H-Soz-u-Kult Review-Symposium:

Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus


Der Habitus des Deutschen Professors

von Ursula Meyerhofer, Zürich - Email: <113350.2442@compuserve.com>

Dass Historiker sich selber interviewen, ist eher ungewöhnlich; genau dies tut der Band mit Interviews mit hervorragenden deutschen Neuzeit-Lehrstuhlinhabern. 17 bekannte Ordinarien im Alter zwischen Ende 50 (Winfried Schulze) und Ende 70 (Rudolf Vierhaus) "stellten" sich Interviews mit Studenten der Humboldt-Universität zu Berlin. Ausgangspunkt dieses Projektes, das vorab im email-Netz der Historiker "H-Soz-u-Kult" erschien, ist der seit dem letzten Historikertag mehr oder weniger stark schwelende Konflikt um die Rolle der Lehrergeneration der heutigen "großen" Ordinarien, die als Vertreter der modernen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte schulbildend geworden sind, allen voran Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler. Diese berufen sich auf die innovative Vorreiterfunktion der Arbeiten ihrer "Lehrer" Theodor Schieder und Werner Conze für die moderne Sozialgeschichte. Von diesen und anderen ist aber inzwischen bekannt geworden, daß sie mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit aktiv am nationalsozialistischen Regime beteiligt waren - eine offenbar neue Erkenntnis, die bis vor kurzem noch unter der Annahme, die Geschichtswissenschaft hätte nur über wenige radikale Nationalsozialisten verfügt, und der Rest sei weitgehend unpolitisch gewesen, verborgen war. Auffallend war nun am Historikertag von Frankfurt/Main 1998 die "Verteidigungsposition" der heutigen Großordinarien, wo doch gar "keine Anklage vorlag" (so die Interviewerin Schäfer). Neue Forschungsergebnisse belegen, dass die wichtigsten Figuren Conze und Schieder, aber auch zahlreiche andere, sich in ihrer "ersten" Karriere im Dritten Reich dem Regime zielgerichtet angedient haben. Sie waren an Netzwerken beteiligt, die die Eroberung des Raumes im Osten vorbereiteten und leisteten durch Gutachten und andere Zuarbeit aktive Politikberatung. Arbeiten wie die von Götz Aly, Peter Schöttler, Ingo Haar und Michael Fahlbusch zeigen, daß diese Historiker, die in den 50er Jahren junge Historiker ausbildeten, in den Jahren vor 1945 antisemitische und im Duktus der Vertreibungspolitik gehaltene Schriften verfassten. Das anhaltende Unwohlsein mit der schwach wirkenden Verteidigungsposition der Schülergeneration dieser "putativen Täter" (Hohls, Jarausch), bewog die heutige Enkelgeneration von Historikern, die Herausgeber des Bandes, weitere Nachfragen von der "Großenkelgeneration", den heutigen Studenten, stellen zu lassen.

Das nun innerhalb eines guten Jahres entstandene Buch umfasst Interviews mit siebzehn bekannten Vertretern der Neuzeitforschung, die seit den 70er Jahren Lehrstühle innehaben (nach dem Geburtsjahr: Rudolf Vierhaus, Wolfram Fischer, Gerhard A. Ritter, Helga Grebing, Hans Mommsen, Wolfgang J. Mommsen, Imanuel Geiss, Hans-Ulrich Wehler, Reinhard Rürup, Wolfgang Schieder, Lothar Gall, Hartmut Lehmann, Adelheid von Saldern, Michael Stürmer, Heinrich August Winkler, Jürgen Kocka, Winfried Schulze). Die Interviews werden mit einem biographischen Teil eingeleitet, in dem nach der sozialen Herkunft und dem Lebenslauf bis zur Berufung sowie den Gründen und Motiven für ein Geschichtsstudium gefragt wird. Diesem Teil schließt sich ein zweiter an, die "standardisierten Fragen", die nach der Bewertung der Rolle der Historiker im Dritten Reich fragen, nach der Einschätzung der "Kompensationsthese" von Hans-Ulrich Wehler, nach den "braunen Wurzeln" der Sozialgeschichte, nach der personellen Kontinuität in der Deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, nach einem "Beschweigen" der unrühmlichen Vergangenheit der Historikerschaft nach 1945, nach der Bedeutung von politischer Einflußnahme durch die Geschichtswissenschaft sowie nach der Bedeutung und Bewertung dieses Historiker-Streites. Zur Auswahl der Professoren wird nichts näher erläutert, über die Gründe eines Nichteintretens auf ein erbetenes Interview wird ebenfalls nichts verrraten. Schmerzlich vermissen muss man mit Sicherheit Reinhart Koselleck, der in den fünfziger Jahren die in der Diskussion stehenden Historiker ebenfalls kannte. Auf jeden Fall ist mit den Interviews und besonders deren Veröffentlichung in Buchform ein interessantes Zeitzeugnis für sowohl direkt an den Aussagen Interessierte zustande gekommen, und auch ein wahrnehmenswertes Zeugnis über akademische Lebensläufe in den fünfziger und sechziger Jahren, die so gar nicht zur heutigen Karrieresituation der Absolventen aus den aus der Bildungsreform entstandenen Reformuniversitäten passen.

Im Einleitungswort erklären die Herausgeber die Praxis der Interviews und deren Motive damit daß, "die damaligen Umstände, die entstandenen wissenschaftlichen Schriften und den Kontext akademischen Lehrens und Lernens explizit zu thematisieren" wären. Die Interviews mit der Nachkriegsstudentengeneration sollen "diese wichtige Lücke in der Argumentation durch die Erinnerung von Beteiligten [...] schließen, und dadurch Anregungen zu einer detaillierten Aufarbeitung [...] geben." (S. 21f.). Richtig stellen die Herausgeber bei den Interviewten einen ersichtlichen "Erklärungsnotstand" (S. 30) fest, der bei Historikern eigentlich überrasche, aber deutlich mache, daß es sich bei ihnen auch nur um "Menschen" handelt (S. 28) und sie verorten die "Mittäterschaft" im bürgerlich tradierten "Selbstverständnis" (S. 30). Das Buch hat allerdings einen "Haken"; denn es vereinigt nur retrospektiv aufgenommene "Erfolgsgeschichten" derjenigen, die es in ihrem Fach geschafft haben. Es fehlen Interviews mit "Dissidenten", also engagierten Wissenschaftlern, die nicht zur Siegergruppe gehörten, die nur eine zweitklassige wissenschaftliche Karriere absolvierten oder ausstiegen. Interessant wäre es gewesen, zu hören, was diese Gruppe zu den 50er Jahren und den Machtverhältnissen innerhalb der Disziplin zu sagen hat.

Die hier interviewten Absolventen der Geschichtsstudien betonen, daß sie - und hier beziehen sie sich auf die Fragestellung der Herausgeber - Geschichtsforschung nach 1945 in "Reaktion auf das 3. Reich" verstanden (W. Schulze) und wollen so erklären, wieso sie weniger an der individuellen "Mitschuld" ihrer akademischen Lehrer interessiert waren als an Ursachen des Nationalsozialismus. Auch betonen viele der Interviewten, daß sie die fünfziger Jahre weniger restaurativ wahrgenommen hätten, als das heute geschehen würde, sondern als Aufbruch. Dennoch ist bis in die sechziger Jahre hinein eine stark konservative Färbung des Faches ersichtlich. Auch verliefen die Karrieren der hier Besprochenen in einem Klima von persönlichen Kontakten und paternalistischen Versorgungsmustern. Wer Assistent wurde, konnte damit rechnen, Professor zu werden. So zeigen sich denn auch die interviewenden Studierenden erstaunt ob der Geschlossenheit dieser Lebensläufe von Ordinarien, die sich alle noch aus ihrer Studienzeit untereinander kennen. So ist es auch nicht erstaunlich, wenn die erfolgreichen und heute teilweise als mit mächtigem wissenschaftspolitischem Einfluß ausgestatteten Ordinarien in ihrer Rückschau ein Art Siegeroptik repräsentieren.

Allerdings gibt es einige Bruchstellen in den Karriereverläufen zu verzeichnen, aber es sind nur wenige. So bei Geiss, Stürmer und Grebing, die alle neben der Wissenschaft noch andere Berufstätigkeiten ausübten. Bei Geiss ist die stärkste Ablehnung der herkömmlichen Deutschen Geschichtsforschung zu spüren; er hat auch im Vergleich zu seinen "Kollegen" erst viel später, nämlich mit 42 Jahren, einen Lehrstuhl übernommen. Ob das damit zu tun hat, dass Geiss Assistent des sich zu Beginn der sechziger Jahre mit seinem Buch "Griff zur Weltmacht" in der Forschergemeinschaft offenbar unbeliebt gemacht habenden Fritz Fischer war, sei dahingestellt (ein ausführliches Interview mit Fritz Fischer, der Ende 1999 starb, aus dem Jahr 1988 in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 1/00). Die "normalen" Lehrstuhlübernahmen erfolgten bei den hier Interviewten in den frühen Dreißigern. Auch die einzigen interviewten weiblichen Wissenschaftler, Helga Grebing und Adelheid von Saldern, zeigen eine klare Distanz zum Fach, das sie doch selber auch vertreten. Bei ihnen wird sichtbar, dass sie offenbar deutlich weniger gefördert wurden bzw. in Netzwerke eingeschlossen waren (und sind) als dies bei den männlichen Kollegen der Fall ist.

Eine der Hauptfragen der "standardisierten" Fragen ist denn auch die von Wehler aufgeworfene "Kompensationsthese". Kann ein Lebenslauf, der wie derjenige von Theodor Schieder eine zweite Chance zu Karriere und tadelloser demokratische Gesinnung bekam, aufgewertet werden, wenn man sieht, dass er die Chance erfolgreich wahrnahm? Der These wird teils zugestimmt (Vierhaus, Lehmann, Stürmer), teilweise wird sie klar abgelehnt (W. Schulze, Grebing, Wolfgang Mommsen). Eine andere Hauptfrage bezieht sich auf die Bewertung von Mittäterschaft oder Vordenkertum durch die an den Untaten mehr oder weniger direkt mitwirkenden Professoren. Hier wird zunächst von vielen Interviewten generell die moralische Aufgeladenheit der Diskussion kritisiert und die verbürgte große Liberalität von Schieder seinen Studenten und Schülern gegenüber beispielhaft ins Feld geführt. Gerade hier scheint bei Wehler eine ungenügende Durchdringung des Problemfalls Schieder deutlich zu werden, wenn er von diesem spricht als jemandem, der keiner Fliege hätte etwas antun können, aber gleichzeitig doch zynisch Juden und Polen verurteilte. So ist - wäre hier Wehler zuzurufen - doch gerade der Tätertyp in einer Diktatur psychisch strukturiert: als unerklärlich scheinende Verbindung von Gutherzigkeit mit Bestialität. Dies ist aus den klassischen Untersuchungen zu den Lebensläufen von "Tätern" (z.B. Konzentrationslagerkommandanten) hinlänglich bekannt. Es gibt in den Interviews eine implizite Argumentationslinie zu beobachten, die das persönliche Erleben der kriegs- und Nachkriegszeit mit seinen Mühseligkeiten und auch großen Problemen einer rigorosen "moralischen" Aufklärungsarbeit, wie sie heute eingefordert wird, gegenüberstellt. Ob es ausreicht, sich auf den von den Interviewten häufig bemühten Zeitkontext zu beziehen, ist fraglich: sie betonen, daß kritische Fragen zu stellen, im akademische Milieu der Nachkriegszeit und bis weit danach nicht möglich war, weil es den augenblicklichen Ausschluß aus dem paternalistischen Versorgungssystem bedeutet hätte.

Es verwundert auch nicht weiter, daß offenbar als Zeitzeugen nur zwei weibliche Professoren ansprechbar waren, von denen eine (Adelheid von Saldern) auch hervorhebt, daß das von den männlichen Doktoranden gerühmte diskussionsfreudige Klima beim nur mäßig in die Kritik geratenen Franz Schnabel für Frauen offenbar nicht galt. Bemerkenswert ist auch, daß bei allen Interviewten eine gewisse Geringschätzung für die Ereignisse von 1968 zu verzeichnen ist. Sie waren da bereits Professoren oder Assistenten und hatten ihren Marx schon gelesen und verstanden (Wehler, Wolfgang Mommsen), bevor die Studenten ihn ideologisch zu verwerten begannen. Daran zeigt sich aber auch, dass das Bewußtsein von Forschenden und streng methodisch arbeitenden Wissenschaftlern nicht im selben Tempo wahrnimmt und verarbeitet wie das "Massenbewußtsein", das durch die Medienereignisse die Themen vorgegeben bekommt. Ob das allerdings für sich genommen eine Erklärung für Zurückhaltung beim Konfrontieren mit der Vergangenheit ist, bleibt fraglich. 1968 wird so nicht - auch nicht generell und retrospektiv - als irgendwie geartete Befreiung wahrgenommen, sondern als eher lästige Störung des Universitätsbetriebes und der Forschungen, die ohnehin - so ist man geneigt zu verstehen - auf einem innovativen Weg waren. Eine kritische Haltung zur eigenen Zunft wird - ausser im Fall derjenigen, die über Brüche reden, wie oben Geiss und von Saldern und solcher die anderweitig Distanz zeigen wie Stürmer oder Grebing - außer in Sachfragen nicht deutlich. Ähnliches wird auch deutlich, wenn man die mehrmaligen Verweise auf US-amerikanischen Fernsehserien "Holocaust" und den Kinospielfilm "Schindler's List" liest, die im öffentlichen Bewußtsein jeweils einen neuen Zyklus von Interesse am Dritten Reich hervorriefen, auf den die Universitätshistoriker eher irritiert reagierten.

Nicht weiter erstaunlich ist es auch, daß die Angesprochenen sich teilweise negativ zu einer neuen Kulturgeschichte äußern; sie wird gegenüber der Errungenschaften der Geschichtsforschung nach 1945 als Versuchung eines Rückschrittes betrachtet. Auf die Schlußfrage, ob denn der derzeitige Disput eine Zäsur werden würde, antworten die meisten ablehnend. Völlig die Frage verwerfend reagiert Rudolf Vierhaus, der meint, daß die Geschichtswissenschaft Wichtigeres zu tun hätte, nämlich die Neubestimmung ihres wissenschaftlichen Status, ihrer Erkenntnisweisen und ihrer gesellschaftlichen Funktion" (S. 88). Im Gegensatz dazu hegt Wolfgang Mommsen die Hoffnung, daß man sich jetzt über die "Entwicklung des Faches selbst und dessen moralische Grundpositionen" klar werden müsse. Allerdings setzt er dazu - ganz Historiker - eine "differenzierte Kenntnis der historiographischen Debatte der Zeit" voraus.

Trotz der Einschränkung daß nur die "deutschzentrierte" und universitäre Forschung zu Worte kommt, sind die Aussagen der Professoren selber ein Zeitzeugnis und eine Quelle. Eine Quelle auch für eine zeittypische Mentalität, wie sie von bestimmten Wissenschaftssystemen und Epochen geprägt wird. Ohne Zweifel wird für junge und ganz junge Historikerinnen und Historiker an den teilweise erhellenden Schilderungen (Fischers Kriegs- und Nachkriegserlebnisse lesen sich äußerst spannend) zwar die sozialhistorische Lage der Nachkriegsstudenten deutlich, die mit erheblichen lebenseinschränkenden Begleiterscheinungen einherging. Aber was auch deutlich wird, ist, daß diese ältere Generation von Professoren über ein ungebrochenes Selbstverständnis ihrer Funktion und Stellung verfügt, das offenbar ähnlich ungern auf Kritik reagiert wie dasjenige ihrer Lehrer. Das ist das Befremdende für heutige jüngere Leser, daß viele dieser Professoren den Habitus des Deutschen Professors übernommen haben, der aus einem erheblichen Machtbewußtsein und einem unanfechtbaren Selbstbild besteht. Denkbar nur unter der rigiden und bürokratisierten Wissenschaftshierarchie in deutschen Landen.


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