder dort", Bleiben oder Fortgehen, hatte. Sie wie auch die sprachliche Orientierung und die sozialen und politischen Gruppenbezuege bestimmten die in der Zwischenkriegszeit entwickelten politischen Handlungsmuster, die sich insgesamt durch eine aussergewoehnliche Vielfalt auszeichneten und von einer hochentwickelten politischen Kultur der polnischen Judenheit zeugen. Einzelne Beispiele koennen dies exemplarisch verdeutlichen. Fuer die Reproduktion der verschiedenen Varianten juedischer Identitaet in Polen waren die Bereiche Jugend und Erziehung von entscheidender Bedeutung, nicht zuletzt auch in Hinblick auf die unterschiedlichen Sprachmuster. Entsprechend ist dieser Themenkomplex auf der Tagung ebenfalls zu beruecksichtigen.

Vorschlaege fuer Vortraege, die in englischer oder deutscher Sprache gehalten werden koennen, sind bis 30.8.1999 zu richten an:

Dr. Gertrud Pickhan oder Dr. Francois Guesnet (dubnow@rz.uni-leipzig.de )

Simon-Dubnow-Institut fuer juedische Geschichte und Kultur
Leitung: Prof. Dr. Dan Diner
Goldschmidtstrasse 28
D-04105 Leipzig
Tel. ++49-(0) 341-217 35 54


Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>

From: Guesnet <guesnet@rz.uni-leipzig.de>
Subject: Call for Papers Leipzig
Date: 03.08.1999


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