Rezensiert für
H-Soz-u-Kult von
Alexander Nuetzenadel, Historisches Seminar Universitaet zu Köln
Italien, dass erst 1861 zur nationalen Einigung fand, gilt nicht nur als
verspätete Nation, sondern auch als wirtschaftlicher
late-comer. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war seine Volkswirtschaft
überwiegend agrarisch geprägt, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg
gelang der Aufstieg in die Reihe der europäischen Industrienationen.
Gerade die späte Industrialisierung hat Italien für viele
Wirtschaftshistoriker zu einem interessanten Studienobjekt gemacht hat. Nicht
zuletzt ausländische Historiker interessierten sich schon früh
für den italienischen Sonderweg, der sich nicht nur vom englischen
Industrialisierungsmodell, sondern auch von der Entwicklung in den meisten
anderen kontinentaleuropäischen Ländern unterschied. Bereits 1966
ging Alexander Gerschenkron in seiner bahnbrechenden Untersuchung der Frage
nach, wie sich Länder unter den Bedingungen der Rückständigkeit
entwickeln können. Sein Blick richtete sich dabei besonders auf Italien,
doch wie viele andere konzentrierte er sich auf den Zeitraum bis zum Ersten
Weltkrieg. Die Wirtschaftsgeschichte der nachfolgenden faschistischen Ära
wurde von der Forschung hingegen lange Zeit stiefmütterlich behandelt.
Zu unbedeutend schien diese durch autarkistische Abschließung, korporative
Misswirtschaft und stagnierende Wachstumsraten gekennzeichnete Phase, als
dass man ihr eine Bedeutung für die langfristige wirtschaftliche Entwicklung
des Landes beimessen wollte.
Diese Forschungslücke wird nun von Rolf Petris Habilitationsschrift
über die faschistischen Autarkiepolitik gefüllt. Sie dürfte
auf absehbare Zeit das Standardwerk zu diesem Thema bleiben. Der Autor schildert
nicht nur umsichtig die wichtigsten Etappen der Wirtschaftspolitik, sondern
untersucht auch deren Konsequenzen und ordnet sie in die langfristige
ökonomische Entwicklung des Landes ein. Dies gelingt ihm vor allem deshalb
so überzeugend, weil er neben den gesamtwirtschaftlichen Trends auch
mikroökonomische Veränderungen auf der Unternehmensebene
berücksichtigt. Petri stützt sich dabei auf die neo-schupeterianische
Ansätze, welche lange Wachstumszyklen auf Innovationen in industriellen
Leitsektoren zurückführen.
Die Grundthese Petris lautet, dass die faschistische Autarkiepolitik zwar
an den kurzfristigen Zielen der Kriegswirtschaft fast vollständig
vorbei (356) ging, die mit ihr verbundenen strukturpolitischen
Maßnahmen jedoch auf lange Sicht eine beträchtliche Wirkung
entfalteten. Das wichtigste Anliegen dieser Politik habe darin bestanden,
durch gezielte Förderung zukunftsweisender Unternehmen (vor allem in
den Bereichen Chemie, Elektrotechnik und Fahrzeugbau) die industrielle
Entwicklung zu beschleunigen. Angesichts der technologischen
Rückständigkeit des Landes sowie der Rohstoff- und Kapitalarmut
sei es notwendig gewesen, den privaten Konsum einzuschränken, die
Kapitalbildung durch eine Erhöhung der Sparquote zu fördern,
Investitionen in strategisch wichtige Sektoren zu lenken und den
Außenhandel einer rigorosen Zwangsbewirtschaftung zu unterwerfen. Die
im Zeichen von Autarkie und Korporativismus durchgeführten Maßnahmen
versteht der Autor als Bestandteil einer neo-merkantilistischen
Wachstumspolitik.
Wie Petri nachweisen kann, bedeutete Autarkie keineswegs die völlige
Herauslösung des Landes aus der internationalen Arbeitsteilung. Vielmehr
sei es darum gegangen, die Einfuhren auf diejenigen Kapital- und
Vorleistungsgüter zu beschränken, die für die forcierte
Industrialisierung benötigt wurden. Die hohe Zahl ausländischer
Patentanmeldungen in den dreißiger Jahren belegt, dass Italien durch
den Import moderner Technologien den Anschluss an internationale
Produktionsstandards suchte. Zur Erwirtschaftung der dafür erforderlichen
Devisen mussten Nahrungsgüter und bestimmte Fertigprodukte in hohem
Umfang exportiert werden. Dies erklärt, warum die Exporte nach der
offiziellen Proklamierung der Autarkie 1936 sogar vorübergehend wieder
anstiegen.
Vor diesem Hintergrund revidiert Petri die in der Forschung dominierende
These einer erratischen, ineffizienten und fehlgeleiteten Wirtschaftspolitik
der faschistischen Ära. Zwar lagen die Wachstumsraten in jenen Jahren
deutlich unter dem langfristigen Wachstumstrend des Landes, doch sei es fraglich,
ob unter den Bedingungen eines freien Außenhandels und einer
marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung bessere Ergebnisse erzielt worden
wären. Überdies bezweifelt der Autor, dass solche Alternativen
angesichts des Zusammenbruchs des internationalen Handels überhaupt
realistisch waren. Vermutlich, so Petri, hätten auch andere
Regierungen als die faschistische mit einer anders bezeichneten Politik letztlich
ähnliche Maßnahmen ergriffen und ähnliche Veränderungen
bewirkt. (416).
Es muss hier ausdrücklich betont werden, dass es dem Autor nicht um
eine Aufwertung des faschistischen Regimes geht. Weder greift er die Diskussion
über Faschismus und Modernisierung auf, noch folgt er der von James
A. Gregor vertretene These, es habe sich bei Mussolinis Regime um eine
Entwicklungsdiktatur gehandelt. Eine solche Interpretation ist
aus der Sicht Petris schon deshalb verfehlt, weil nicht die
Parteifunktionäre und politischen Führer des Regimes für die
Wirtschaftspolitik verantwortlich waren, sondern eine technokratische
Funktionselite aus Unternehmern, Verbandsvertretern und leitenden Beamten
der Staatsbürokratie, deren Zusammenarbeit mit dem faschistischen Regime
auf einer ideologisch begründete Verknüpfung von industriellem
Fortschritt und Nationalismus basierte (334).
Die zweite große Frage, die Petris Buch aufgreift, betrifft die
Kontinuität der Wirtschaftspolitik zwischen den dreißiger und
den fünfziger Jahren. Ohne die politische und gesellschaftliche Zäsur
der Jahre 1943/47 zu bestreiten, geht der Autor von einer relativen
Stetigkeit des strukturellen Wandels und der diesen Wandel begleitenden
Wirtschaftspolitik aus (416). Noch während des Krieges hatten
führende Wirtschaftspolitiker Planungen für die Nachkriegsordnungen
angestellt, die - so Petri - zumindest in den Grundlinien nach 1945
übernommen wurden und die eine Fortführung der
neo-merkantilistischen Konzeption der aufholenden Industrialisierung
bedeuteten. Dies ließe sich auch daran erkennen, dass die in den
dreißiger Jahren entstanden staatlichen Industrieholdings weiter bestanden,
leitende Funktionäre der Wirtschaftsbürokratie in ihren Stellungen
blieben und die staatliche Industrialisierungspolitik, etwa im Mezzogiorno,
weiter ausgebaut wurde. Neoliberale Positionen prägten - ähnlich
wie in Westdeutschland - zwar die öffentliche Diskussion über den
Wiederaufbau, konnten die Wirtschaftspolitik selbst aber nur wenig beeinflussen.
Doch Petris Kontinuitätsthese bezieht sich nicht nur auf Ziele und
Instrumente der Wirtschaftspolitik, sondern auch auf die gesamtwirtschaftliche
Entwicklung des Landes. Ohne die Investitionen und technologischen Innovationen
der dreißiger Jahre sei der wirtschaftliche Aufschwung nach 1945 nicht
zu erklären. Petri folgert daraus, dass die Maßnahmen der
Autarkieperiode den Wachstumszyklus der fünfziger Jahre konkret vorbereiten
halfen (416).
Dies ist eine gewagte These, die im Widerspruch zu den gängigen
Interpretationen des Nachkriegsbooms steht. Petri plädiert im Einklang
mit neueren wachstumstheoretischen Ansätzen, technologischen Fortschritt
als endogene Modellvariable zu behandeln, und dafür gibt es gute
Gründe. Vielleicht hätte er aber noch stärker die neueren
Diskussionen über das westeuropäische Nachkriegswachstum einbeziehen
können, denn die Expansion in Italien vollzog sich natürlich nicht
unabhängig von internationalen Faktoren. Ferner erscheint es - trotz
aller von Petri zu Recht hervorgehobenen Kontinuitäten in der
Industriepolitik - wenig plausibel, für die fünfziger und frühen
sechziger Jahre von einem Neomerkantilismus zu sprechen. Die
Öffnung der italienischen Volkswirtschaft vollzog sich nach 1945 in
langsamen Schritten, doch deutete der Trend - im Einklang mit der
westeuropäischen Entwicklung - schon frühzeitig auf eine liberale
Außenwirtschaftspolitik hin. Trotz dieser Einwände: Petris Buch
ist die bei weitem beste und gründlichste Darstellung der faschistischen
Autarkiepolitik und ihrer Folgen. Zugleich handelt es sich um eine der methodisch
anregendsten Arbeiten zur neueren italienischen Wirtschaftsgeschichte.
Rezensiert für
H-Soz-u-Kult
von:
Alexander Nuetzenadel, Historisches Seminar Universitaet zu Koeln
E-Mail:
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Vera Ziegeldorf <ZiegeldorfVera@geschichte.hu-berlin.de>
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
|
![]() |
Copyright (c) 2002 by H-SOZ-U-KULT (H-NET), all rights reserved. This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and the list. For other permission, please contact H-SOZ-U-KULT@H-NET.MSU.EDU.