H-Soz-u-Kult Review-Symposium:

Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung


Tagesspiegel, 3.5.98:

Die Sehnsucht nach ein wenig Chaos

Die Angst vor methodologischen Zwängen: Ein Sammelband verspricht Einblicke in neuere Ansätze der Kulturgeschichte und dokumentiert zugleich den Wunsch, deutschen Selbstbildern zu entkommen

von Clemens Pornschlegel

Christoph Conrad, Martina Kessel (Hg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Reclams Universal Bibliothek 9638. Stuttgart 1998. 392 Seiten. 19,90 DM.

"My intentions are good, my actions are hard to explain", heißt es in einem Song von Foreigner. Die Verse wären kein schlechtes Motto für den von Christoph Conrad und Martina Kessel herausgegebenen Kulturwissenschaftsreader "Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung". Die Absichten der beiden Herausgeber, nämlich vorbildliche Texte der neueren französischen und angelsächischen Kulturgeschichtsschreibung zusammenzustellen, sind ohne Zweifel gut, die Texte lesenswert. Schwerer tut man sich allerdings bei der Erklärung der "action" des 400-seitigen Bandes, bei der Erklärung der Tatsache also, daß er ganz unterschiedliche Texte unter der einen bunten Flagge der "neuen Kulturgeschichte" segeln läßt und damit Autoren wie Foucault und Hobsbawm, Bronfen und Said durch die Bank zu den lustigen Freibeutern eines neuen historiographischen Paradigmas macht.

Das ist nicht ganz so selbstverständlich, wie es zunächst aussieht. Es ist vor allem ein Symptom und kündet von einem unfreiwilligen Unglück. Worin besteht der Gebrauchswert eines Readers von Texten, die durchweg leicht zugänglich und zum Teil schon bekannt sind? Er läßt sich als Arbeitsgrundlage benutzen. Genau darin liegt das Doublebind, in das er sich und andere verstrickt.

Der Band ist systematisch aufgebaut. Teil I (Grenzüberschreitungen: Historisierung als Subversion) enthält ältere Texte. Er setzt ein mit Michel Foucaults Aufsatz "Nietzsche, die Genealogie, die Historie", fährt fort mit einem Ausschnitt aus Edward Saids großer Orientalismus-Arbeit und endet mit Eric Hobsbawms Einleitung zu seinem Buch "Das Erfinden von Traditionen". Teil II (Kultur mit Methode) präsentiert einen Ausschnitt aus Alain Corbins "Wunde Sinne" (über die Schwierigkeiten, Sinneswahrnehmung historisch zu beschreiben), das Bekenntnis Peter Jelavichs, ein "gescheiterter Strukturalist" zu sein, und einen Text von John Tosh über die historiographische Fruchtbarkeit der Frage nach Männlichkeitsmustern. Teil III schließlich (Praktiken der Beobachtung, Risiken der Deutung) versammelt thematisch weit gestreute Analysen: Robert Darnton zur erkenntnistheoretischen Strategie der Encyclopédie, Simon Schama über den Zusammenhang von Landschaft und Erinnerung, Elisabeth Bronfen zum Verhältnis von Tod und Weiblichkeit, Vanessa Schwartz über die kinematographische Wirklichkeitskonstruktion im Pariser Fin de siècle, Stephen Kern zum Zusammenhang von kubistischen Raum-Zeit-Entwürfen und Kriegstechnologien, Kristin Ross schließlich über die Sauberkeitsideologie in Frankreich zur Zeit des Algerienkriegs.

Von Nietzsche über Diderot in algerische Folterkammern, von Anselm Kiefers "Ausbrennen des Landkreises Buchen" über Prousts "verlorene Zeit" ins Berliner Kabarett, von der Pariser Morgue zu Flaubert: Die Texte werden ersichtlich weder durch ein gemeinsames historisches, philosophisches oder soziologisches Problem noch durch eine theoretische Grundlage zusammengehalten. Was sie zusammenhält, ist ihre Buntheit. Mit den Worten der Herausgeber: "Die Texte greifen Themen und Ansätze auf, die in sich a-disziplinär, nicht von vornherein Gegenstand nur einer Disziplin sind. Sie stehen für offene Forschungsfelder statt für abgrenzbare Fächer, nicht als Aufgabe jeder methodischen Sorgfalt, sondern als Einladung zu einer ebenso kooperativen wie kreativen disobedience gegenüber zu frühzeitigen Disziplinierungsversuchen: Tod, Gewalt und Krieg, Gefühle, Ordnungen und Macht, Zeit- und Raumerfahrung, Wissenssysteme und Medien, Tradition und Erinnerung, Differenz und Alterität."

Methodische disobedience also, fächerübergreifend, kreativ, kooperativ. Die Zusammengehörigkeit der Texte entsteht aus der Frontstellung gegen einen laufenden Wissenschaftsbetrieb - und zwar den deutschen. Die Passage, mit der Peter Jelavich seinen Beitrag einleitet, verdeutlicht schlagartig, wogegen der Band sich wendet. "Lassen Sie mich mit einer Anekdote beginnen", sagt Jelavich. "Die Frage nach meiner ,Methodologie' macht mir schon seit gut zehn Jahren Kopfzerbrechen, und ich kann den Beginn dieses Problems sogar präzise auf die ersten Tage des Oktobers 1984 datieren, am Anfang eines Jahres als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Am Morgen nach meiner Ankunft aus Amerika zwang ich mich trotz starker Müdigkeit durch die Zeitumstellung um acht Uhr aus dem Bett (...) und erschien am gemeinsamen Frühstückstisch. Außer mir war dort nur eine weitere Person, nämlich eine Slawistin aus der Bundesrepublik. Nach den üblichen Vorstellungsritualen - Name, Universität - stellte sie mir als dritte Frage: ,Was ist Ihre Methodologie?' Meine ersten Gedanken waren: 1) Ich bin wieder in Deutschland! und 2) Wann geht der nächste Flug zurück nach Amerika?"

Das Motiv der Faszination durch die "cultural studies" ist klar: Es ist das Unbehagen in der eigenen (Wissenschafts-)Kultur und der Versuch, die ungeliebten nationalen Selbst-Bilder ein für allemal zu verabschieden. Ein wenig Chaos gegen die "konsequente Normalisierung des Geistigen", die die deutsche Gesellschaft seit der Zerstörung der Kultur durch die Nazis so gnadenlos wie innovationshemmend betreibt.

"Bisher haben Historiker und Historikerinnen hierzulande reagiert", schreiben die Herausgeber in schöner Offenheit, "indem sie eher programmatisch und theoretisch, teils abwehrend, teils werbend, über kulturgeschichtliche Ansätze debattiert und geurteilt haben, anstatt in gelungenen oder provozierenden Studien selber von Kultur zu sprechen." Nur - und das ist das ganze Unglück: Genau das tut ihr Band leider auch nicht. Allen konkreten historischen Analysen zum Trotz illustriert der Reader ein zwar unfolgsames, buntes und kreatives, aber zuletzt eben doch methodologisches Paradigma, und sei es ein Anti-Paradigma - das aus genau diesem Grunde umgekehrt auch den Eindruck der "Beliebigkeit" erzeugt. Auch er bleibt bloß eine Sammlung dessen, was anderswo anders als hierzulande, nämlich thematisch und problematisierend, befragt wird. Und damit gerät er zu genau der Beobachtung zweiter Ordnung, die er gern verabschieden möchte (und nicht kann): zur faszinierten deutschen Beobachtung dessen, wie Franzosen, Briten und Amerikaner "Kultur" beobachten, Probleme stellen, neue Denkmöglichkeiten schaffen. Und um partout nicht der biederen Slawistin zu ähneln, wünscht man es sich genauso - und macht disobediente Kulturwissenschaftsreader, dicke Methoden-Reader. So listig und hartnäckig ist das normalisierte Eigene.

© 1998 Verlag DER TAGESSPIEGEL