Jens Siegelberg/Klaus Schlichte (Hrsg.): Strukturwandel Internationaler Beziehungen. Zum Verhältnis von Staat und internationalem System seit dem Westfälischen Frieden, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2000, ISBN: 3-531-13527-9, 437 S., 64,00 DM.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von Magnus Rüde

Selbst der Altmeister der "Realpolitik", Henry Kissinger, scheint nicht mehr umhin zu können, sich mit dem tiefgreifenden Wandel in den internationalen Beziehungen auseinander zu setzen. In seinem jüngst erschienen Buch beschreibt er das Ende eines Weltsystems, in dem Nationalstaaten die Hauptakteure, das nationale Interesse das Hauptmotiv und das Prinzip der Nichtintervention die Hauptregel in den Staatenbeziehungen war. Sein Fazit lautet: "Today, the Westphalian order is in systematic crisis" [1].

Das "Westfälische System" als Symbol für den Anbruch einer neuzeitlichen Weltordnung dient auch einem neuen Sammelband als Ausgangspunkt für die Behandlung des Wandels in den internationalen Beziehungen. Den beiden herausgebenden Hamburger Politologen Jens Siegelberg und Klaus Schlichte geht es dabei um eine umfassende Beschreibung der internationalen Beziehungen von der Frühen Neuzeit bis hinein in das als Zeitalter der Globalisierung titulierte ausgehende 20. und beginnende 21. Jahrhundert. Mit diesem - dem Hamburger Kriegsursachenforscher Jürgen Gantzel gewidmeten - Sammelband beabsichtigen sie, den Gegenstand der Schule der Internationalen Beziehungen über die bloße Beziehungslehre von Staaten hinaus um die Geschichtlichkeit des internationalen Systems zu erweitern (S. 257) und dabei das Zusammenspiel von Staatsgenese und internationalem System zu analysieren (S. 11).

Die Festschrift für Gantzel ist damit in eine Reihe jüngerer Untersuchungen einzuordnen, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts dem neuerwachten Interesse am Staatensystem Rechnung tragen, indem sie dessen Historizität zum Gegenstand ihrer Analysen machen. Dass Historizität dabei nicht nur die Geschichte des 20. Jahrhunderts bedeuten muss und auch frühere Epochen der Staatenbeziehungen eine erkenntnisfördernde Schatztruhe für Geschichts- und Sozialwissenschaften zugleich sein können, bewies schon Paul W. Schroeder mit seinem bahnbrechenden Werk "The Transformation of European Politics" [2]. Auch in der deutschen Wissenschaft steigt nach Rankes "Großen Mächten" [3] und der Hillgruber-Wehler-Kontroverse der 1970er Jahre [4] wieder das Interesse an der internationalen Geschichte. Dabei versucht das im Erscheinen befindliche "Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen" einzulösen [5], was Michael Hochedlinger einmal als den Quantensprung von der reinen Diplomatiegeschichte hin zu einer umfassenden Geschichte der internationalen Beziehungen bezeichnete [6].

Der Hamburger Sammelband leistet wertvolle strukturgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Vorarbeit für das Projekt einer umfassenden Geschichte der internationalen Beziehungen. Den Autoren der Beiträge, zwei Historiker und 16 Sozialwissenschaftler, gelingt es, das Verhältnis von Staatsgenese und Entwicklung des neuzeitlichen und modernen Mächtesystems in einer multiperspektivischen Herangehensweise überzeugend zu analysieren.

Die Beiträge gliedern sich in drei Teile. Nach einer programmatischen Einleitung und einem kurzen strukturhistorischen Abriss durch Siegelberg beschäftigen sich Heinz Duchhardt, Ekkehart Krippendorff und Peter Nitschke mit den Grundbegriffen neuzeitlicher Staatsbildung, nämlich Souveränität, Territorialität und Staatsnation, sowie mit Gleichgewicht und Krieg und Frieden als Kern des "Westfälischen Systems".

Im Anschluss an diese begriffsgeschichtliche Gesamtschau widmet sich der zweite Teil strukturgeschichtlichen Themen, in dem nach der Gleichzeitigkeit der Verstaatlichungsprozesse diverser gesellschaftlicher Bereiche innerhalb und außerhalb Europas gesucht wird (S. 102). In einem weiten Themenspektrum, angefangen vom Zusammenhang zwischen Staatsbildung und internationalem System in der Frühen Neuzeit (Holger Th. Gräf), über die Behandlung des staatlichen Gewaltmonopols als eindeutigste Antwort auf die Frage nach der Einhegung innerer und äußerer Gewalt (Dietrich Jung/Hans-Hermann Hartwich) bis hin zu Nationalismusdiskurs (Bruno Schoch) und Imperialismus (Gustav Schmidt) werden Entwicklungen und Differenzierungen des europäischen Staatsmodells nachgezeichnet. In dieser vielschichtigen Analyse entsteht die Skizze eines Staatsmodells, das als ehemals gefeierter Akteur in den Mächtebeziehungen nun durch den Nachweis seiner zeitlichen und kulturellen Gebundenheit relativiert wird.

Diese Analyse des Staates als europäisches Erfolgsmodell mit all seinen Vorzügen und Nachteilen dient den Herausgebern des Bandes als eine Art Folie, um im dritten Teil der Sammlung für eine neue Herangehensweise an die internationalen Beziehungen zu werben. Dabei skizzieren Siegelberg und Schlichte das programmatische Ziel, mit einer neuen Schule der Internationalen Beziehungen, die besonders die Geschichtlichkeit der Mächtebeziehungen berücksichtigt, Globalität und Staatlichkeit in ihrer Entwicklung zu rekonstruieren und damit die wesentlichen Etappen und Formen des Wandels politischer Organisation begrifflich differenziert zu fassen (S. 258). Die nachfolgenden Beiträge, wie beispielsweise zu den Staatsbildungsprozessen in der "Dritten Welt" (Klaus Schlichte), zur politischen Soziologie der Weltgesellschaft (Lothar Brock), sowie zu zeitgenössischen Deutungsmustern zukünftiger internationaler Entwicklung (Lars Brozus) dienen als Beispiele für konkrete Analysen der Genese und der konstituierenden Zusammenhänge des internationalen Systems (S. 258).

Die Leistungen dieses Bandes treten bei der Zusammenschau der 18 Beiträge für den Leser schnell hervor. Hier handelt es sich tatsächlich einmal um einen umfassenden, da interdisziplinären Zugriff auf das Feld der internationalen Beziehungen. Über eine rein historische und historiographiegeschichtliche Behandlung mit methodischen Überlegungen wie jüngst im Sammelband von Wilfried Loth und Jürgen Osterhammel [7] hinaus werden durch die Vielfältigkeit der Perspektiven auch für Historiker neue Horizonte eröffnet. Gewinnbringend für die Geschichtswissenschaft sind beispielsweise die Beiträge von Klaus Schlichte und Lars Brozus, die die Gegenwart von Historizität und die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" in den internationalen Beziehungen aufzeigen. Wer sich als Historiker mit dem Phänomen der Staatsbildungsprozesse innerhalb des europäischen Mächtesystems beschäftigt, der wird - ohne gleich in die Falle anachronistischer Gleichsetzung zu treten - in den nur partiell vorangeschrittenen Staatswerdungen heutiger Entwicklungsländer erkenntnisfördernde Parallelen zu den neuzeitlichen Territorien finden, gerade was die Bereitschaft zu innerer und äußerer Gewaltanwendung betrifft.

Eine weitere Leistung des Bandes ist in ihrem Mut zur Normativität zu sehen, ohne gleich in ideologisierte Auseinandersetzungen wie die der Primatsdebatten der 1970er abzugleiten. Dass es sich bei einer neuen Schule der Internationalen Beziehungen nicht um ein wertfreies ‚l'art pour l'art' handeln soll, wird mit dem Beitrag des Bremer Friedensforschers Dietrich Senghaas klar, der in seinem abschließenden Betrachtungen nach den Voraussetzungen für den Aufbau friedensfördernder Strukturen und Mentalitäten auf der Grundlage des Konzepts eines konstruktiven Pazifismus sucht (417). Trotz des eigentlich wertfreien Anspruchs, den Zusammenhang von Staatsgenese und Werden des neuzeitlichen internationalen Systems zu analysieren, bleibt der Frieden das normative Ziel der Beschäftigung mit den internationalen Beziehungen.

Für den Historiker ergeben sich aber auch Fragen und teilweise massive Zweifel an den einzelnen Ausführungen. So wird die Genese des internationalen Systems im vorliegenden Sammelband zu sehr als ein Prozess der Säkularisation im Sinne Ernst-Wolfgang Böckenfördes verstanden. Die teilweise retardierende, teilweise modernisierende Rolle von alteuropäischen Größen wie der Dynastie [8] oder der Konfession [9] für die internationalen Beziehungen der Neuzeit bleiben leider völlig ausgeklammert. Dabei könnte die Beschäftigung mit der Relevanz religiöser Faktoren in den Mächtebeziehungen nicht nur für das neuzeitliche Europa, sondern auch für das internationale System des 21. Jahrhunderts angesichts des anachronistisch wirkenden Fundamentalismus im Iran oder in Afghanistan unter dem Taliban-Regime erkenntnisförderlich sein.

Zudem ist die geradezu mystische Fixierung auf den Westfälischen Frieden von 1648 als Geburtsstunde des europäischen Mächtesystems zu bedauern. Der Anspruch von Geschichtlichkeit sollte auch die Epochen vor 1648 betreffen, schließlich lassen sich hier für die Gegenwart interessante Modelle von internationalen Beziehungen finden, die mit prä-nationalstaatlichen Strukturen neue Einsichten für post-nationalstaatliche Einigungsprozesse wie der der Europäischen Union liefern können.

Leider wurden einzelne Autoren auch dem analytischen Anspruch des Bandes, den Strukturwandel internationaler Beziehungen seit 1648 aufzuzeigen, nicht immer gerecht. Wenn beispielsweise Hermann Weber die Nato-Militärintervention im Kosovo alleine aus dem Blickwinkel des modernen Völkerrechts beleuchtet und in extenso den Bruch internationalen Rechts aufarbeitet, mag das juristisch interessant, strukturgeschichtlich aber ohne Gewinn sein. Dabei wäre gerade der Kosovo-Krieg von 1999 ein vorzügliches Beispiel für den rechtlichen Wandel der internationalen Beziehungen gewesen, denn mit dem Anspruch, in Namen der Menschenrechte auf dem Balkan einzugreifen, durchbrach die NATO letztendlich auch das 1648 implizit festgelegte Prinzip der Nichtintervention. Nicht die bloße Feststellung eines möglichen Völkerrechtsbruchs, sondern dessen historische Einordnung in die Geschichte der internationalen Beziehungen wäre hier erkenntnisfördernd gewesen.

Ein letzter Kritikpunkt betrifft die Tatsache, dass weder die Geschichtswissenschaften, noch die Sozialwissenschaften es bisher verstanden haben, kulturwissenschaftliche Fragen in die Analyse der internationalen Beziehungen zu integrieren [10]. Außenpolitik und internationale Politik werden auch im vorliegenden Sammelband noch zu sehr von der Akteursseite her betrachtet. Es wäre einer Pionierleistung gleichgekommen, das internationale System auch aus der Rezeptionsperspektive aus zu betrachten und nach der öffentlichen und kulturellen Verarbeitung von Außenpolitik und internationalen Beziehungen sowie nach möglichen Wechselbeziehungen zu suchen.

Anmerkungen:

[1] Kissinger, Henry: Does America Need a Foreign Policy? Towards a Diplomacy for the 21st Century, New York 2001.

[2] Schroeder, Paul W.: The Transformation of European Politics 1763-1848, Oxford 1994.

[3] Ranke, Leopold v.: Die großen Mächte. Politisches Gespräch. Mit einem Nachwort von Theodor Schieder, Göttingen 1963.

[4] Hillgruber, Andreas: Politische Geschichte in moderner Sicht, in: Historische Zeitschrift 216 (1973), 529-552; Wehler, Hans-Ulrich: Moderne Politikgeschichte oder "Große Politik der Kabinette"?, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), 344-369.

[5] Handbuch der Internationalen Beziehungen in 9 Bänden, hrsg. v. Heinz Duchhardt, Paderborn u.a.; bisher erschienen: Bd. 4: Duchhardt, Heinz: Balance of Power und Pentarchie: internationale Beziehungen 1700-1785, Paderborn u.a. 1997; Baumgart, Winfried: Europäisches Konzert und nationale Bewegung: internationale Beziehungen 1830-1878, Paderborn u.a. 1999.

[6] Hochedlinger, Michael: Die Frühneuzeitforschung und die "Geschichte der internationalen Beziehungen". Oder: Was ist aus dem "Primat der Außenpolitik" geworden?, in: MIÖG, 106 (1998), 167-179.

[7] Loth, Wilfried / Osterhammel, Jürgen (Hrsg.): Internationale Geschichte. Themen - Ergebnisse - Aussichten, München 2000.

[8] Kohler, Alfred: "Tu felix Austria nube ...". Vom Klischee zur Neubewertung dynastischer Politik in der Neueren Geschichte Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 21 (1994), 461-482.

[9] Schilling, Heinz: Formung und Gestalt des internationalen Systems in der werdenden Neuzeit. Phasen und bewegende Kräfte, in: Kontinuität und Wandel in der Staatenordnung der Neuzeit. Beiträge zur Geschichte des internationalen Systems, hrsg. v. P. Krüger und Klaus Malettke, Marburg 1991, 19-46.

[10] Lehmkuhl, Ursula: Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte. Theoretische Ansätze und empirische Forschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Soziologischem Institutionalismus, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (2001), 394-423.

Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:

Magnus Rüde, Humboldt-Universität zu Berlin, <vademecum@t-online.de>


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Subject: Rez.: J. Siegelberg/K. Schlichte (Hrsg.): Strukturwandel Internationaler
Date: 01.10.2001


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