Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Beate Binder
Die Funktionsweisen (kollektiven) Erinnerns, die Bedeutung von Erinnerungsbeständen für die Konstruktion von Gruppenidentitäten und die kulturellen Formen des Bewahrens und Tradierens von Erinnerung gewinnen in den letzten Jahren als neue oder besser: wiederentdeckte Fragestellungen mehr und mehr an Bedeutung in den historisch arbeitenden Wissenschaften. Auch in der Geschichtswissenschaft ist neben das der disziplinären Arbeit zugrundeliegende "wie etwas gewesen" die Frage danach getreten, "wie etwas erinnert wird". Verstärkend auf diese Diskussion haben nicht zuletzt die sowjetische Perestrojka, der Zusammenbruch der ehemaligen sozialistischen Staaten in Osteuropa, die im Prozeß der Transformationen in Osteuropa auflebenden nationalen Bewegungen und die in diesem Zusammenhang stehenden Bestrebungen in den meisten osteuropäischen Ländern, nationale Geschichte neu zu strukturieren, gewirkt. Geschichte ist - nicht nur hier - ein Politikum, das im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen um die (Re-)Konstruktion kollektiver Identitäten steht.
Seit den sieben von Pierre Nora und seiner Forschergruppe vorgelegten Bänden "Les lieux de mémoire" [1], in denen die Topographie der französischen Nation aus der Perspektive einer Gedächtnisgeschichte gezeichnet wird, wird auch in Deutschland darüber diskutiert, ob und wie eine vergleichbare Darstellung nationaler Gedächtnisorte möglich sein könnte. Mit der Rezeption der "Lieux de mémoire" kam - scheinbar zwangsläufig - die Idee auf, ein Parallelwerk für Deutschland zu erstellen. Initiiert und maßgeblich vorangetrieben wurde diese Diskussion von dem ehemaligen Leiter des französischen Forschungszentrums "Centre Marc Bloch" in Berlin, Etienne François, und dem Berliner Professor für Geschichtswissenschaft, Hagen Schulze [2].
Diese beiden gaben mit ihren Lehrveranstaltungen an der Freien Universität in Berlin auch den Impuls für die vorliegende Publikation. Der "Steinbruch Deutsche Erinnerungsorte" will dabei eine "Kostprobe" (S. 9) für ein in Kürze zu erwartendes dreibändiges Werk bieten. In dem im letzten Jahr erschienen Sammelband wurden in Form eines Werkstattberichts studentische Arbeiten zusammengestellt, die im Rahmen der Seminare zum Thema "Deutsche Erinnerungsorte" entstanden sind. Zusammen mit der Wissenschaftlichen Mitarbeiterin Constanze Carcenac-Lecomte hat eine Gruppe von vier Studierenden eine Auswahl aus den Seminararbeiten getroffen und diese gemeinsam mit den jeweiligen AutorInnen zur Publikationsreife gebracht.
Die sorgfältig redigierten und äußerst materialreichen Arbeiten zeigen in ihrer Gesamtheit die - generelle wie spezifisch deutsche - Problematik eines solchen Unterfangens, nationale Geschichte bzw. die Geschichte eines nationalen Kollektivs aus der Perspektive einer Gedächtnisgeschichte zu schreiben: Was sind denn die kollektiven - und das meint letztlich auch verbindlichen - Gedächtnisorte "der" Deutschen? Welche historischen Schritte und Schnitte müssen berücksichtigt werden, wie haben diese jeweils die Konstitution der (deutschen) Gedächtnislandschaft verändert? Gibt es eine kontinuierliche Zahl von Gedächtnisorten, die im jeweiligen historischen Kontext zwar verschieden rezipiert und perzipiert wurden, aber dennoch in ihrer Gesamtheit verbindlich blieben?
Und sie machen auf die spezifische Problematik eines deutschen Unterfangens dieser Art aufmerksam: Ist hierzulande die Zeit des Nationalsozialismus und die Vernichtung der Juden, ethnischen Minderheiten, politisch Andersdenkenden wie Anderslebenden und die Zeit der deutschen Teilung so beherrschend für das nationale Selbstverständnis, daß andere - ältere - Orte der Erinnerung davor verblassen (müssen)? Gibt es überhaupt eine Geschichte der deutschen Gedächtnisorte oder schlägt sich die deutsch-deutsche Teilung nicht auch in einer Teilung von identifikatorischen Gedächtnisgehalten nieder? Und kann angesichts der großen Zahl von Spätaussiedlern, Migranten und Asylanten einerseits, von internationalen, in Deutschland lebenden Dienstleistern und anderen Eliten andererseits überhaupt noch von so etwas wie einem "nationalen kollektiven Gedächtnis" gesprochen werden?
Die vorliegende Sammelband nähert sich diesen Problemen vorsichtig und, wie Constanze Carcenac-Lecomte in der Einführung betont, mit vielen Fragezeichen. Das Interesse der HerausgeberInnen ist es dabei nicht - wie es Pierre Nora durchaus kulturpessimistisch formulierte - das Gedächtnis gegen sein Verschwinden zu verteidigen, sondern nach "den Mustern zu forschen, welche den Konsens einer Gruppe - möglicherweise einer Nation - im Hinblick auf die an die Erinnerungsorte geknüpften Assoziationen erklären" (S. 23). Das von Hagen Schulze und Etienne François entwickelte Konzept fragt danach, wie "sich die Erinnerung an ein historisches Ereignis, eine Person, ein Denkmal oder ähnliches im Laufe der Zeit [hat] erhalten können". Die Facetten des kollektiven Gedächtnisses werden dabei aus strukturgeschichtlicher Perspektive zu bestimmen gesucht. Berücksichtigung findet auch der internationale historische Diskurs, also die Betrachtung von "außen", die die Selbst-Wahrnehmung von innen immer mit beeinflußt hat.
In der Einführung, die zugleich das erste Kapitel des Buches darstellt, erläutert Constanze Carcenac-Lecomte sowohl die Grundzüge des Noraschen Konzepts als auch die Idee, eine Geschichte der deutschen Erinnerungsorte zu schreiben. Sie gibt Einblick in den theoretischen Rahmen wie den Entstehungshintergrund des vorliegenden Sammelbandes und skizziert die Überlegungen, die das Vorgehen beim "Steinbruch Deutsche Erinnerungsorte" bestimmt haben. Nicht das "große Konzept" sollte hier verwirklicht werden, vielmehr spiegele der Band eine erste Arbeitsphase wider, die um die Frage der Identifizierung deutscher Erinnerungsorte kreiste. Beantwortet wurde diese Frage in jedem einzelnen Fall anhand der von Nora entwickelten Kriterien (S. 24).
Die Studierenden gingen bei ihren Recherchen in folgender Weise vor. Auf einer breiten empirischen Materialbasis, die jeweils eine Fülle unterschiedlicher Quellen(-gattungen) umfaßt, wird untersucht, wie der einzelne Ort rezipiert und bewertet wurde, welche Aspekte dabei herausgestrichen wurden und welche im jeweiligen historischen Kontext in Vergessenheit gerieten. Gefragt wird zugleich immer auch, wie der Ort perzipiert wurde, welche Popularität er bei unterschiedlichen sozialen Gruppen genoß (S. 24).
Herausgearbeitet werden konnte auf diese Weise das Prozessuale von Gedächtnisformationen und ihre Abhängigkeit von jeweiligen Zeitkontexten, wobei die unreflektierte Tradierung wie die gewollte und bewußte Manipulation die beiden Pole der Weitergabe von Erinnerung darstellen. Indem auch nach den "Anwälten" der Erinnerung gefragt wird, also nach den sozialen Gruppierungen, die sich für die Bewahrung eines Erinnerungsorts stark machten, kann gegen die Tradierung durch einen anonymen Diskurs argumentiert werden (S. 25). Die Auswahl der Erinnerungsorte ist letztlich beliebig, indem sie in erster Linie an den Interessen der SeminarteilnehmerInnen orientiert ist. Auf diese Weise ist - und dessen sind sich die HerausgeberInnen bewußt - ein Potpourri von Studien über Orte, Personen und Epochen entstanden, über Erinnerungsorte also von äußerst unterschiedlicher Reichweite und Bedeutung.
Die insgesamt 15 Beiträge sind in vier Kapitel gegliedert. Das zweite Kapitel mit dem Titel "Heroen, Heilige und andere" umfaßt sieben Portraits bzw. an Personen geknüpfte Erinnerungsorte: Angefangen von Maria Sybilla Merian (Diana Krause), Gottfried Wilhelm Leibniz (Peter Rumpf) und Königin Luise (Tanya Szymansky) über Wagner (Julian Führer), den 'deutschen Faust' (Charlotte von Wrede) und Karl May (Werner Doyé) bis hin zu Rosa Luxemburg (Lutz Victor Wengorz) werden Personen aus sehr unterschiedlichen zeithistorischen wie sozialen Kontexten vorgestellt. Auch die Konstruktion von Erinnerungen an diese Personen sowie ihre Stellung in einer deutschen Gedächtnislandschaft ist äußerst unterschiedlich. So mußte die Autorin des Portraits von Maria Sybilla Merian Erinnerungsspuren an die Naturwissenschaftlerin und Künstlerin eher gegen das Vergessen oder Unwissen freilegen. Sie kommt schließlich zu dem Schluß, daß diese Frau kaum als (kollektiver) Gedächtnisort zu bezeichnen ist - obwohl sie (noch) unsere Geldscheine ziert. Dagegen ist der Autor Karl May wohl unhinterfragt Teil des kollektiven Gedächtnisses. In diesem Fall stehen die Verschiebungen, die unterschiedliche Bewertung des Autors in BRD und DDR sowie die heutige Privilegierung einzelner seiner Heldenfiguren - insbesondere Old Shatterhands - im Mittelpunkt der Skizze.
Im dritten Kapitel "Alte Metropolen: Auf der Landkarte der Erinnerung" werden drei Städte zum Ausgangspunkt der Gedächtnisgeschichte(n) genommen: Aachen (Alexander Gerstner), Nürnberg (Katja Czarnowski) und Heidelberg (Torsten Lüdtke). Beim letztgenannten Beitrag bestechen die literarischen Zitate, durch die die Konstruktion der Studentenstadt "Alt-Heidelberg" nachvollzogen werden kann. Doch wundert es, daß die Heimatschutzbewegung mit keinem Wort erwähnt wird, die sich in einer ihrer ersten großangelegten Kampagnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den Erhalt der Schloß-Ruine einsetzte und so ganz wesentlich zur heutigen Wahrnehmung und Bedeutung von Heidelbergs als Gedächtnisort beitrug.
Das vierte Kapitel steht ganz im Zeichen der gegenwärtigen Verschiebungen des kollektiven Gedächtnisses, wie sie mit der Umstrukturierung Berlins zur Hauptstadt einhergehen. Die Beiträge konzentrieren sich alle auf gegenwärtige Diskussionen um Berlin: Das Stadtschloß (Andreas Ziepke), das Denkmal Friedrichs II. (Simone Neuhäuser), das Reichstagsgebäude (Stefanie Frey) sowie der Potsdamer Platz (Sybille Frank) bilden den jeweiligen Fokus der Darstellungen. Hier wird besonders deutlich, wie vorsichtig tastend die Autoren und Autorinnen bei der Bearbeitung der Gedächtnisorte vorgehen, wie sie aber zugleich von den im gegenwärtigen Diskurs im Mittelpunkt stehenden Orten deutscher Geschichte gefangengenommen sind. So kommt z.B. Andreas Ziepa in seinem Beitrag zum Berliner Schloß zu dem Schluß, daß es sich nicht um einen Gedächtnisort handelt, da es weder in der Vergangenheit genug Symbolwert besessen habe, noch heute identitätsstifende Wirkung besitze, vielmehr ein Ort Berliner und Preußischer Erinnerung sei (S. 215f.). Und Sybille Frank kann herausarbeiten, daß bei dem Wiederbebauung des Potsdamer Platzes die 1920er Jahre eine zentrale Rolle spielten, vor der andere Teile der Geschichte dieses Ortes im wahrsten Sinne des Wortes verblaßten.
Im fünften Kapitel "Glanzepochen - Blütezeiten" ist schließlich ein Beitrag zu finden, der die Bedeutung des Mittelalterbilds für die Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts reflektiert (Gerrit Leerhoff). Damit wird ein ganz zentraler Aspekt aufgegriffen, nämlich der Beitrag der Nationalgeschichtsschreibung zur Herstellung nationaler Gedächtnisgemeinschaften. Daß gerade das Mittelalter zur Ideologisierung und Instrumentalisierung einlud, lag nicht zuletzt an dem Gebrauch der großen Gewicht des Wortes "deutsch" in diesem Zeitabschnitt. Indem diese, im Mittelalter noch sprachliche Kategorie mit der politisch-nationalen Kategorie des 19. Jahrhunderts in eins gesetzt wurde, konnte die Erinnerung an das Mittelalter für die aktuelle Nationalstaatsbildung genutzt werden.
Diese kursorischen Anmerkungen müssen an dieser Stelle genügen, um einen Eindruck von den Arbeiten zu vermitteln. In ihrer Gesamtheit sind sie - und nicht nur angesichts der Tatsache, daß es sich um ein studentisches Projekt handelt - durchaus bemerkenswert. Natürlich kann auf den jeweils 10 bis 15 Druckseiten nur ein sehr grobes Bild des jeweiligen Gedächtnisortes skizziert werden. Aber alle Beiträge sind sowohl um eine möglichst dichte Beschreibung auf breiter empirischer Basis bemüht als auch darum, die zentralen Schritte und Schnitte herauszupräparieren, die für die Konturierung des jeweiligen Gedächtnisortes entscheidend waren.
An manchen Stellen wäre es allerdings wünschenswert gewesen, den "symbolischen Gehalt" eines Ortes etwas genauer erläutert zu bekommen. Etwa wenn von der "symbolischen Bedeutung" des Reichstagsgebäudes nach 1945 die Rede ist, ohne daß klar wird, was den Symbolgehalt genau ausmachte und welche Elemente seiner Vorgeschichte in der Wahrnehmung des Gebäudes in der Nachkriegszeit eine Rolle spielten (S. 243).
Und gelegentlich wird die Intention der Rekonstruktion von Gedächtnisorten zu sehr dahingehend ausgedeutet, wahre Geschichte von "verfälschender" oder falscher Erinnerung zu scheiden, ohne daß reflektiert würde, aus welchen Gründen Gedächtnisorte einer Metamorphose unterliegen und einige Bedeutungselemente besonders betont oder vernachlässigt werden. So wird leider gelegentlich vornehmlich auf die "Fehler" der Tradierung aufmerksam gemacht, wie etwa bei der Rekonstruktion der Geschichte der Maria Sybille Merian (S. 38-39), ohne daß die Bedeutung dieser "Fehler" im jeweiligen zeithistorischen Kontext reflektiert werden.
Dieser letzte Punkt führt zu einem Problem, das das gesamte Buch durchzieht. Denn sowohl im Vorwort von Etienne François und Hagen Schulze als auch in der Einführung von Constanze Carcenac-Lecomte wie letztlich auch in den einzelnen Beiträgen wird versucht, die Grenze zwischen wissenschaftlich rekonstruierter Geschichte und Geschichte als Stoff von Erinnerung mit aller Macht aufrechtzuerhalten. Sicherlich verfügt die Geschichtswissenschaft über disziplinäre Mittel, mit denen sie ihr eigenes Tun kontrollieren und reflektieren kann. Doch daß HistorikerInnen in ihrer Forschungstätigkeit immer auch in die Fragen und Bedürfnisse ihrer jeweiligen Zeit eingebunden sind und daß daher keine feste Grenze zwischen Gedächtnisarbeit und Geschichtswissenschaft gezogen werden kann, ist inzwischen wohl mehr ein Gemeinplatz. Insbesondere in den Beiträgen, die sich mit den Berliner Gedächtnisorten befassen, wird dieses Problem gravierend. Denn die AutorInnen sind Teil des gegenwärtigen Umdeutungsprozesses, haben dazu offensichtlich eine eigene - politisch oder emotional motivierte - Haltung, ohne diese jedoch zu reflektieren. So wird etwa in dem Beitrag über das Berliner Schloß von der "Qualität von Veranstaltungen" gesprochen, ohne daß darüber nachgedacht wird, daß es sich hier um bürgerliche Wertmaßstäbe handelt, die darauf zielen, populäre Kulturveranstaltungen aus Gründen der Distinktion abzuwerten (S. 214). Oder es wird die Rolle Deutschlands bei der Konstitution der EU betont, was auch auf dem Schloßplatz als "Staatsmitte" zum Ausdruck gebracht werden müßte, ohne daß die in dieser Forderung enthaltene Wertung bzw. Definition von Stadtraum reflektiert wird (S. 215). Diese Beispiele zeigen, daß die Grenzen zwischen Geschichtsschreibung, identitätsstiftender Erinnerung und der Ideologisierung oder Politisierung von Erinnerungsbeständen zumindest fließend sind.
Insgesamt bietet der Band jedoch tatsächlich einen anregenden und interessanten "Steinbruch Deutscher Erinnerungsorte". Und nicht zuletzt erhöht er die Spannung, mit der auf die umfassendere Arbeit der beiden Initiatoren gewartet werden darf.
Anmerkungen:
[1] Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire. 7 Bde. Paris 1984-93; sowie auf deutsch: ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990.
[2] Hierzu: Etienne François (Hg.): Lieux de Mémoire - Erinnerungsorte. Berlin 1996.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Beate Binder <Beate.Binder@rz.hu-berlin.de>, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin
Quelle = Email <H-Soz-u-Kult>
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