Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Angela Schwarz
Photographie und Geschichte: Was für ein spannendes Thema! Man sollte meinen, die Faszination des Gegenstandes müsste schon so viele ergriffen haben, daß es kaum mehr Neues über die historische Dimension der Photographie zu sagen und zu schreiben gibt. Neben einem Konvolut von Gesamtdarstellungen und Arbeiten zu speziellen Aspekten müsste es eigentlich eine grosse Zahl von allgemeinen Darstellungen geben, die die Besonderheiten der Quellengattung, Ansätze für die Interpretation und den aktuellen Forschungsstand darlegen. Das ist erstaunlicherweise aber nicht der Fall. Natürlich gibt es eine umfangreiche Literatur zur Photographie, in den letzten rund dreissig Jahren auch verstärkt zur Photographie aus der Sicht des Historikers - zu gross ist die Attraktivität des photographischen Bildes. Die Einführung, die sich der Photographie mit den Interessen und Fragestellungen der Geschichtsschreibung genähert und die Tendenzen bisheriger Untersuchungen zusammengefasst hätte, stand allerdings bislang noch aus. Das Buch von Jens Jäger füllt daher eine grosse Lücke, und es füllt sie gut, und zwar so gut, daß es nicht nur all denjenigen empfohlen sei, die sich intensiver historiographisch mit Photographie befassen wollen, sondern auch allen Studierenden und allen an der Geschichte Interessierten, die über die Quellen, mit deren Hilfe die Geschichtswissenschaft Ausschnitte der Vergangenheit rekonstruiert - andere würden sagen konstruiert - mehr wissen wollen, als allgemeine Erläuterungen geschichtswissenschaftlicher Methodik bieten können. Die Photographie wird von ihnen, wenn überhaupt, meist ohnehin nur am Rande behandelt. Hier liegt nun eine überaus gelungene Einführung in die (photographischen) Bilder der Neuzeit vor, deren Lektüre so anregend und spannend wie der Umgang mit der Photographie selbst ist - womit nur unzureichend ausgedrückt ist, welches intellektuelle Vergnügen das Buch bieten kann.
Wie es sich für eine gute Einführung gehört, bietet das Buch grundlegende Informationen über das Medium, seine Geschichte und seine sozialen und kulturellen Funktionen und Erscheinungsformen, über die Zugangsweisen, die Photographie für historische Fragestellungen zu erschliessen suchen, und über die Hauptlinien der historisch ausgerichteten Forschung, d.h. über die Studien zur Analyse von einzelnen Bildern und Bildersammlungen und zur Rezeptionsgeschichte von Photographien. Der bibliographische Anhang bietet mit seinen 459 Einzelnachweisen und dem Verweis auf bedeutsame Internet-Ressourcen einen hervorragenden Ausgangspunkt für die Vertiefung jener Themen und Fragen, die bei der Lektüre des Überblicks besonderes Interesse auf sich gezogen haben.
Aber Jens Jäger bietet noch mehr. Zum einen hat der Leser die Möglichkeit, mit Hilfe des Quellenanhangs, der - in der Regel - Auszüge aus vierzehn Texten enthält, entscheidende Schritte oder Positionen in der Photographiegeschichte nachzuverfolgen. Zum anderen, und das ist wesentlich wichtiger und nützlicher für denjenigen, der das Medium fundiert historisch auswerten möchte, präsentiert der Autor Methoden der Interpretation nicht nur, sondern wendet sie auch anhand eines ausgewählten Photos einmal beispielhaft an.
Wir sind alle von Bildern umgeben, wir sehen und wir interpretieren sie. Der Reiz der Photographie als Quelle mag für den Einsteiger gerade auch in der Annahme liegen, jeder verfüge per se über das nötige Rüstzeug, ein Photo interpretieren zu können. Nach der Lektüre dieser Einführung weiss der Neugierige, daß es so einfach nicht ist, wenn man wissenschaftlich arbeiten will. Und er hat zudem ein Gespür dafür entwickelt, worauf es bei der Betrachtung der Bilder zu achten gilt. Er hat zudem erfahren, worauf es beim realienkundlich bzw. sozialgeschichtlich orientierten Zugang ankommt, wie sich davon die Bildbetrachtung und -analyse bei einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Fragestellung unterscheidet, was ein seriell-ikonographischer Ansatz bedeutet. Die Beispielanalyse eines Photos von Isambard Brunel aus dem Jahr 1857 zeigt dann konkret und sehr anschaulich, wie die wissenschaftliche Bildanalyse leisten könnte, und zwar bei einer realienkundlichen und bei einer kulturgeschichtlichen Vorgehensweise. Diese beiden kurzen Interpretationansätze sind schnell gelesen und man bedauert, daß die Analyse - zweifellos aus Platzgründen - nach wenigen Absätzen abgebrochen wird.
Photographie ist ein komplexes Phänomen: technischer Vorgang, soziale Praxis, künstlerische Ausdrucksform, ein Massenphänomen auch schon im 19. Jahrhundert, ein wirtschaftlicher Faktor, als Berufsfeld - seit der Herausbildung der neuen Begrufsgruppe der Photographen - wie als Konsumartikel, ein Instrument, das sich Natur-, Human- und Geisteswissenschaftler für ihre Forschungszwecke angeeignet haben, schliesslich auch ein kulturelles Konstrukt, das seine jeweils maßgeblich gedachten Aufgaben und Bedeutungen im zeitgenössischen Diskurs erhält (vgl. S. 17). Ebenso komplex ist inzwischen die Forschung zu den unterschiedlichen Seiten des Phänomens, obwohl viele Aspekte erst unzureichend erforscht sind. Lücken gibt es selbst bei Themen, zu denen bereits zahlreiche Studien vorliegen, so etwa für die gut dokumentierte Frühzeit der Photographiegeschichte. So ist noch wenig bekannt über die ökonomische Seite des neuen Gewerbes oder über die Bedeutung von Photographinnen, deren Anteil an der neuen Berufsgruppe im 19. Jahrhundert stetig anstieg.
Den grössten Raum nimmt der Überblick über die Themen und Ergebnisse der Forschung ein. Hier wie in den anderen Abschnitten geht die Darstellung zwar meist vom deutschsprachigen Raum aus, doch werden ebenso die Entwicklungen besonders in Grossbritannien - was sich unter anderem durch die Arbeiten des Autors über England, darunter "Formen und Funktionen der Photographie in Deutschland und England 1839-1860" von 1996, erklärt - und, etwas seltener, den USA, Frankreich und Italien berücksichtigt. Jäger legt eine ungemein profunde Kenntnis der umfangreichen Literatur an den Tag, die verständlich und gut strukturiert aufbereitet wird, ohne den Leser in der Fülle der herausgearbeiteten Erkenntnisse versinken zu lassen. Die ersten beiden Jahrzehnte der Photographie (1), Industriephotographie und Bilder der Arbeitswelt (2), Bildjournalismus, sozialdokumentarische Photographie, Bilder von Propaganda und Krieg (3), Photographie von Körpern, sei es von Randgruppen im eigenen Land oder vom Anderen an der kolonialen Peripherie (4), und schliesslich die bisher wenig systematisch untersuchte Photographie von Amateuren oder Durchschnittsbürgern (5), für die Jäger den Begriff der "privaten Praxis" vorschlägt, bilden die Eckpunkte des Forschungsüberblicks. Was an Erkenntnisinteressen und Ergebnissen - auf rund siebzig Seiten - vorgestellt werden kann, läßt die Möglichkeiten und Grenzen der Analyse von Photographien, die vergangene materielle Gegebenheiten, Mentalitäten, Realitätskonstruktionen und -wahrnehmungen ermitteln helfen kann, vor allem aber auch den Reiz des Mediums und der Beschäftigung mit ihm deutlich hervortreten. Die vorgestellten Themenfelder und die Hinweise auf Forschungslücken wirken so als Ermunterung, sich eingehender mit "Bildern der Neuzeit" zu beschäftigen - womit noch ein weiteres Merkmal einer guten Einführung erfüllt wäre.
Bleibt zu hoffen und zu wünschen, daß das Buch eine grosse Leserschaft und mit der Aufnahme der zahlreichen Anregungen den ihm angemessenen Widerhall finden wird.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Angela Schwarz <dr.a.schwarz@uni-duisburg.de>, FB 1 Geschichte, Gerhard-Mercator-Universität - GH Duisburg
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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