Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des
Nationalsozialismus
von Irmline Veit-Brause, Melbourne - Email: <ivb@deakin.edu.au>
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dear colleagues,
gerne folge ich der Einladung, ein Review-Symposium über 'Versäumte
Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus', hg. von
Rüdiger Hohls und Konrad H. Jarausch, zu moderieren.[1]
In diesem Band, der eine über die letzten Jahre wieder intensiver
geführte Debatte dokumentiert, werden sehr wichtige Fragen über
den Zustand sowie das Erneuerungs- und Reflexionsvermögen der
Geschichtswissenschaften in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit
aufgeworfen. Im Zentrum der Diskussion sollen deshalb - wie im Buchtitel
angedeutet - nicht nur die 'Historiker im NS', sondern auch die Optionen,
Traditionslinien, Bedingungen und Praktiken stehen, unter denen sich die
inhaltliche, strukturelle und curriculare Erneuerung / Neuorientierung der
bundesdeutschen Geschichtswissenschaften vollzogen hat. Genau dazu liefern
die Interviews im Buch Anhaltspunkte und Diskussionsstoff. Das Symposium
soll darüber hinaus Raum für Anmerkungen zur
Vergangenheitsbewältigung im allgemeinen bieten.
Schon als ich die Interviews im vergangenen Jahr im Internet verfolgte fiel
mir auf, wie sehr dieses Projekt auf spezifisch 'deutsche' Befindlichkeiten
und Frontstellungen, die für Außenstehende nicht immer direkt
verständlich sind, abzielte und wie sehr es mit Generationskonflikten
rang bzw. auf sie reagierte, da ohne die oft sehr vehement vorgetragene Kritik
am Erinnerungsvermögen der 'Zunft' durch eine gerade erst für die
Disziplin sich qualifizierende Generation manches am Tenor der Interviews
unverständlich bliebe.[2]
Um so mehr freue ich mich, daß sich sowohl Historikerinnen und Historiker
aus nicht-deutschen Ländern, die den Streit um die NS-Vergangenheit
des Faches aus größerer Distanz verfolgen, als auch deutsche
Kolleginnen und Kollegen bereit fanden, einen kritischen Blick auf dieses
aufwendige Unternehmen werfen werden.
Für die Stellungnahmen hatte ich einige "Leitfragen" vorgegeben. Diese
konzentrierten sich auf die folgenden Punkte.
Die Auswahlkriterien für die Interviewten: Welcher Blickwinkel ergibt sich dadurch, daß man überwiegend erfolgreich etablierte Wissenschaftler und reüssierende Wissenschaftsmanager befragte? Vielleicht lädt auch die Unterrepräsentation von Frauen im Sample zu weiteren Kommentaren ein.
Da es sich beim Interviewband um ein durch 'Oral History' produziertes wissenschaftshistorisches Dokument handelt, sollte man auch noch einmal die Frage nach dem methodischen und technischen Vorgehen bei den Interviews und dessen Fruchtbarkeit und Grenzen stellen.
Die wissenschaftssoziologische Frage nach den Generationen drängt sich geradezu auf. Denn nach den vorangegangenen Kontroversen um die Genesis der neuen Geschichtswissenschaft, vor allem der sogenannten "Bielefelder Schule" mit ihrem Anspruch eines radikalen Paradigmenwechsels zur kritischen historischen Sozialwissenschaft, konnte es nicht ausbleiben, daß eine neue Generation der Kritiker ihre eigene 'hidden agenda' verfolgt und dadurch eine ebenso polemische Defensive hervorrufen würde.
Die Interviews thematisieren zudem die auch heute kontrovers diskutierte Frage nach der legitimen Funktion von Wissenschaftlern, also auch von Historikern, bei der Politikberatung. Die Vielschichtigkeit dieses Aspekts und die Brisanz, die er im Nationalsozialismus erhielt, ist gegenwärtig wohl eines der zentralen Themen der Selbstreflexion.
Schließlich wirft diese Dokumentation und die darin abgedruckten Einschätzungen über mindestens drei Phasen der Geschichte der Geschichtswissenschaft auch wichtige Fragen über den Prozeß der Professionalisierung, über die Strategien der Kanonisierung des im Forschungsprozeß produzierten historischen Wissens und die häufig nicht offenbar werdenden Vernetzungen zwischen führenden Historikern auf.
Allen Autoren stand es selbstverständlich frei, andere Schwerpunkte
zu setzen und auch weitere Fragen zu stellen. Mich persönlich interessierten
vor allem auch die Fragen nach den Spuren des Nachlebens des 'Dritten Reichs',
bzw. der demokratischen Wandlung in den 1950er Jahren. Ebenso wichtig sind
die Formen der Stilisierung von eigenen Biographien zu Ego-Dokumenten, denn
keines der Interviews wurde so gedruckt, wie es ursprünglich in der
Spontanität des Gesprächs entstand. Dabei fiel mir u. a. auf, daß
bis auf zwei der interviewten Männer keiner erwähnte, ob und wie
das häusliche Milieu, vor allem ihre Frauen mit ihren eigenen Interessen
und Fähigkeiten, am Aufbau der Karriere mitbeteiligt waren.
Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass ich selbst nach meiner Promotion bei Theodor Schieder Deutschland verliess und mir erst sehr viel später und sehr langsam aufging, warum auch ich ihm die "versäumten Fragen" nie gestellt habe. Aber dies ist nicht der Ort, das näher auszuführen. Es möge genügen zu sagen, daß ich umso entschiedener die Aufklärung der Vergangenheit, der Kontinuitäten, Innovationen, Rekrutierungsprozesse, Netzwerkbildung, Habitusformierung und Identitätswahrung des Faches durch Exklusionsmechanismen begrüsse, auch wenn mir nicht alle Kategorien, in denen dies im vorliegenden Band geschieht, einleuchten, wie z. B. die "Täter"-Kategorie.
Insgesamt waren zehn Kolleginnen und Kollegen bereit, einen Beitrag zu
übernehmen. In den nächsten Tagen folgen die ersten drei
Stellungnahmen, erfreulicherweise aus der jüngeren Generation, Jahrgang
1956-64 (Ralph Jessen; Ursula Meyerhofer; Karen Schönwälder). Sie
beschäftigen sich einerseits mit der inhaltlichen Beurteilung der Interviews
und andererseits mit Fragen der Edition von derartigen Texten. Weitere Reaktionen
werden kontinuierlich folgen.
Es wäre zu hoffen, wenn damit ein neuer Anstoß zur Diskussion
über methodische und theoretische Grundfragen der Disziplingeschichte
gerade in wissenschaftssoziologischer Hinsicht gegeben würde.
Anmerkungen:
[1] Rüdiger Hohls / Konrad H. Jarausch (Hgg.):
Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus,
unter Mitarbeit von Torsten Bathmann, Jens Hacke, Julia Schäfer, Marcel
Steinbach-Reimann, München: DVA 2000, 528 S., ISBN: 3-421-05341-3, Preis:
DM 44,-.
[2] H-Soz-u-Kult (Humanities-Sozial- und Kulturgeschichte):
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/beitrag/intervie/index.htm