Alfred Reckendrees: Das "Stahltrust"-Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke A.G. und ihre Unternehmensentwicklung 1926 - 1933/34, (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 5), München: C.H. Beck 2000, 639 S., ISBN 3-406-45819-X, Preis: DM 138,-

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Dr. Thomas Welskopp

In der deutschen Unternehmensgeschichte zur Zwischenkriegszeit ist die im Mai 1926 gegründete Vereinigte Stahlwerke AG ein Phantom geblieben, dessen schemenhafte Konturen in krassem Gegensatz zu seiner unbestrittenen Bedeutung für die Wirtschaft der Weimarer Republik standen. Häufig und dezidiert ist über diese Fusion von vier westdeutschen Eisen- und Stahlkonzernen einschließlich ihrer Bergbaugesellschaften und weiterverarbeitenden Betriebe geurteilt worden. Je nach Perspektive erschien die Vereinigte Stahlwerke AG als Dämon des deutschen Monopolkapitalismus, als verfehltes Projekt zur Sanierung der deutschen Wirtschaft, als Musterbeispiel der Organisationsausgestaltung zum multi-divisionalen Managerkonzern nach amerikanischem Vorbild (Alfred D. Chandler) oder als Kronzeuge für die einem überhöhten Lohnniveau geschuldete Investitionskrise der 1920er Jahre, die die Weltwirtschaftskrise entscheidend mit heraufbeschworen habe (Knut Borchardt). Eine detaillierte, auf der Basis der neueren theoretischen und methodischen Ansätze erarbeitete Unternehmensgeschichte dieses neben der 1925 formierten IG Farben größten und wirkungsmächtigsten Konzernzusammenschlusses auf deutschem Boden gab es freilich bislang nicht. Diese Situation hat sich mit Alfred Reckendrees' Bielefelder Dissertation grundlegend gewandelt.

In einer sehr gut orientierenden Einleitung bestimmt Reckendrees seine Position in der Landschaft der neueren theoretischen und methodischen Ansätze in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Diese theoretischen Reflexionen erreichen ein hohes Niveau, ohne überfrachtet oder aufgesetzt zu wirken. Angelehnt an die "Neue Institutionenökonomie" und informiert durch Konzepte wie das der betrieblichen "Mikropolitik" entwirft er eine Untersuchungsstrategie, die von der konsequenten Historisierung ökonomischer Kategorien und von der ebenso konsequenten Ausrichtung auf die beteiligten Akteure gekennzeichnet ist. Während er somit auf der einen Seite durch die Suche nach "Pfadabhängigkeiten" und "Kontingenzkausalitäten" deterministischen Erklärungsmodellen eine klare Absage erteilt, betont er auf der anderen Seite die "Gebundenheiten" unternehmerischen Handelns in den Interaktionsbeziehungen der verschiedenen Akteure.

Besonders innovativ an diesem Ansatz ist, dass er, anders als eine wesentlich auf die Produktion und auf die Entscheidungen der Unternehmensleitungen fixierte ältere Unternehmensgeschichtsschreibung, das Unternehmen nicht als eine monolithische Einheit betrachtet. Der Vorgang der Fusion - als Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichen Interessen auf allen Ebenen - und der gestreckte Prozess der Unternehmensorganisation, der nicht einer vorausbestimmten Entfaltung gleichkam, sondern ebenfalls einen aushandlungsgesteuerten, konfliktreichen Pfad einschlug, rücken in das Zentrum der Betrachtung. Dadurch wird die gerade in Studien zur Eisen- und Stahlindustrie zu beobachtende Fixierung auf die Produktion und die Eigenarten der Branche überwunden. Fragen der Eigentumsverhältnisse, der aktienrechtlichen Verflechtungen und der finanziellen Aspekte nehmen neben dem Aspekt der verwaltungstechnischen Organisation des Konzerns einen zentralen Raum ein. Das Unternehmen erscheint unter diesen Gesichtspunkten nicht nur als Akteur in verschiedenen Arenen, sondern auch als Gegenstand des Konflikt- und Einverständnishandelns anderer Akteure, seien diese wiederum andere Unternehmen oder einzelne Persönlichkeiten. Die jeweils spezifische Kontexteinbettung des Unternehmens tritt auf diese Weise klar zu Tage.

Reckendrees setzt diese Perspektive methodisch um, indem er sich der Abfolge der Aushandlungen und organisatorischen Umsetzungen mit dem Instrument der "dichten Beschreibung" [S. 43] nähert. Das unterstreicht noch einmal die historisierende Stoßrichtung seiner Studie: Sie projiziert nicht, wie das heute manchmal für die Wirtschaftsgeschichte gefordert wird, gleichsam überzeitliche abstrakte ökonomische Kategorien und Modellannahmen auf die zeitgenössische Situationslogik zurück, um diese durch neoklassische Gesetzmäßigkeiten zu erklären, sondern sie folgt den "gebundenen" Verhaltenslogiken der Akteure im Rahmen einer fast ethnologisch dichten Rekonstruktion, die die Rationalität der Beteiligten nachvollziehbar macht, sie aber zugleich in ihrer Begrenztheit zeigt.

In zwei einleitenden Kapiteln (II und III) analysiert Reckendrees die Struktur und Entwicklung der deutschen Eisen- und Stahlindustrie im Kaiserreich und nach dem Ersten Weltkrieg sowie in der Rekonstruktionsphase der Inflationsjahre, als die Branche durch die Kriegsfolgen verlorengegangene Kapazitäten unkoordiniert im Ruhrgebiet wieder aufbaute, mit der Konsequenz einer tiefgreifenden Kapazitäts- und Absatzkrise, die für einzelne Konzerne eine existenzielle Bedrohung darstellte.

Auf dieser Basis rekonstruiert Reckendrees dann (Kapitel IV) minutiös die Planungen und Verhandlungen zur Gründung der Vereinigte Stahlwerke AG. Dieses Kapitel ist das methodische und argumentative Herzstück der Studie. Dabei wird deutlich, dass weder, wie in der Forschungsliteratur behauptet, Gesichtspunkte der Steuergesetzgebung noch das Interesse an amerikanischen Dollaranleihen die Motivation der Beteiligten zur Fusion primär bestimmten und deshalb ihre Form der "Vertrustung" erklären können. Vielmehr weist Reckendrees nach, dass die Gründergesellschaften in dieser Form des Zusammenschlusses allein eine Gewähr für die Erhaltung ihres industriellen Anlagevermögens sahen, das ansonsten durch den unkontrollierten Konkurs mindestens eines der beteiligten Konzerne bedroht gewesen wäre. Die Fusion zu einer operativen Gesellschaft, der die Gründerkonzerne ihre sämtlichen Betriebsanlagen übertrugen, diente freilich zugleich der Werbung um amerikanische Kapitalgeber, die den "Stahlverein" als eine interessante und innovative Anlagemöglichkeit betrachteten, gerade weil er in seiner Struktur den amerikanischen "Big" und "Little Steel"-Konzernen ähnelte. Weitere - kürzere - Kapitel (V und VI) rekonstruieren die Unternehmensorganisation und die Betriebsökonomie der Vereinigte Stahlwerke AG in den ersten Jahren ihres Bestehens.

Breiten Raum nimmt schließlich (Kapitel VII) die Sanierung und Umstrukturierung des Konzerns zwischen 1930 und 1934 ein. Anders als frühere Darstellungen wertet Reckendrees diese Reorganisation nicht als Revision eines gescheiterten Unternehmenskonzeptes - etwa im Sinne einer Dezentralisierung der Konzernorganisation als Konsequenz anfänglicher Überzentralisierung -, sondern er beschreibt diesen Prozess als weitgehend konsequente Abfolge verschiedener Ausbaustufen zum dezentral-zentralisierten multi-divisionalen Konzern mit "Profitcentern", "Konzentration auf das Kerngeschäft" und ähnlichen Merkmalen einer Unternehmenspolitik, die nicht mehr primär in Kategorien der Produkt- und Absatzmengen, sondern in denen des return on investment dachte. Reckendrees argumentiert, dass die Gründungs- und Konsolidierungsphase der Vereinigte Stahlwerke AG mit der Errichtung einer arbeitsfähigen Verwaltung, der Etablierung durchsetzungsfähiger Kommandostrukturen, einer zumindest beginnenden Neustrukturierung des Produktionsprogramms und der Ausarbeitung einer vergleichsfähigen Betriebsberichterstattung mehr als ausgelastet gewesen sei. Deswegen sei die Unterordnung der zunächst weiterhin sehr selbständigen Hüttenwerkskomplexe unter regionale Betriebsgesellschaften erst in einem zweiten Schritt erfolgt. Die Sanierung und Reorganisation des Konzerns wurde zudem erst durch eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse möglich. In diesem Zusammenhang liefert Reckendrees eine überzeugende Neubewertung des "Gelsenberg-Deals" von 1932, bei dem der Großaktionär Friedrich Flick sein über Schachtelbeteiligungen gehaltenes Aktienpaket dem Deutschen Reich zum Kauf aufnötigte.

Ein sehr instruktives und überzeugendes Abschlusskapitel (VIII) fragt nach Erfolg oder Misserfolg der Vereinigte Stahlwerke AG. Ihre Gründung erscheint als vorwiegend defensive Reaktion der Gründergesellschaften, die ihr industrielles Anlagekapital sichern wollten. Damit aber war der neue Konzern weniger ein kühnes unternehmerisches Projekt als vielmehr opportunistisches Mittel zum Zweck der Gründerunternehmen und der Großaktionäre. Sie belasteten die Vereinigte Stahlwerke AG von Anfang an mit einer Reihe von schweren Hypotheken und gaben ihr einander widersprechende Ziele vor. Sie diente ebenso der Entschuldung der Gründergesellschaften wie der kapazitätsbereinigenden Rationalisierung, und sie sollte darüber hinaus auch noch gute Gewinne abwerfen. Während das erste Ziel durch eine starke Überbewertung des Anlagevermögens und damit eine Überkapitalisierung erreicht wurde, entwickelte sich gerade deswegen die Eigenkapitalrendite unbefriedigend. Da auch die Anleihen hoch verzinst werden mussten und die Großaktionäre nicht auf ihre Dividenden verzichteten, bewegten sich die dringend benötigten Investitionssummen nur innerhalb des Abschreibungsvolumens. Auch kreative Buchführung konnte lediglich kaschieren, dass der Konzern ins Trudeln zu geraten drohte. Während Reckendrees somit die von Borchardt und anderen konstatierte Erlöskrise und Investitionsschwäche für die Vereinigte Stahlwerke AG bestätigt, sieht er ihre Ursache dagegen nicht in zu hohen Lohn-, sondern in zu hohen Kapitalkosten begründet. Die hohen Kapitalkosten besaßen in hohen Fixkapitalanteilen, die das Unternehmen während der Weltwirtschaftskrise in eine "Selbstkostenfalle" stolpern ließen, ihr Pendant. Reckendrees formuliert daraus ein "keynesianisches" Argument: Die wirtschaftliche Krise der Zwischenkriegszeit war letztlich die Krise eines Reproduktions- und Wachstumsmodells, das auf dem Nebeneinander einer starken und modernen Investitionsgüterindustrie und einer rückständigen Konsumgüterindustrie beruhte. Ohne einen expandierenden Binnenmarkt und unter den erschwerten Exportbedingungen der 1920er und 1930er Jahre war es letztlich die NS-Rüstungskonjunktur, die dieses Modell noch einmal rettete - mit verhängnisvollen Folgen.

Vielfach ist in den letzten Jahren eine unabhängige, kritische Unternehmensgeschichtsschreibung gefordert worden, die an die theoretischen und methodologischen Entwicklungen auf anderen Feldern der Historiographie anschlussfähig ist. Durch die Aneignung sozial- und kulturtheoretischer Interpretationsansätze zeichnet sich nach der "Entökonomisierung" der Sozialgeschichte nunmehr die Chance einer neuen Sozial- und Kulturgeschichte ökonomischer Institutionen ab. Alfred Reckendrees' Studie über die Vereinigte Stahlwerke AG zeigt, wie eine solche innovative und theoretisch reflektierte Unternehmensgeschichte aussehen könnte.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:

PD Dr. Thomas Welskopp <welskopp@aol.com>, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin


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From: "Thomas Welskopp" <welskopp@aol.com>
Subject: Rezension Reckendrees
Date: 13.03.2001

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