H-Soz-u-Kult Review-Symposium:

Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus


Ein kleiner Kreis von Männern

von Karen Schönwälder, Berlin - Email: <kschoenwaelder@t-online.de>

"Warum habt Ihr nicht gefragt?" Diese Ausgangsfrage des Buches zeigt schon, daß es Teil einer Debatte ist, in der in den letzten Jahren drängender nach der nationalsozialistischen Vergangenheit der deutschen Geschichtswissenschaft gefragt und etablierten Professoren ein zu unkritischer Umgang mit ihren "Lehrern" zum Vorwurf gemacht wurde. Das Buch spiegelt die Entwicklung dieser Debatte zu einer Schieder/Conze-Debatte. Eigentlich ist dies ja auch ein Buch über die GWS in der BRD und vor allem über einige einflußreiche Professoren und zwei Professorinnen, die hier Raum erhalten, ausführlich über ihren Familienhintergrund, Studienmotivationen, die Lehrveranstaltungen, die sie besuchten etc. zu berichten. Das so gesammelte Material bietet einen reichen Informationsschatz zum persönlichen Profil vieler bekannter bundesdeutscher HistorikerInnen. Aufgefallen ist mir, daß verschiedentlich angesprochen wird, wie politische Erfahrungen, z.B. die Spiegel-Affäre, das eigene Denken beeinflußten. Fast alle Gesprächspartner betonen den Wert von Auslandserfahrungen und den Einfluß, den Emigranten auf sie ausübten.

Generell liessen die Interviewer ihre Gesprächspartner erzählen und intervenierten nur sehr zurückhaltend. Im sicherlich so beabsichtigten Ergebnis werden uns also eher Selbstdarstellungen als Zeugnisse einer kritischen Auseinandersetzung angeboten. Grenzen und Reichweite der Methode werden allerdings in einleitenden Kapiteln ausführlich reflektiert. Nicht recht nachvollziehbar ist die Entscheidung, nur VertreterInnen der Neueren und Neuesten Geschichte zu befragen. Wäre es nicht gerade interessant gewesen zu prüfen, inwieweit die Debatte das Fach in seiner Breite erfaßt hat? Sind die Kontinuitäten nicht gerade etwa in der mittelalterlichen Geschichte groß? Das Fehlen der osteuropäischen Geschichte, deren Rolle vor 1945 besonders brisant war und die dennoch eine selbstkritische Überprüfung ihrer Traditionen lange umging, ist eine deutliche Lücke. Zumindest in der Bibliographie hätte man weitere Hinweise geben können. Ein Althistoriker, wie der in Marburg lehrende Karl Christ, der schon zwanzig Jahre vor dem Frankfurter Historikertag in Seminaren die NS-Vergangenheit seiner Disziplin thematisierte und Arbeiten dazu anregte, sollte auftauchen.

Zur Geschichtswissenschaft im NS versprechen die Herausgeber (S. 29) sachlich wenig Neues. Einige Einschätzungen sind aber durchaus interessant - auch als Spiegel des Diskussionsstandes (z. B. beide Mommsens). Zum Nachdenken regt auch der Bericht über die Marginalisierung Wilhelm Mommsens nach 1945 an: Ging es hier tatsächlich nur um seine Anpassung an den NS oder rächten sich einige Kollegen nun an dem Demokraten der Weimarer Jahre? Dominierend ist nun die Erkenntnis, wie eng doch auch die Geschichtswissenschaft eingebunden war in das NS-System und in diesem Sinne eben auch Teil der deutschen Gesellschaft war. Es finden sich allerdings auch die alten entschuldigenden Wendungen: vom Festhalten an wissenschaftlichen Standards (Vierhaus, S. 82; Einleitung, S. 31) - als verweise dies auf eine Distanz zum NS - und den Historikern, die sich eben nur von einem ihnen scheinbar fremden System "in Anspruch nehmen" liessen (S. 82). Für Wolfram Fischer gilt weiterhin, daß die Mehrzahl "Mitläufer" waren (S. 110), und merkwürdigerweise meinen auch die Herausgeber Hohls/Jarausch, daß "passive Akzeptanz in nationalem Konsens" die unter der Mehrheit der deutschen Historiker vorherrschende Haltung gewesen sei (S. 30f.). Michael Stürmer demonstriert, daß zumindest einige Historiker weiterhin entschlossen sind, neuere Debatten und Erkenntnisse nicht an sich herankommen zu lassen ("ohne Urteilsvermögen", "mitgeschwommen", "taumelnd", S. 362f.) und diffamiert diejenigen, die Augen und Mund nicht verschliessen wollen, als "Großinquisitoren". Der Trend aber geht hin zur Anerkennung einer Einbindung auch dieser Eliten in ein NS-System, das eben nur als ein die deutsche Gesellschaft durchdringendes System verständlich ist.

Warum kommt die Debatte so spät, und was sagt uns das über die GWS in der Bundesrepublik? Viele wichtige Aspekte werden im Buch - in unterschiedlicher Gewichtung - benannt. Lange Zeit war eine solche Debatte einfach unerwünscht. Sie hätte in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, wie für andere Eliten, auch für die Historiker bedeutet, daß ihre Legitimation, in der Bundesrepublik eine wichtige Rolle zu spielen, infrage gestellt worden wäre. Und noch mehr: Viele Historiker sahen sich - wie in der Fischer-Kontroverse demonstriert - als Hüter eines Geschichtsbildes, in dem der Nationalsozialismus eine der deutschen Gesellschaft aufgezwungene Diktatur einer kleinen Minderheit und ein Bruch mit den Entwicklungslinien deutscher Geschichte sein mußte, damit nicht auch der 1871 gegründete Nationalstaat und Kontinuitäten des Expansionsstrebens in die Kritik gerieten. Dies war zunehmend weniger haltbar. Aber in den achtziger Jahren wurde dann erneut - u.a. durch den hier befragten Michael Stürmer, gepredigt, daß die Deutschen wieder mehr Nationalstolz brauchten und ein Bild der deutschen Geschichte als Irrweg und eine 'Fixierung' auf die NS-Vergangenheit dem nicht dienlich sein könne.

Wolfgang Abendroth (ab 1951 Professor für Politikwissenschaft in Marburg) berichtete in "Ein Leben in der Arbeiterbewegung", daß er ab 1957 eine Seminarreihe veranstaltete "zur Aufarbeitung der Publikationen der wichtigsten Geisteswissenschaftler und Juristen des Dritten Reiches", die in Marburg lehrenden Kollegen aber aus taktischen Rücksichten ausklammerte. Ein Student, der dennoch in einer Studentenzeitung einen Juristen mit Zitaten aus seinen Publikationen während der NS-Zeit angriff, sei von der Universität relegiert und strafrechtlich verfolgt worden (S. 236, 258f.). Während dieser Student damals kaum Unterstützung erfahren habe, habe sich Mitte der sechziger Jahre das Klima verändert und Studierende begonnen, sich auch mit der Vergangenheit ihrer Professoren zu beschäftigen. Auch in den Interviews des hier besprochenen Bandes wird mehrfach erwähnt, daß durch die Studentenbewegung auf diese 'braune Vergangenheit' hingewiesen und schon damals kritische Fragen gestellt wurden. Zur Studentenbewegung aber hatten offenbar die meisten hier Befragten ein distanziertes Verhältnis, nur Jürgen Kocka erwähnt seine Beteiligung an Demonstrationen.

Schon 1969 wurden, wie Wolfgang Schieder berichtet, Conze-Zitate mit antisemitischen Wertungen bekannt gemacht. "Daß [Theodor] Schieder eine braune Vergangenheit hatte", war Hartmut Lehmann Ende der sechziger Jahre klar (S. 329f.). Hans-Ulrich Wehler las dessen Veröffentlichungen aus der NS-Zeit - allerdings um für Angriffe aus der DDR gewappnet zu sein und wohl weniger, um selbst Schieder anzugreifen (S. 253). Im Versuch, diesen Verzicht auf eine offene Auseinandersetzung zu erklären, spielen - wohl dem Charakter eines Gesprächsbandes geschuldet - persönliche Faktoren eine relativ große Rolle: Rücksichten auf verehrte "Lehrer", Hemmungen, Ängste ... Während Helga Grebing heute solche falschen Rücksichten bedauert, verteidigt Winfried Schulze, was er für "Normen menschlichen Verhaltens" hält (S. 417). Wichtiger scheinen mir die Integrations- und Disziplinierungsmechanismen der "Zunft" zu sein. Ein hervorstechender Eindruck, den die Interviews vermitteln, ist, wie sehr die Geschichtswissenschaft in den fünfziger und sechziger Jahren ein kleiner Kreis von Männern war, die sich kannten und Karrieren kontrollierten. Immer wieder ist die Rede von persönlichen Empfehlungen und Beziehungen, Strukturen, die Adelheid von Saldern als männerbündisch attackiert. Mehrfach werden Schwierigkeiten bei den Habilitationsverfahren erwähnt. Nachdrücklich verweist Hans Mommsen auf den "Faktor personalisierter Macht [...] - diese Leute entschieden über Karrieren, und es gab gar keine Möglichkeit, dagegen zu rebellieren" (S. 184). Nun brauchen sich etliche der hier befragten HistorikerInnen nicht vorwerfen zu lassen, neue Fragen und provokative Thesen vermieden zu haben. Nicht ganz zu Unrecht verweisen einige darauf, daß es viele vernachlässigte Fragen gab, und die nach der Vergangenheit der Disziplin nicht unbedingt die Dringendste war. Aber für die achtziger und neunziger Jahre und die Disziplin insgesamt trägt dieses Argument wohl nicht mehr. Eine Reihe von Historikern müssen sich vorwerfen lassen, nicht 'Fragen versäumt' zu haben, sondern aktiv die alten Legenden von der GWS verbreitet zu haben, die bis auf einige "heute peinlich anmutende Vorworte" (Horst Möller) vom NS unberührt blieb (s.o. Michael Stürmer). Lothar Gall verteidigt in diesem Band die bundesdeutsche GWS, indem er jede relevante Kontinuität abstreitet - für H.A.Winkler und W. Schulze steht diese (doch auch offensichtliche?) Kontinuität außer Zweifel. Lange war die Debatte nicht erwünscht, oder man wollte glauben, daß es nichts zu debattieren gebe. Als 1991 Winfried Schulze einen angesehenen Verlag davon abbrachte, mein Buch zu publizieren und es dann in der "Zeit" unter dem Motto "nicht viel Neues" rezensierte, habe ich mich u.a. gefragt, ob er wirklich nur das Buch schlecht fand, oder vielleicht auch die Diskussion zu diesem Zeitpunkt und in dieser Form nicht wollte. Wolfgang Mommsen unterstützte mich übrigens damals. Es bedurfte wohl auch der Provokation der Schieder-Denkschrift und hartnäckiger Nachfragen dazu sowie einer Entwicklung, in der selbst Banken und Versicherungskonzerne sich ihrer Vergangenheit stellten, um den Historikerverband in Bewegung zu setzen.

Noch eine persönliche Bemerkung sei erlaubt: Als ich 1990 meine Doktorarbeit abgeschlossen hatte, wurde mir verschiedentlich zu meinem Mut gratuliert. Zu Recht? Ob es tatsächlich noch ein Risiko bedeutete, sich in einer Doktorarbeit mit diesem Thema zu beschäftigen, ob potentielle Betreuer solche Themen ablehnten, weiß ich nicht. Zumindest aber scheint es noch vor einigen Jahren an historischen Fachbereichen ein Klima gegeben zu haben, in dem jüngeren HistorikerInnen es eher ratsam erschien, ein so heißes Thema zu vermeiden. Ob bestimmte Fragen gestellt werden, ist sicher auch eine Frage der Zivilcourage. Die aktuelle Debatte über die GWS werden jüngere HistorikerInnen hoffentlich auch als Forderung an sich selbst interpretieren, kritische Positionen lauter zu vertreten und die manchmal etwas zu brave und anpassungsbereite Historikerschaft aufzumischen. Nachdenken aber sollte man auch über Strukturen, die WissenschaftlerInnen jahre-, ja jahrzehntelang in Abhängigkeiten festhalten, die zur vielfältigen Rücksichtnahme zwingen und kritisches Denken nicht gerade heftig ermuntern. Über heutige Machtstrukturen schweigen sich die befragten HistorikerInnen aus - auch wenn z.B. der Multifunktionär Gall dazu sicher einiges hätte erzählen können.

Als Fußnote: Über Hierarchien habe ich auch nachgedacht, als ich sah, daß die Interviews, die das Buch zum größten Teil ausmachen, von einer Gruppe Studierender durchgeführt wurden, nicht sie aber (oder Projektleiter und Interviewer gemeinsam), sondern zwei Lehrende als Herausgeber auftreten.


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